Hintergrund
Pathomechanismen der Gonarthrose
Der Begriff „Gonarthrose“ bezeichnet die Reduktion des hyalinen Knorpels der artikulierenden Gelenkflächen im Kniegelenk 1. Ging man früher von einem Gelenkverschleiß aus, ist mittlerweile evident, dass es sich bei der Gonarthrose um zellspezifische Prozesse der Chondrozyten mit Signalkaskaden und konsekutivem Knorpelzelluntergang handelt 2. Neben einer genetischen Disposition spielen auch eine punktuelle mechanische Belastung des Knies sowie ein hohes Alter eine essenzielle Rolle in der Entwicklung einer Gonarthrose 3. Die Vorstellung eines reinen Verschleißes wie bei einem technischen Gegenstand als Ursache der Arthrose ist jedoch obsolet 4.
Unter den Arthrosen der menschlichen Gelenke spielt die Gonarthrose eine relevante Rolle 5. Sie ist neben der Coxarthrose (Hüftgelenksarthrose) unter den häufigsten Formen der Arthrose zu nennen 6. Eine häufige Form der Gonarthrose ist die sogenannte Varusgonarthrose. Dabei entstehen durch Fehlstellungen der Beinachsen mit vermehrter Varus-Achse Druckspitzen im medialen Kompartiment 7. Typisch für Varusgonarthrosen sind Anlaufschmerzen im medialen Kompartiment und Druckschmerz im medialen Gelenkspalt. Radiologisch zeigen sich die Verschmälerungen des Gelenkspaltes besonders im medialen Gelenkanteil 8.
Konservative Therapie der Gonarthrose
Nachweislich sind Bewegung und Aktivität sehr förderlich in der Therapie der Gonarthrose. Maßnahmen zur Kraft-Ausdauer und zur Beweglichkeitsförderung sind effiziente Therapiemaßnahmen bei Gonarthrose 9. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) nennt im Kapitel über Therapiemöglichkeiten auch die Orthopädietechnik als einen Pfeiler der konservativen Therapiemaßnahmen 10.
Orthopädietechnische Therapieansätze bei Gonarthrose
Zwar kann für Orthesen keine Minderung der Erkrankungsprogredienz nachgewiesen werden, allerdings bestehen bezüglich Schmerzreduktion und funktioneller Verbesserungen entsprechende evidenzbasierte Empfehlungen 11 12. In jedem Falle können Orthesen dazu beitragen, die Aktivität betroffener Patienten zu verbessern, was wiederum förderlich für die Schmerzreduktion ist. Auch zur Förderung der Alltagspartizipation können Orthesen beitragen und auf diese Weise sekundär auch die Lebensqualität beeinflussen 13.
Eine Unterart der Knieorthesen sind sogenannte Entlastungsorthesen („unloader braces“). Diese werden besonders bei achsdeviationsbedingten Gonarthrosen eingesetzt. Das Grundprinzip besteht darin, durch Veränderung der femorotibialen Artikulationswinkel Belastungsveränderungen im Kniegelenk zu erzielen. Dadurch werden andere, nicht so stark arthrotische Gelenkflächen belastet, was zur Schmerzreduktion und konsekutiv zu mehr Teilhabe am täglichen Leben führen kann 14 15 16. Eine neuere Art der Entlastungsorthesen ist die in diesem Artikel behandelte „Fuß und Sprunggelenk übergreifende Knieorthese“.
Zur Evidenz Fuß und Sprunggelenk übergreifender Knieorthesen
Es wurde bereits eine Reihe von Studien zu Fuß und Sprunggelenk übergreifenden Knieorthesen durchgeführt. Diese bestätigen die Wirksamkeit dieses Orthesentyps bezüglich der Reduktion des Knieadduktionsmoments 17 sowie der Lateralisierung der Kraftwirkungslinie 18 im Stand und im Gang. Die Veränderung durch das Tragen einer solchen Orthese auf ossärer Ebene hinsichtlich einer signifikanten Veränderung der Verhältnisse von Tibia zu Femur sowie von Tibia-Außenkante zu Mikulicz-Linie wurde auch radiologisch verifiziert 19. Hinsichtlich klinischer Parameter konnten Schmerzreduktion und vermehrte Teilhabe am täglichen Leben bestätigt werden, Letzteres bislang jedoch nur in einer Studie anhand des WOMAC (Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index) 20.
