Einleitung
Wenn, wie im hier erörterten Fallbeispiel, ein Patient bei einem Unfall einen Arm oberhalb des Ellbogens verliert, stellt eine stabile Anbindung der Prothese oftmals eine große Herausforderung bei der Versorgung dar 1. Im Allgemeinen verzeichnen Studien bei Menschen mit Amputationen der oberen Extremität trotz neuester technischer Entwicklungen im Bereich der myoelektrischen Prothesen immer noch eine hohe Abbruchrate 2. Als Gründe werden oftmals die problematische Stumpfsituation, das hohe Gewicht der Prothese und „Bequemlichkeit“ genannt 3. Deshalb ist zu vermuten, dass es im Falle der Versorgung eines Stumpfes oberhalb des Ellbogens noch herausfordernder sein könnte, eine für den Patienten zufriedenstellende Lösung zu finden. Nachteilig könnte sich insbesondere die Schaftsituation darstellen, die die Beweglichkeit des Schultergelenks einschränkt, oder die Versorgung mit einem Gurt über der gesunden Schulter zur Stabilisierung der Prothese, die weitere Einschränkungen der Mobilität zur Folge hat.
Eine endo-exo-prothetische Versorgung in Kombination mit TMR bei transhumeralen Versorgungen ist anders als bei transfemoralen Endo-Exo-Versorgungen in Deutschland noch relativ neu 4, wird aber in einigen Kliniken bereits erfolgreich umgesetzt 5. Unbedingt notwendig für den Erfolg einer solchen Versorgung ist nach Auffassung des Autors eine besonders enge Abstimmung aller am Prozess Beteiligten unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche des Patienten. Gemeinsam müssen der potenzielle Nutzen und die mit der Versorgung einhergehenden Risiken gegeneinander abgewogen werden. Wie eine solche interdisziplinäre Abstimmung und die Umsetzung einer so anspruchsvollen Versorgung in drei Schritten 6 erfolgreich umgesetzt werden kann, zeigt das folgende Fallbeispiel.
Fallbeispiel
Anamnese/Diagnose
Der Patient war bei seinem Unfall 47 Jahre alt. Er war zu dieser Zeit ein aktiver Triathlet und wurde beim Schwimmtraining im Juli 2020 von einem Motorboot erfasst und überfahren. Die Bootsmotorschraube verursachte eine traumatische Abtrennung des linken Oberarms.
Operationen
Notversorgung und anschließende erste Operationen (Abb. 1) wurden in der Universitätsmedizin Greifswald vorgenommen. Zwei Wochen nach dem Trauma wurde in der Universitätsmedizin Greifswald durch das Team von Univ.-Prof. Dr. med. h. c. Axel Ekkernkamp nach Absprache im Team eine Lappenplastik (Abb. 2) am Patienten vorgenommen. Ziel war es hierbei, das distale Stumpfende für den späteren Nerventransfer (Targeted Muscle Reinnervation – TMR) vorzubereiten, um weitere Myosignale zur Ansteuerung der myoelektrischen Prothese zu erhalten. Notwendig war diese OP auch, um das distale Stumpfende mit einem Muskellappen zu decken, damit der spätere Implantatdurchtritt durch die Weichteile und die Haut gut vorbereitet werden konnte. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde bei der Operation die Möglichkeit eines späteren Hautdurchtritts des Implantates für die Endo-Exo-Versorgung berücksichtigt.
Versorgungsberatung des Patienten
Schon in der Erstberatung des Patienten bezüglich seiner Versorgung, die vom Autor durchgeführt wurde, stand fest, dass der verunfallte Patient einen hohen Anspruch an seine Lebensqualität nach der Amputation und damit an die Prothesenversorgung stellen würde. Denn neben der Rückkehr in sein Familien- und Berufsleben wollte er auch seinen Sport wieder aktiv betreiben können. Aufgrund der Amputationshöhe mit kurzem Oberarmstumpf (Amputation im Bereich des proximalen Drittels des Oberarms) 7 (Abb. 3) und seines klar definierten hohen Anspruchs an eine spätere Versorgung wurde für den 24.08.2020 eine Beratung bezüglich einer TMR-OP inklusive einer Osseointegration an der Universitätsmedizin Göttingen terminiert.
