Hintergrund des Forschungsprojekts „iFoot“
Das diabetische Fußsyndrom (DFS) als lebenslange Komplikation des Diabetes mellitus schränkt die Betroffenen durch anspruchsvolle Therapieerfordernisse und vor allem durch die teils notwendig werdenden Amputationen in ihrer Mobilität ein. Die zugrunde liegende Haupterkrankung Diabetes mellitus wird schätzungsweise in den kommenden Jahren immer mehr Menschen betreffen. So werden für das Jahr 2040 in Deutschland zwischen 10,7 und 12,3 Millionen Fälle von Diabetes mellitus Typ II in der erwachsenen Bevölkerung angenommen, was einer Steigerung von 54 bzw. 77 % gegenüber dem Jahr 2015 entspräche 1. Die Wahrscheinlichkeit für Diabetikerinnen und Diabetiker, an einem DFS zu erkranken, beträgt zwischen 19 und bis zu 34 % über die gesamte Lebensspanne 2, wodurch bei steigender Krankheitslast bezüglich des Diabetes mellitus auch mit einer Steigerung der Fallzahlen des DFS zu rechnen ist. Die Auswirkungen der Erkrankung sind meist irreversibel; so sind als häufigste Ursache für Ober- bzw. Unterschenkelamputationen jährlich ca. 50.000 Amputationen auf ein DFS zurückführen, wobei ca. 13.000 dieser Amputationen oberhalb der Knöchel eine sogenannte Majoramputation darstellen 3. Auch die ökonomische Last in Form der direkten Kosten ist mit ca. 2,5 Milliarden Euro beachtlich 4 und belastet das Gesundheitssystem.
Kennzeichnend für die Erkrankung an einem DFS ist das reduzierte Empfinden an den Füßen der Betroffenen. Die verminderte Sensibilität und das damit einhergehende geringer ausgeprägte Schmerzempfinden stellen dahingehend eine Gefahr dar, dass schützende Verhaltensanpassungen ausbleiben und ggf. professionelle Therapieangebote nicht aufgesucht werden 5. Die Belastung der eigenen Füße wird nicht wahrgenommen, und Belastungen oberhalb eines verträglichen Limits machen sich nicht mehr als Schmerz bemerkbar. Die stets wiederkehrende zu hohe Belastung der betroffenen Füße verhindert die positive Entwicklung der Wundheilung und bedingt so ein anhaltendes Vorhandensein einer Wunde.
Die Kausaltherapie des DFS besteht in der Entlastung des Ulcus, die als innere oder äußere Entlastung vorgenommen werden kann: Die innere Entlastung erfolgt unter Anwendung chirurgischer Methoden, die äußere durch Verwendung von Entlastungshilfen. Dies können Filzverbände, mit Fiberglas verstärkte Filzsohlen oder Total Contact Casts (TCC) sein. Zur Erzielung eines positiven therapeutischen Effekts sind die Entlastungshilfen über einen Zeitraum von mehreren Wochen konsequent zu tragen, was im Falle abnehmbarer Entlastunghilfen von Patienten häufig unterschätzt oder ggf. mit nicht ausreichender Konsequenz verfolgt wird, wodurch erwünschte Therapieerfolge ausbleiben.
Zielsetzung des Projekts
Ausreichende Informationen über die anliegenden Druckverhältnisse an den Füßen der Betroffenen und somit eine Einschätzung der Wirksamkeit vorgesehener Entlastungshilfen sind für Therapeutinnen und Therapeuten sowie andere an der Therapie beteiligte Personen aktuell nicht zugänglich. Ergänzend zu therapiebezogenen Angaben sollten diese Informationen sinnvollerweise verfügbar gemacht und die diesbezügliche Informationslücke zwischen zwei ambulanten Versorgungsterminen geschlossen werden.
Beim hier vorgestellten System soll durch Messung und Darstellung der Druckwerte die Drucksituation beobachtbar gemacht und ein Monitoring der Entlastungswirkung ermöglicht werden. Darüber hinaus ist eine konzeptionelle Einbindung der Patientinnen und Patienten in der Form vorgesehen, dass die erkrankungsbedingt nicht vorhandene Sensibilität durch kontinuierliche Druckmessungen und Rückgabe eines Feedbacks bei Drucküberschreitungen bestmöglich kompensiert wird. Die auf diese Weise in die Therapie eingebundenen Patientinnen und Patienten können durch Anpassungen ihres Alltagsverhaltens begünstigend auf die Wundheilung einwirken.