Hypothesen dieser Studie
Diese Studie untersuchte die Einflüsse einer Fuß und Sprunggelenk übergreifenden Knieorthese auf die Körperlastlinie am Kniegelenk, auf die Wohlfühlgeschwindigkeit und auf kniespezifische Beschwerden bei Patienten mit Varusgonarthrose. Es wurde angenommen, dass sich die signifikante Lateralisierung der Kraftwirkungslinie durch die Orthese, die in anderen Studien nachgewiesen wurde, durch diese Studie bestätigen lässt. Ferner wurde angenommen, dass Patienten mit Orthese schneller gehen und größere Schritte machen, was für eine indirekte Schmerzreduktion und erhöhte Aktivität sprechen würde. Schließlich wurde angenommen, dass sich signifikante Veränderungen im Knieschmerz über 4 Wochen einstellen und kniespezifische Beschwerden signifikant abnehmen würden.
Methoden
Feldzugang und Ablauf der Studie
An der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Physikalische Medizin und Rehabilitation der Universität München (LMU) wurde im Rahmen der Kniesprechstunde bei Patienten mit fortgeschrittener Varusgonarthrose eine freiwillige Teilnahme an der Studie angeboten. Die Probanden wurden ausführlich über das Vorhaben aufgeklärt, und eine Einwilligungserklärung wurde unterschrieben. Die Einschlusskriterien waren folgendermaßen definiert:
- Alter > 18 Jahre
- Knieschmerzen (im medialen Kompartiment) > 3/10 NRS (Numeric Rating Scale 0–10, wobei 0 „kein Schmerz“ bedeutet und 10 dem „schlimmsten vorstellbaren Schmerz“ entspricht)
- radiologisch gesicherte Varusgonarthrose (Kellgren & Lawrence II oder III)
- bislang keine operativen Maßnahmen am Kniegelenk durchgeführt
Die Fuß und Sprunggelenk übergreifende Knieorthese
Verwendet wurde eine Vorversion der „KNEO“-Orthese (Abb. 1; Sporlastic GmbH, Nürtingen); die nun im Handel erhältliche Orthese ist technisch unverändert. Die Orthese besteht aus einer festen Sohle, die im Schuh getragen wird. Lateral verfügt sie über einen Metallrahmen, der oben am Fibulaköpfchen ansetzt und eine Kraft nach medial verabreicht. Dies geschieht vornehmlich in der Standphase des Gehens, wenn die Sohle durch das eigene Körpergewicht fest im Schuh verankert wird. Federspannung und Sohlengröße werden individuell angepasst. Die Pelotte am Fibulaköpfchen ist begrenzt mobil und erlaubt einen geringen Hub nach oben und unten, um beim Gehen den Längenunterschied durch die Plantarflexion des Fußes auszugleichen. Im Bereich des Malleolus lateralis verfügt die Orthese über ein Gelenk, um die obere Sprunggelenkbewegung im Gang zu tolerieren.
Messung der Kraftwirkungslinie
Die vertikale Belastungslinie wurde mittels des validierten und etablierten Statik-Messgeräts „L.A.S.A.R. Posture“ (Otto Bock Healthcare Deutschland GmbH, Duderstadt) gemessen 21. Die Patienten wurden gebeten, die Orthese anzuziehen und sich auf die Plattform zu stellen. Die Belastungslinie wurde mittels Hautstift über der Patella nachgezeichnet. Anschließend wurde – ohne die Position zu verändern – der laterale Hebel der Orthese nach vorne geklappt; die Orthese wurde dadurch unwirksam. Die Belastungslinie wurde wieder an ihrem Verlauf nachgezeichnet und der Abstand der beiden Belastungslinien horizontal in Millimetern gemessen. Anschließend wurden die Markierungen entfernt und erneut gemessen. Diese Messung wurde dreimal pro Patient durchgeführt und anschließend gemittelt.