Darin wurde nach Absprache zwischen dem Patienten und dem Operationsteam sowie nach Begutachtung u. a. der Stumpflänge und der Beurteilung der Compliance des Patienten im Kompetenzteam gemeinsam eine positive Entscheidung bezüglich einer solchen Versorgungsmöglichkeit getroffen. Das Ärzteteam beriet den Patienten bezüglich einer Versorgung mit dem „OPRA™ Implant System“ (Integrum AB, Mölndal, Schweden) und definierte dieses mit ihm zusammen als die am besten geeignete Versorgung.
Für diese Variante muss unter anderem das Skelett des Patienten ausgewachsen sein; zudem ist eine Humerus-Mindestlänge von 8 cm notwendig. Beim hier vorgestellten Patienten war diese Vorgabe gegeben; seine Humeruslänge entspricht genau dieser vorgegebenen Mindestlänge. Ziel war es, eine hochfunktionale Prothese und eine entsprechende Prothesenansteuerung zu erreichen, gepaart mit einer einfachen Handhabung für den Anwender in seinem Alltag.
Kostenkalkulation
Bereits im Vorfeld der Operation (Step 1) war eine Kostenkalkulation zu erstellen, die die Zeit bis zur Versorgung umfasste, und eine weitere für den Zeitraum danach, um das Ziel einer möglichst guten Versorgung nicht durch bürokratische Zwänge zu gefährden.
Diese Kostenkalkulation wurde rechtzeitig vor der TMR-OP und der Osseointegration mit dem Kostenträger besprochen. Zudem wurden im Vorfeld mit dem Industriepartner Ottobock die Details der späteren Versorgung abgeklärt, weil die Prothese mit einem elektronischen Bauteil ausgestattet werden sollte, für welches aktuell noch keine Freigabe für den Einsatz nach einer Osseointegration vorliegt: Der „DynamicArm Plus“, ein myoelektrisch gesteuertes und elektromotorisch angetriebenes Ellbogengelenk, ist für die vorgesehene Verwendung bislang nicht freigegeben, weil Angaben des Implantat-Herstellers zur Prüfung in der vorgenommenen Kombination noch fehlen. Aktuell kann man hier nur eine Sonderfreigabe nach Absprache zwischen dem Hersteller und dem versorgenden Orthopädietechniker erhalten. Diese ist erfolgt und wurde mit dem Kostenträger abgestimmt. Auch wurde das komplette Abheilen des durch das Trauma entstandenen Oberarmstumpfes abgewartet. Ohnehin musste die Step-1-Operation auf Ende Januar 2021 verlegt werden, weil Professor Rickard Brånemark im November bzw. Dezember 2020 wegen der Coronapandemie nicht nach Deutschland einreisen konnte.
TMR und Osseointegration
TMR-OP und Step 1 (Abb. 4) der Osseointegration erfolgten am 27.01.2021 in der Universitätsmedizin Göttingen 8. Nach einer Einwachsphase der Fixierung im Humerus und einer Abheilung nach der TMR-OP erfolgte am 23.06.2021 Step 2 der Osseointegration mit der Einbringung des Implantates (Abb. 5) zur späteren Aufnahme für die Prothese, ebenfalls in Göttingen durch das Team aus der Universitätsmedizin Göttingen von der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, bestehend aus Prof. Dr. med. Frank Braatz, Prof. Dr. med. Gunther Felmerer und Dr. med. Jennifer Ernst sowie mit Unterstützung durch Prof. Rickard Brånemark von der Universität Göteborg in Schweden. Für die Versorgung wurde wie oben erläutert das „OPRA™ Implant System“ von Integrum verwendet.
Physiotherapie und Belastungstraining
Nach einer Ruhezeit von vier Wochen wurde sodann physiotherapeutisch mit der Bewegung der Schulter begonnen. Die Abduktion der Schulter wurde aktiv bis 60 Grad ab Woche 7, bis 90 Grad weitere 6 Wochen und über 90 Grad ab Woche 14 nach der OP beübt. Parallel wurde mittels Physiotherapie der Rumpf mobilisiert, und nach Freigabe durch den Facharzt konnte der ganze Stumpf in all seinen möglichen Bewegungsausmaßen uneingeschränkt therapiert werden, um einen maximalen Bewegungsumfang zu erhalten.