Die Messung der Schrittzahl bildet zudem das Mobilitätsverhalten der Patienten ab und erlaubt es Therapeuten, dieses im Kontext der zu tragenden Entlastungshilfe zu beurteilen und hierüber in den Austausch mit Patienten zu treten. Sollten an Patientinnen und Patienten gerichtete Benachrichtigungen bei Überschreitung der Belastungsgrenzen ignoriert werden, wird ein vorab festgelegter Personenkreis darüber informiert, und entsprechende Maßnahmen zur Vermeidung von Verschlechterungen der Behandlungssituation können zeitnah und somit frühzeitig genug eingeleitet werden.
Systeme mit grundsätzlich vergleichbarer Konzeption zur Druckmessung etc. sind zwar publiziert und teilweise kommerziell verfügbar 6 7 8, sie sind in der Versorgung aber nicht flächendeckend verbreitet und verfolgen meist einen prophylaktischen Ansatz. Das hier beschriebene System wurde hingegen zur Unterstützung und Steuerung der Therapie des DFS durch Entlastung konzipiert.
Bestandteile der Systemlösung
Ausgangspunkt der zu entwickelnden Systemlösung sind die Entlastungshilfen, die von Patientinnen und Patienten getragen werden und beim Tragen die physikalischen Messgrößen Druck, Temperatur und Feuchtigkeit durch eine eigens für diesen Zweck entwickelte Sensoreinheit erheben (Abb. 1). Die auf diese Weise erzeugten Datenpakete werden per Bluetooth an ein sogenanntes Wearable übertragen, das mit dem Sensor gekoppelt ist und die Sensordaten um Informationen zur Schrittzahl der Patienten anreichert. Eine im Rahmen des Projektes entwickelte Smartwatch-App steuert die in Intervallen von zehn Minuten erfolgende Weiterleitung der Daten an einen Server, zeigt den Trägern der Smartwatch die aktuellen Messdaten an und informiert über den Konnektivitätsstatus der Smartwatch zum Sensor. Insbesondere übernimmt die Smartwatch die zentrale Funktion der Ausgabe audiovisueller Mitteilungen an Patientinnen und Patienten (Abb. 2–4). Diese Warnhinweise werden im Falle von Überschreitungen eines vorab festgelegten Druckwertes ausgegeben, wobei die Sensoreinheit bei den erhobenen Druckmessungen drei Arten unterscheidet:
- Repetitiv wiederkehrende Druckmuster können entsprechend einer definierten Erfassungsweise als spezielle Druckart erkannt werden, der beim Gehen an den Füßen der Betroffenen anliegt.
- Über einen vorab bestimmten Zeitraum dauerhaft herrschende Drücke (z. B. im Stehen) werden ebenfalls als solche erkannt.
- Die vorrangige Art der Druckmessung ist mit der Erfassung des Spitzendrucks gegeben, der punktuell auftretende Drucküberschreitungen registriert und diese dem Träger der Smartwatch unmittelbar audiovisuell mitteilt.
Allen drei genannten Druckarten wird eine potenziell nachteilige Wirkung auf den Wundheilungsverlauf zugeschrieben; sie fanden dementsprechend Eingang in die Entwicklungsarbeiten in Form differenzierter Warnhinweise, die an Nutzerinnen und Nutzer ausgegeben werden können. Werden seitens der Patientinnen und Patienten Warnhinweise ignoriert bzw. die Kenntnisnahme des Alarms in der App nicht per Tastendruck bestätigt, erfolgt eine Mitteilung an die behandelnden Personen per E‑Mail. Die Messdaten der physikalischen Größen und der Schrittzahl sowie die ausgegebenen Alarme werden patientenbezogen auf einer grafischen Oberfläche der Weblösung dargestellt und sind für das interprofessionelle Behandlungsteams verfügbar. Die Weblösung umfasst neben der Darstellung von Messdaten (Abb. 5) weitere mit der Therapie zusammenhängende Informationen wie zu Visiten aufgenommene Wundbilder, Angaben zur Wundbeschaffenheit etc.
Ergebnisse der Pilotstudie
Eine Pilotstudie zur Erprobung der entwickelten Systemlösung im Alltag der Betroffenen konnte innerhalb des Projektverlaufs durchgeführt und Erfahrungen hinsichtlich der Funktionsweise gesammelt werden. Nachfolgend werden die darin gewonnenen Erfahrungen kurz vorgestellt.
Ein wesentliches Ergebnis der Pilotstudie bestand im grundsätzlichen Funktionsnachweis darüber, dass die Systemlösung im Setting der Versorgung des DFS nutzenstiftend angewendet werden kann.
Auf Seiten der Therapeutinnen und Therapeuten ermöglichte die Warnfunktion, die entlastende Wirkung der angelegten Verbände zu kontrollieren und ggf. Nachbesserungen vorzunehmen. Dies ergab sich situativ insbesondere dann, wenn Studienteilnehmerinnen und ‑teilnehmer die Behandlungsräume erst verlassen konnten, wenn durch den bei der regulären Fortbewegung entstehenden Druck keine Alarme mehr ausgelöst wurden, wenn also eine ausreichende Entlastung gegeben war. Bereits diese Erfolgskontrolle der Entlastung stellt eine Neuerung dar und bietet einen Mehrwert für Therapeutinnen und Therapeuten, der ohne die Anwendung der beschriebenen Systemlösung nicht gegeben wäre.