Wohlfühlgeschwindigkeit
Die Messung der Wohlfühlgeschwindigkeit geschah mittels Laufbandes („Rehawalk“, Zebris GmbH, Isny). Die Patienten wurden gebeten, auf dem Laufband zu gehen; sie hielten dabei den Geschwindigkeitsregler in der Hand. Dabei war das Display abgedeckt, sodass keine Orientierungsmöglichkeit über die aktuelle Geschwindigkeit bestand. Die Ansage an die Patienten lautete: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen an einem schönen Sommertag spazieren. Stellen Sie die Geschwindigkeit des Laufbandes so ein, dass Sie das Gefühl haben, so könnten Sie einen ausgedehnten Spaziergang machen.“ Die verblindet eingestellte Geschwindigkeit wurde notiert und die Patienten gebeten, für eine Minute in dieser Wohlfühlgeschwindigkeit weiterzugehen. In dieser Minute wurde zusätzlich mittels im Laufband befindlicher Pedobarographie die Schrittlänge gemessen und gemittelt.
Diese Messung wurde einmal mit Orthese und einmal komplett ohne Orthese durchgeführt. Dabei wurde jedoch die Reihenfolge, ob zuerst mit oder ohne Orthese gestartet wird, randomisiert und per Los entschieden. Somit konnte ausgeschlossen werden, dass potenzielle Erschöpfungszustände durch die erste Messung die nachfolgende Messung negativ beeinflussen könnten.
KOOS
Der Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score (KOOS) wurde 1998 erstmalig publiziert und stellt einen adäquaten Score für Menschen mit höherer physischer Aktivität trotz Arthrose dar 22. Es handelt sich dabei um einen rein patientenbezogenen Fragebogen mit 42 Fragen, die sich auf 5 Domänen erstrecken:
- Schmerz: 9 Fragen
- Symptome: 7 Fragen
- Tätigkeiten des Alltags: 17 Fragen
- Funktionsfähigkeit im Sport und in der Freizeit: 5 Fragen
- Lebensqualität im Zusammenhang mit dem betroffenen Knie: 4 Fragen
Jede Dimension des KOOS wird unabhängig berechnet und ausgewertet. Somit gibt es insgesamt 5 verschiedene Punktwerte, mit denen man die jeweilige Dimension beurteilen kann, wobei 0 immer das schlechteste und 100 immer das beste Ergebnis darstellt. Der KOOS wurde ins Deutsche übersetzt und validiert 23. Diese validierte Version wurde verwendet.
Schmerztagebuch
Über die Dauer von 8 Wochen (4 Wochen ohne und 4 Wochen mit Orthese) wurde ein Schmerztagebuch geführt, bei dem täglich am Abend ein subjektiver Durchschnittsschmerz von 0 bis 10 auf einer Numerischen Ratingskala (NRS) angegeben wurde.
Statistische Auswertung
Die statistische Analyse wurde mit „SPSS Statistics 24“ (SPSS, Inc., IBM Company, Chicago, IL, USA) durchgeführt. Die Daten wurden von März bis August 2018 gesammelt. Vor der Auswertung der Daten wurden alle Daten zu Kontrollzwecken nochmals eingegeben, um Eingabefehler zu vermeiden. Erste und zweite Dateneingabe wurden subtrahiert, um auf etwaige Tippfehler schließen zu können. Diese doppelte Kontrolle wurde von zwei verschiedenen Prüfern durchgeführt, um die Richtigkeit der Daten zu gewährleisten.
Die statistische Analyse der gemittelten lateralen Verschiebung der Belastungslinie mit und ohne Orthese als primäres Ergebnis wurde mit dem Wilcoxon-Rangsummentest durchgeführt. Die Differenzen der Wohlfühlgeschwindigkeit, der Schrittlänge sowie der KOOS-Werte wurden ebenso mittels Wilcoxon-Rangsummentests ermittelt. Zur Evaluation der longitudinalen Schmerzentwicklung wurde ein randomisiertes gemischtes Effektmodell berechnet, indem einzelne Trends mit Hilfe von Random-Intercept-Modellen modelliert wurden. Für jeden Patienten wurde ein individuelles Random-Intercept-Modell angepasst. Dann wurde eine autoregressive Korrelationsmatrix erster Ordnung verwendet. Diese Berechnungen wurden vom Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt.
Ergebnisse
Deskriptive Statistik
Von März bis August 2018 wurden insgesamt n = 27 Patientinnen und Patienten rekrutiert. Davon waren 7 bilateral versorgt, sodass n = 34 Knie in die Untersuchung eingeschlossen wurden. Drei Patienten brachen die Studie vorzeitig ab, sodass sie aus der Berechnung entfernt wurden. Die Gründe waren zu große Knieschmerzen und der Wunsch nach operativen Maßnahmen (n = 2) sowie fehlende Akzeptanz der Orthese aufgrund von Druckschmerz und Optik (n = 1). Einer der ausgeschlossenen Patienten war bilateral versorgt. Daher konnten letztendlich n = 24 Patienten (n = 30 Knie) untersucht werden. Die bilateral versorgten Patienten wurden sowohl bei der Messung der Lastlinie als auch bei der Messung der Wohlfühlgeschwindigkeit jeweils unilateral vermessen. Ebenso wurde pro Kniegelenk ein Schmerztagebuch geführt und ein KOOS-Fragebogen ausgewertet. Das Durchschnittsalter der Probanden (12 weiblich, 12 männlich) betrug 61,43 (± 7,85) Jahre. Der mittlere Body-Mass-Index (BMI) betrug 29,01 kg/m2 (± 4,2) (23,5 min/39,04 max). Der Median des Kellgren-und-Lawrence-Score lag bei 2. In Tabelle 1 sind alle Patientendaten aufgeführt.
Ergebnisse zur Kraftwirkungslinie
Jede Kraftwirkungslinie verschob sich durch die Nutzung der Orthese nach lateral mit insgesamt hoch signifikanten Unterschieden (p < 0,001). Im Mittel verschob sich die Linie um 16,03 mm (± 5,22) nach lateral (Abb. 2). Das Minimum waren 9,00 mm und das Maximum 31,00 mm.
Ergebnisse zur Wohlfühlgeschwindigkeit
Alle Patienten gingen mit Orthese schneller (Abb. 3). Der Median der selbst eingestellten Wohlfühlgeschwindigkeit für einen Spaziergang lag bei 2,5 ± 0,54 km/h (= 41 Meter/Minute) mit Orthese und 2,12 ± 0,53 km/h (35,33 Meter/Minute) ohne Orthese. Dieser Unterschied war statistisch signifikant (p = 0,001). Die dazu gemessene Schrittlänge war ebenso mit Orthese im Mittel länger als ohne Orthese (41,53 ± 10,19 cm ohne Orthese; 45,30 ± 8,81 cm mit Orthese; p = 0,093), jedoch ohne statistische Signifikanz.
Ergebnisse des KOOS
Der KOOS zeigte in allen Domänen eine Verbesserung durch das vierwöchige Tragen der Orthese. Allerdings zeigte nur die Domäne „Aktivität im täglichen Leben“ einen signifikanten Unterschied zwischen „mit Orthese“ und „ohne Orthese“ (Abb. 4; Tab. 2).
Ergebnisse zur Schmerzintensität im Verlauf
Der Abendschmerz war während der Phase mit Orthese durchweg geringer. Zu Beginn der 4 Wochen erreichte der Schmerz der Patienten im Mittel eine Intensität von 4,25 ± 1,33 auf der NRS. Die Schmerzen reduzierten sich durch das Tragen der Orthese nicht unmittelbar, da sich die 4 Wochen mit Orthese an den letzten Tag der Phase ohne Orthese anschlossen (Abb. 5; die rote Linie folgt zeitlich auf die blaue Linie). Dennoch zeigte sich im longitudinalen Verlauf ein hoch signifikanter Unterschied der Schmerzintensität zwischen dem Zeitraum mit und dem Zeitraum ohne Orthese, berechnet durch ein randomisiert-gemischtes Modell (p < 0,001).
Diskussion
Die vorliegende Studie belegt die Wirksamkeit dieser Fuß und Sprunggelenk übergreifenden Orthese in Bezug auf Lastlinienveränderung, Schmerzreduktion und Erhöhung der Wohlfühlgeschwindigkeit bei Patienten mit Varusgonarthrose. Über Fuß und Sprunggelenk übergreifende Orthesen bei Gonarthrose wurde bereits eine Zusammenfassung relevanter Studien auf dem Stand des Jahres 2017 publiziert 24. Die Veränderung der Kraftwirkungslinie durch diese Art von Orthese bestätigt in der wissenschaftlichen Literatur genannte Werte. Schmalz et al. konnten bei einer ähnlich aufgebauten Messung ebenso Verschiebungen der Linie nach lateral im Mittel von 11 mm bestätigen 25. Dennoch unterscheiden sich die Ergebnisse bezüglich der absoluten Zahlen. Mögliche Gründe dafür werden im Folgenden genannt:
- Messungen mittels L.A.S.A.R. Posture sind sehr empfindlich, und die Federspannung des lateralen Hebels kann individuell eingestellt werden. Diese wurde in der vorliegenden Studie bewusst stark eingestellt.
- Zudem wurden für die hier vorgestellte Studie Patienten mit deutlicher Varusgonarthrose untersucht, während Schmalz et al. keine genauen Auskünfte über die Beinachsen ihrer Probandinnen und Probanden treffen.
Diese beiden Umstände könnten zu den leicht unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die vertikale Körperlastlinie durch die hier im Zentrum stehende Art von Orthese etwa um 1 bis 2 cm nach lateral verschoben werden kann. Die Lateralisierung der Lastlinie bei einer varischen Beinachse resultiert in einer Verringerung des Knieadduktionsmomentes (KAM). Fantini Pagani et al. sowie Mauricio et al. konnten eine deutliche Reduktion des KAM von 11,9 % bis zu 21 % in biomechanischen, dynamischen Ganganalysen in der Frontalebene zeigen 26 27. Dies bestätigt indirekt die stattfindende Lateralisierung der Lastlinie. Diese konnte in einer separaten Untersuchung mittels Ganzbein-Standaufnahmen auch radiologisch bestätigt werden 28. Der Hüft-Knie-Winkel sowie die Distanz des lateralen Rands der Tibia zur Mikulicz-Linie verringerten sich durch die hier untersuchte Orthesen-Art.
Unabhängig von radiologischen oder biomechanischen Veränderungen sind es jedoch vor allem die Beschwerdesymptomatik und die Einbußen im täglichen Leben, die den Patienten mit schmerzhafter Gonarthrose einen hohen Leidensdruck bescheren. Nach Auffassung der Autoren können und sollen Orthesen bei Arthrose nur in einem Kontext mit aktivitätsfördernden Maßnahmen verwendet werden. Diese sind es letztendlich, die nachweislich zu einer Besserung der Beschwerden führen 29 30.
Orthesen sollten dazu beitragen, dass die Motivation zur Bewegung gesteigert werden kann. Das Tragen einer Orthese mit nachfolgender Immobilisation kann daher nur kontraproduktiv sein. Die Stärke einer Fuß und Sprunggelenk übergreifenden Orthese besteht darin, dass das Knie dadurch nicht in seiner Beweglichkeit eingeschränkt wird. Nach den Daten dieser Studie konnte die Spaziergeschwindigkeit durch die Orthese gesteigert werden. Das bestätigt indirekt auch eine Schmerzreduktion, denn wenn man intuitiv schneller spazieren gehen kann, hat man offensichtlich weniger Beschwerden. Die Wohlfühlgeschwindigkeit ist kein explizit wissenschaftliches Maß, aber sie liefert sehr wohl einen Hinweis auf das aktivitätsfördernde Potenzial einer bewussten Nutzung dieser Orthesen-Art. Denkbar wäre ein bewusster Einsatz der Orthese bei Wanderungen oder milder sportlicher Betätigung, um diese wieder schmerzreduziert oder sogar schmerzlos durchführen zu können. Dies könnte in den Augen der Autoren einen Teil eines multimodalen Konzeptes zur Behandlung der Gonarthrose darstellen. Allerdings ist dabei immer die Aktivitätsförderung und die hinzugewonnene Bewegung das oberste therapeutische Ziel.
Diese Zunahme an Aktivität im täglichen Leben spiegelt auch das Ergebnis im KOOS wider. Die Domäne der Aktivität im täglichen Leben verbesserte sich signifikant. Ebenso wurden in der beschriebenen Zeit die Knieschmerzen gemäß dem Schmerztagebuch signifikant reduziert. Da es typisch für Arthroseschmerz ist, dass Undulationen in der Schmerzintensität auch ohne relevante Therapie immer wieder vorkommen 31, wurde absichtlich kein Mittelwertvergleich (vorher/nachher) vorgenommen, sondern eine longitudinale Schmerzbeobachtung durchgeführt. Das hat den Vorteil, dass kurze Phasen von Schmerzexazerbation nicht so sehr ins Gewicht fallen. Dafür sind jedoch komplexe statistische Verfahren notwendig, um den Grad der Schmerzreduzierung so genau wie möglich statistisch zu erfassen. Dies konnte bei der hier vorgestellten Studie durch das Institut für medizinische Biometrie der LMU sichergestellt werden. Gleichwohl ist die Schmerzmessung eine sehr subjektive Messmethode, und die Interpretation der vorliegenden Daten muss mit Vorsicht geschehen.
Limitationen
Auffällig ist, dass die Schmerzintensität ohne Orthese innerhalb der ersten vier Wochen von selbst tendenziell abnahm. Das könnte damit zu tun haben, dass die Probandinnen und Probanden wussten, dass sie bald die Orthese bekommen, und davon ausgingen, dass die Schmerzen dann abnehmen. Allein die Erwartung einer Schmerzreduktion kann bereits eine solche bewirken. Daher besteht eine Limitation dieser Studie darin, dass die Reihenfolge in der Schmerzmessung festgelegt war. Allerdings bestand dafür organisatorisch und ethisch keine Alternative, da zu erwarten war, dass die Gruppe, die zuerst die Orthese bekommt und diese nach 4 Wochen abgeben muss, eine Schmerzzunahme erfahren könnte, was nicht mit dem ärztlich-therapeutischen Ethos vereinbar wäre.
Ein mögliches Studiendesign bezüglich einer reinen Auswirkung der Orthese auf den Knieschmerz wäre ein paralleles randomisiertes Gruppendesign, bei dem eine Gruppe eine Verum-Orthese mit effektiver Federspannung des lateralen Hebelarmes erhält, die Kontrollgruppe aber eine Orthese mit annähernd keiner Federspannung. Da die Schmerzmessung jedoch in dieser Studie nur ein sekundärer Messparameter war, wurde von einem solchen Design Abstand genommen. Weitere Studien mit diesem Design wären aber sicher sehr sinnvoll, um weitere Evidenz zu erzeugen.
Eine weitere Limitation dieser Studie besteht in der Einbeziehung von bilateral und unilateral versorgten Patienten. Dies könnte zu einem Bias führen, indem die bilateralen Patienten beim Ausfüllen des Schmerztagebuches oder des KOOS die Knie nicht trennen können. Doch auch hier wurden die primären Messparameter priorisiert. Die Veränderungen der Kraftwirkungslinie und der Wohlfühlgeschwindigkeit wurden stets nur unilateral gemessen, weshalb die Werte durch diese Herangehensweise nicht beeinflusst wurden.
Fazit
Zusammengefasst kann anhand der hier vorgestellten Studie gezeigt werden, dass Fuß und Sprunggelenk übergreifende Orthesen mit lateralem Hebelarm bei Patienten mit Varusgonarthrose sinnvoll eingesetzt werden können. Sie reduzieren den Knieschmerz und erhöhen sowohl die Wohlfühlgeschwindigkeit beim Spazierengehen als auch die Aktivität im täglichen Leben.
Interessenkonflikt
Die Firma CHW-Technik GmbH und im weiteren Verlauf die Firma Sporlastic GmbH stellten die Orthesen für diese Studie kostenlos zur Verfügung. Die Firmen hatten jedoch keinerlei Einfluss auf das Studiendesign, die Datenerhebung, die statistische Auswertung oder die Art der Publikation. Auch die Wahl des Journals zu Publikationszwecken spiegelt allein die Entscheidung der Autoren wider.
Hinweis
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind Auszüge aus der medizinischen Dissertation von Felix Tino Friedl. Seine Dissertationsstudie mit dem Titel „The influence of a novel ankle-foot orthosis on biomechanical parameters and its clinical outcome for patients with medial knee osteoarthritis“ wurde an der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Physikalische Medizin und Rehabilitation der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt. Sie ist in der dortigen Universitätsbibliothek einsehbar.
Für die Autoren:
Dr. Dr. med. Alexander Ranker
Facharzt für Physikalische und
Rehabilitative Medizin
Klinik für Rehabilitationsmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Alexander.ranker@gmail.com
Cand. med. Felix Tino Friedl
Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Physikalische Medizin und Rehabilitation
Klinikum der Universität München (LMU)
Marchioninistraße 15
81377 München
Schön Klinik München Harlaching
Harlachinger Straße 51
81547 München
felix_friedl@outlook.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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