Nach einer Einheilzeit (mit Röntgenkontrolle nach 4, 8 und 12 Wochen) des Implantates wurde mit dessen Druck- und Zugbelastung mittels eines „Humerus Training Kit“ (Abb. 6) begonnen. Das „Humerus Training Kit“ ist ein speziell für die OPRA-Implantatsysteme entwickeltes Tool, das zum Belastungstraining des Implantates genutzt wird. Der Patient kann hieran Gewichte anbringen, um langsam das spätere Gewicht einer Prothese zu simulieren. Dazu kann er die Druckbelastung auf das Implantat trainieren. In diesem Fall wurde über einen Zeitraum von 10 Wochen das Tragegewicht um 50 g pro Woche erhöht und täglich eine Verlagerung des Gewichtes nach distal auf dem Trainings-Kit vorgenommen, bis das Zielgewicht der späteren Prothesenpassteile erreicht war. Die Druckbelastung wurde parallel trainiert. Dazu wurde der Belastungsstab über die kontrollierte Gewichtsbelastung auf einer Waage einem wöchentlich ansteigenden Druck ausgesetzt, beginnend mit 6 kg in der ersten Woche bis 12 kg in der zehnten Woche. Täglich wurde hierbei zehnmal für jeweils 20 Sekunden belastet.
Schon 4 Wochen nach Step 1 konnte mit dem Signaltraining begonnen werden. In regelmäßigen Abständen (1 × pro Woche) wurde in herkömmlicher Weise mit zwei Elektroden die Muskulatur am Bizeps und Trizeps genutzt, um zwei Signale zur Ansteuerung des Prothesensystems zu erhalten. Dies diente auch dazu, den Patienten zu motivieren und die Zeit bis zur Versorgung mit der Prothese für das Training der Muskeln zu nutzen.
Dabei wurde das Prothesensystem neben dem Patienten so aufgebaut, dass der „DynamicArm plus“ auf gleicher Höhe angebracht war wie sein erhaltener Arm. Schritt für Schritt wurde die Ansteuerung so trainiert und angepasst, bis 4 Signalpunkte angesteuert werden konnten. Wichtig war allen Beteiligten, dass der Patient seinen Phantombewegungen, die er aus dem Kopf abrufen konnte, erhält und somit intuitiv zur Ansteuerung nutzt. Phantombewegungen nennt man die vom Patienten im Gehirn noch nachvollziehbaren Bewegungen der nicht mehr vorhandenen Gliedmaße. Durch das Training verbesserte sich dieses Bewegungsmuster deutlich. Die in Tabelle 1 wiedergegebene Matrix dokumentiert das Ergebnis der TMR-Operation.
Für die Funktionen der in der Matrix hinterlegten Zielmuskelareale wurde vom Team für jede auszuführende Aktion eine Bewegungsdefinition erarbeitet, die alle im Team identisch im Wortlaut kannten. Diese Benennungen der Aktionen richten sich nach den Phantomgedanken des Patienten. Für das Beugen des Armes lautet die Definition zum Beispiel: „(Phantom-)Arm nach innen unten bewegen“. Auf diese Art und Weise ist ein schnelles Umsetzen der Bewegungen erreichbar. Natürlich können diese Bewegungsdefinitionen innerhalb des Teams neu besprochen werden.
Das Schmerzgefühl des Patienten hat sich nach der Step-1-Operation immer mehr verbessert; der Anwender beschreibt aktuell lediglich einen leichten Schmerz, den er für sich als „Muskelkater“ definiert. Der vor der TMR bestehende Phantomschmerz reduziert sich dem Anwender zufolge beim Tragen der Prothese. Dies kann auf die Humerusbelastung und auf die muskuläre Bewegung, die zur Ansteuerung notwendig ist, zurückzuführen sein.
Prothesenversorgung
Zum Einsatz kamen das Ellbogengelenk „DynamicArm plus“ inklusive Rotation, die Elektrohand „MyoHand VariPlus Speed“ und alternativ der Systemelektrogreifer „DMC VariPlus“ (alles Ottobock, Duderstadt). Die Ansteuerung erfolgt über herkömmliche „MyoBock“-Elektroden. Diese wurden dazu in speziell angefertigte Silikonfassungen zum Aufkleben (Abb. 7) auf den Oberarm eingebettet. Die Prothese wird seit dem 12.11.2021 getragen und verfügt über eine TMR-Ansteuerung und aktuell vier Klebe-Elektroden.