Studienteilnehmerinnen und ‑teilnehmer zeigten Anpassungen ihres Belastungsverhaltens, soweit dies im Rahmen der Therapie möglich war. Dies kann im Kontext der ausgegebenen Warnhinweise als Lerneffekt gewertet werden. Bei fallweiser Betrachtung der Mobilität einzelner Studienteilnehmerinnen und ‑teilnehmer entsprach diese dem üblichen Maß an Bewegung, das für diese Patientinnen und Patienten auch in Zeiten ohne Ulcus zu erwarten gewesen wäre.
Die Sensordaten zu Feuchtigkeit und Temperatur in Wundnähe ließen zum derzeitigen Stand keine Schlüsse hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wundheilung zu. Lediglich abfallende Messwerte bei Durchführung einer Wundversorgung oder eines Verbandwechsels sind aus den Daten ersichtlich.
Die Anwendung der beschriebenen Systemlösung in der Wundtherapie des DFS hat sich in der ersten Pilotstudie als grundsätzlich vorteilhaft erwiesen, insbesondere da durch diese die Umsetzung des maßgeblichen Aspekts der Entlastung unterstützt wird. Eine Übertragung des Konzepts auf andere Anwendungsfälle, in denen die Kontrolle des anliegenden Drucks relevant ist, beispielsweise bei Dekubitalulcera, ist denkbar.
Von der verbreiteten Anwendung einer sensorgestützten Entlastungstherapie beim DFS ist auch vor dem Hintergrund der beschriebenen Erfahrungen zukünftig auszugehen. Eine weitere Verbesserung des bestehenden Konzepts auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse in Ergänzung angewandter Methoden des Maschinellen Lernens, das im Weiteren den Pflegeprozess unterstützen soll, ist bereits Gegenstand eines vom BMBF geförderten Folgeprojektes.
Förderung
Das Projekt „iFoot“ (Durchführungszeitraum: 01/2019 bis 03/2022) wurde durch EFRE.NRW (Leitmarktwettbewerb Gesundheit.NRW) im Rahmen der Leitmarktagentur NRW (Förderkennzeichen: EFRE-0801380) gefördert. Das Projektkonsortium bestand aus folgenden Teilnehmern:
- dem Kölner Centrum für Integrierte Diabetesversorgung (CID GmbH),
- dem St. Vinzenz-Hospital Köln,
- der PI Probaligence GmbH, Augsburg, und
- dem Kompetenzzentrum eHealth am Fachbereich Gesundheitswesen der Hochschule Niederrhein.
Unterstützt wurde es durch die Initiative Chronische Wunden e. V. (ICW), das Netzwerk Diabetischer Fuß e. V., die sanaFactur GmbH und die Vodafone GmbH.
Als eines von fünf Projekten wurde die Systemlösung „iFoot“ im Jahr 2021 mit dem „bytes4diabetes-Award“ ausgezeichnet, der vom Zukunftsboard Digitalisierung mit Unterstützung durch die Berlin Chemie AG an digitale Innovationen in der Diabetologie vergeben wird.
Ethik
Die im Projekt „iFoot“ durchgeführte Pilotstudie erfolgte nach zustimmender Bewertung durch die zuständige Ethik-Kommission der Ärztekammer Nordrhein.
Für die Autoren:
Prof. Dr.-Ing. Hubert Otten
Professur für Technische Systeme,
Betriebsorganisation und Logistik in
Einrichtungen des Gesundheitswesens
Leiter des Competence Center eHealth
Fachbereich Gesundheitswesen
Hochschule Niederrhein – University of Applied Sciences
Gebäude H, Raum H113
Reinarzstraße 49
47805 Krefeld
hubert.otten@hs-niederrhein.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Otten H, Weggen A, Bogoclu C, Cremanns K, Gierschner L, Ludmann D, Tromp T, Hochlenert D. Durch Sensortechnik unterstützte Wundtherapie des diabetischen Fußsyndroms – Entwicklungen des Projekts „iFoot“. Orthopädie Technik, 2022; 73 (10): 54–58
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- Tönnies T et al. Projected number of people with diagnosed Type 2 diabetes in Germany in 2040. Diabetic Medicine, 2019; 36 (10): 1217–1225
- Armstrong DG et al. Diabetic foot ulcers and their recurrence. New England Journal of Medicine, 2017; 376 (24): 2367–2375
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- Köster I et al. Direct costs of diabetes mellitus in Germany – CoDiM 2000–2007. