ePA und eVO: Digi­ta­li­sie­rung mit Lücken

Die elektronische Patientenakte (ePA) gilt als zentrale Datendrehscheibe für das Gesundheitswesen – eine grundsätzlich gute Idee, deren Umsetzung bislang aber hinter den Erwartungen zurückbleibt. Ein Interview mit Prof. Dr. Frank Braatz zu diesem Thema.

Beson­ders kri­tisch sieht Prof. Dr. Frank Bra­atz, dass wich­ti­ge Akteu­re wie Ortho­pä­die-Tech­nik und Sani­täts­häu­ser bis­lang von Lese- und Schreib­rech­ten aus­ge­schlos­sen sind. Damit kön­ne die ePA ihr Poten­zi­al für eine inter­dis­zi­pli­nä­re Ver­sor­gung nicht aus­schöp­fen. Der Pro­fes­sor für Medi­zi­ni­sche Ort­ho­bio­nik und Lei­ter des Schwer­punkts Tech­ni­sche Ortho­pä­die der ­Kli­nik für Unfall­chir­ur­gie, Ortho­pä­die und Plas­ti­sche Chir­ur­gie der Uni­ver­si­täts­me­di­zin Göt­tin­gen erläu­tert im OT-Gespräch außer­dem die Schnitt­stel­len zur elek­tro­ni­schen Ver­ord­nung (eVO) und die Chan­cen, die bei­de Digi­ta­li­sie­rungs­pro­jek­te gemein­sam bie­ten. Bra­atz ist 1. Vor­sit­zen­der der Ver­ei­ni­gung Tech­ni­sche Ortho­pä­die (VTO). Die­se ist eine offi­zi­el­le Sek­ti­on der Deut­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie und zählt zu den Part­nern des Pilot­pro­jekts eVO für ortho­pä­di­sche Hilfs­mit­tel unter Feder­füh­rung des Bundes­innungsverbandes für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT).

Anzei­ge

Herr Pro­fes­sor Bra­atz, mit der ePA ver­bin­den sich gro­ße Hoff­nungen: schnel­le­re Informations­flüsse, bes­se­re Abstim­mung ­zwi­schen den Pro­fes­sio­nen, weni­ger Dop­pel­un­ter­su­chun­gen. Wird die Konzep­tion die­sen Erwar­tun­gen gerecht?

Frank Bra­atz: Die Grund­idee ist abso­lut rich­tig. Die ePA ist als struk­tu­rier­te Daten­dreh­schei­be ange­legt, die theo­re­tisch alle an der Ver­sor­gung Betei­lig­ten ein­be­zieht. Dia­gno­sen, Befun­de, Medi­ka­ti­ons­da­ten und wei­te­re Infor­ma­tio­nen sind mit Ein­wil­li­gung der Pati­en­ten berech­tig­ten Per­so­nen zugäng­lich. Aller­dings bleibt die Umset­zung bis­lang hin­ter die­sen Erwar­tun­gen zurück – vor allem, was die kon­se­quen­te Ein­bin­dung aller Gesund­heits­pro­fes­sio­nen betrifft.

Was leis­tet die ePA bis­lang in der Pra­xis – und wo lie­gen die Defizite?

Sie erleich­tert die kon­ti­nu­ier­li­che Doku­men­ta­ti­on und kann den Infor­ma­ti­ons­aus­tausch über Ein­rich­tungs­gren­zen hin­weg ver­ein­fa­chen. Die Anbin­dung der haus- und fach­ärzt­li­chen Pra­xen funk­tio­niert tech­nisch zuneh­mend bes­ser. Der Zugriff auf Medi­ka­ti­ons­plä­ne und aus­ge­wähl­te Befun­de ist bereits imple­men­tiert. Was die ePA aber nicht leis­tet: Wich­ti­ge Berufs­grup­pen sind (noch) aus­ge­spart, etwa Ortho­pä­die­tech­ni­ker und Ortho­pä­die­schuh­tech­ni­ker. Die mul­ti­pro­fes­sio­nel­le Idee einer gemein­sa­men Pati­en­ten­ver­sor­gung ist bis­her nicht ein­ge­löst, weil vie­le Berufs­grup­pen schlicht kei­nen Zugang haben. Außer­dem las­sen die Nut­zer­freund­lich­keit und Inter­ope­ra­bi­li­tät zu wün­schen übrig.

Die ePA ist bis­her also kei­ne Erfolgsgeschichte?

Die Bilanz fällt in der Tat ernüch­ternd aus. Die tat­säch­li­che Nut­zung ist noch gering – sowohl bei Pati­en­ten als auch unter den leis­tungs­er­brin­gen­den Akteuren.

Wor­an liegt das?

Tech­ni­sche Hür­den, Datenschutz­bedenken und die man­geln­de Ein­bin­dung wich­ti­ger Berufs­grup­pen hem­men die Ent­wick­lung. Für die Tech­ni­sche Ortho­pä­die bei­spiels­wei­se hat die ePA bis­lang in der täg­li­chen Arbeit kei­nen Mehr­wert. Solan­ge zen­tra­le Akteu­re nicht ein­ge­bun­den sind, bleibt sie Stückwerk.

Für Ortho­pä­die­tech­ni­ker und ­Sani­täts­häu­ser zum Bei­spiel sind nach der­zei­ti­gem Stand gar kei­ne Lese- oder Schreib­rech­te vorgesehen.

Aus Sicht einer moder­nen, pati­en­ten­zen­trier­ten Ver­sor­gung ist das ein Rück­schritt. In der Tech­ni­schen Ortho­pä­die koope­rie­ren wir beson­ders eng und gleich­be­rech­tigt mit Ortho­pä­die­tech­ni­kern und ande­ren Fach­leu­ten. Hier lau­fen vie­le Fäden zusam­men: Die Ver­sor­gung mit Pro­the­sen, Orthe­sen und Ein­la­gen sowie die lau­fen­de Opti­mie­rung und Anpas­sung gelin­gen nur durch umfas­sen­de gemein­sa­me Doku­men­ta­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Blei­ben die­se Berufs­grup­pen aus­ge­schlos­sen, bleibt die ePA ein Tor­so und schöpft ihr Poten­zi­al nicht aus. Wer die­se Akteu­re und ihre Exper­ti­se nicht berück­sich­tigt, ris­kiert Brü­che im Versorgungsprozess.

Prof. Frank Braatz und Kirsten Abel, Sprecherin des Präsidiums und Leitung Verbandskommunikation des BIV-OT, während einer ­Veranstaltung zum Thema elek­tronische Verordnung für orthopädische Hilfsmittel auf der OTWorld 2024. Foto: BIV-OT/Schlüter
Prof. Frank Bra­atz und Kirs­ten Abel, Spre­che­rin des Prä­si­di­ums und Lei­tung Ver­bands­kom­mu­ni­ka­ti­on des BIV-OT, wäh­rend einer ­Ver­an­stal­tung zum The­ma elek­tronische Ver­ord­nung für ortho­pä­di­sche Hilfs­mit­tel auf der OTWorld 2024. Foto: BIV-OT/­Schlü­ter

Unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen könn­te die ePA eine Erfolgs­ge­schich­te werden?

Da gibt es meh­re­re Stell­schrau­ben. Dazu gehö­ren offe­ne Schnitt­stel­len, stan­dar­di­sier­te Daten­for­ma­te und Inter­ope­ra­bi­li­tät. Außer­dem braucht es die Betei­li­gung aller Pro­fes­sio­nen – ein­schließ­lich Gesund­heits­hand­werk – mit abge­stuf­ten Rech­ten. Die Anwen­dun­gen dür­fen kei­nen zusätz­lichen Auf­wand erzeu­gen, son­dern soll­ten Pro­zes­se spür­bar ver­ein­fa­chen. Wenn digi­ta­le Doku­men­ta­ti­on zusätz­lich zu bestehen­den For­mu­la­ren kommt, statt sie zu erset­zen, führt das zu Frus­tra­ti­on. Schnel­le­re Geneh­mi­gun­gen durch struk­tu­riert abruf­ba­re Daten wären eben­falls ein ech­ter Mehr­wert. Daten­schutz und ‑sicher­heit auf hohem Niveau sind eben­so nötig wie flan­kie­ren­de Maß­nah­men: Fort­bil­dun­gen, Kom­mu­ni­ka­ti­on und fai­re Ver­gü­tungs­mo­del­le, die den Mehr­auf­wand abbil­den. Das ist der­zeit nicht aus­rei­chend geregelt.

Die Ein­bin­dung der Hilfsmittel­leistungserbringer in die ePA ist Ihrer Mei­nung nach essenziell?

Ja, die Hilfs­mit­tel­leis­tungs­er­brin­ger müs­sen gleich­be­rech­tig­te Nut­zer der ePA wer­den – mit Lese- und bedarfs­ge­rech­ten Schreib­rech­ten. Damit könn­te die ePA zu dem wer­den, was sie eigent­lich sein soll­te: Rück­grat einer mul­ti­pro­fes­sio­nel­len, digi­tal unter­stütz­ten Patientenversorgung.

Wel­che Vor­tei­le hät­te eine Ver­zahnung von eVO und ePA?

Eine Inte­gra­ti­on der eVO in die ePA wäre abso­lut sinn­voll. Ver­ord­nun­gen wären struk­tu­riert hin­ter­legt, alle Betei­lig­ten könn­ten dar­auf zugrei­fen. Das beschleu­nigt Abläu­fe und ver­bes­sert die Doku­men­ta­ti­ons­qua­li­tät. Bei kom­ple­xen Ver­sor­gun­gen wäre das ein ent­schei­den­der Vor­teil. Ein voll­stän­di­ger Über­blick der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen bie­tet zudem die Chan­ce, Fehl- und Über­ver­sor­gun­gen zu vermeiden.

Wel­che Rol­le kön­nen ePA und eVO lang­fris­tig für die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung spielen?

Rich­tig umge­setzt, schaf­fen bei­de Instru­men­te eine lücken­lo­se Doku­men­ta­ti­on von Ver­sor­gungs­pfa­den – von der Indi­ka­ti­on über die Umset­zung bis zur Erfolgs­kon­trol­le. Das stei­gert Qua­li­tät, Trans­pa­renz und Ver­sor­gungs­si­cher­heit. Lang­fris­tig kön­nen eVO und ePA ein­an­der ide­al ergänzen.

Die eVO soll ab 1. Juli 2027 ver­pflichtend ein­ge­führt wer­den. Wie schät­zen Sie den Stand ein?

Die tech­ni­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Vor­aus­set­zun­gen hin­ken dem Zeit­plan hin­ter­her. Ohne elek­tro­ni­schen Berufs­aus­weis – kurz eBA – und die Insti­tu­ti­ons­kar­te SMC‑B (Secu­ri­ty Modu­le Card Typ‑B. Anm. d. Red), bei denen es star­ke Ver­zö­ge­run­gen gibt, kön­nen Betrie­be gar nicht am digi­ta­len Gesund­heits­netz teil­neh­men. Der Start­ter­min erscheint unter die­sen Umstän­den ambitioniert.

Was ist bis zur Ein­füh­rung der eVO beson­ders wichtig?

Die früh­zei­ti­ge, pra­xis­taug­li­che Ein­bin­dung aller betrof­fe­nen Akteu­re. Tech­ni­sche Lösun­gen müs­sen sta­bil und anwen­der­ori­en­tiert sein. Es muss uns gelin­gen, Pro­zes­se zu ver­schlan­ken. Die Digi­ta­li­sie­rung darf nicht in end­lo­sen Begrün­dungs­pflich­ten und zusätz­li­cher Büro­kra­tie mün­den. Das wün­sche ich mir als Verordner.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

Infor­mie­ren und mitmachen
Updates zum Pilot­pro­jekt eVO für BIV-OT-Mit­glieds­be­trie­be lie­fert der News­let­ter „eVO-Aktu­ell“. Inter­es­sier­te kön­nen sich im Mit­glie­derbereich unter dem Menü­punkt News­letter anmel­den. Wer sich aktiv be­teiligen will (zum Bei­spiel Mit­glieds­be­trie­be, Kos­ten­trä­ger oder PVS-­An­bie­ter), mel­det sich unter: telematik@biv-ot.org

Die Pro­jekt­lei­tung infor­miert ­anschlie­ßend über Details. 

 

Die vor­he­ri­gen Arti­kel der Rei­he zur eVer­ord­nung lesen Sie hier:

Teil 1: Rei­bungs­los von Papier zu digital
Teil 2: Pilot­pro­jekt eVer­ord­nung nimmt wei­ter Fahrt auf
Teil 3: eVer­ord­nung: HMV bedarf Überarbeitung
Teil 4: eVer­ord­nung: Son­der­pro­zes­se mitdenken
Teil 5: Pilot­pro­jekt eVO setzt auf offe­ne Schnittstellen
Teil 6: Qua­li­ta­ti­ve Test­pha­se treibt Pilot­pro­jekt voran 
Teil 7: eVO-Pilot­pro­jekt: Sta­tus quo, Fort­schrit­te und offe­ne Baustellen
Teil 8: eVer­ord­nung im Pra­xi­scheck des Pilotprojekts

 

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