Der Patient hat vom ersten Tag an seine Prothese komplett selbst angelegt und auch die Elektroden selbstständig aufgeklebt, nachdem dies im Team mit Ergotherapie und Orthopädietechnik geübt worden war. Dank des Nerventransfers kann der Anwender intuitiv den Ellenbogen ansteuern und die Greiffunktion der Hand bzw. des Greifers nach seinem Phantomgefühl nutzen.
Aktuell (Stand: Juni 2022) trägt der Anwender die Prothese ganztags; er ist an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, und seine Familie stärkt ihm den Rücken. Der Patient ist in regelmäßiger therapeutischer Behandlung, um die Prothese in seinen Alltag möglichst stark einzubinden; aktuell ist eine Reha-Maßnahme beantragt, diese soll im Sommer 2022 in einer Facheinrichtung erfolgen. Auch sein Ziel, wieder als Triathlet an den Start zu gehen, hat er nicht aus den Augen verloren; im Team wird an einer speziellen Prothese dafür gearbeitet.
Fazit
Ist eine Versorgung wie die beschriebene (Abb. 8) als Standard zu betrachten? Kann sie zum Regelfall werden? Ist der Patient in der Lage, im Nachgang die Elektroden auf den Signalspots selbstständig und dauerhaft zu positionieren?
Eine solche Versorgung kann nur in enger Abstimmung der Fachdisziplinen und nur nach umfangreicher Aufklärung und Abklärung der Kostenübernahme erfolgen. Als Standardversorgung kann eine solche Versorgung schon deshalb nicht definiert werden, da es unabhängig von den Wünschen der Patienten auch eine Reihe von Kontraindikationen gibt, z. B. maligne Erkrankungen, Diabetes mellitus, wachsendes Skelett, Immunsuppression, Chemotherapie oder schlechte Compliance 9.
Die Entscheidung über eine Endo-Exo-Versorgung muss deshalb in den Händen eines erfahrenen Kompetenzteams verbleiben. Auch muss von diesem Team abgeschätzt werden, ob ein solcher – auch zeitlich langer – Weg mit dem Patienten gegangen werden kann. Die langen Zeiträume für das Einheilen des Implantates und das Einwachsen des Nerventransfers müssen zuvor gegenüber dem Patienten klar artikuliert werden. Auch die notwendigen Operationen und die hohen Kosten müssen in die Betrachtung mit einbezogen werden.
Was die hier vorgestellte Versorgung betrifft, so hat sie sich in allen Punkten als Erfolg für den Anwender und damit auch des gesamten Teams erwiesen. Aktuell wird an einer neuen Methode der Elektrodenbefestigung gearbeitet, um das Aufbringen der Elektroden für den Anwender zu erleichtern. Dafür wird Pionierarbeit geleistet: Der Patient, der Industriepartner Ottobock und das Gesundheitszentrum Greifswald experimentieren gemeinsam an einer Lösung, die evtl. später auch anderen Patienten zur Verfügung gestellt werden kann.
Insgesamt haben die Teams in Greifswald und Göttingen sowie der Industriepartner in Duderstadt gezeigt, wie man interdisziplinär und über die Fachgruppen hinweg einen Patienten auch nach einem so schweren Schicksalsschlag mit fortschrittlicher Technologie, modernsten Operationsmethoden und nicht zuletzt durch ein hohes Einfühlungsvermögen in seine konkrete Situation zurück ins Leben begleiten kann.
Danksagung
Der Autor bedankt sich bei Yvonne Begau und Erik Andres, Otto Bock HealthCare GmbH, Duderstadt, sowie bei Dr. Jennifer Ernst, Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Unfallchirurgie. Ein besonderer Dank gilt zudem den Universitätsmedizinern und ‑medizinerinnen in Greifswald und Göttingen.
Der Autor:
Hans-Magnus Holzfuß‚ OTM
Geschäftsführender Gesellschafter
Gesundheitszentrum Greifswald GmbH
Karl-Liebknecht-Ring 26
17491 Greifswald
h.holzfuss@gz‑g.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Holzfuß H‑M. Einsatz von Osseointegration und TMR in der transhumeralen funktionellen Prothetik – ein Fallbeispiel. Orthopädie Technik, 2022; 73 (8): 52–56
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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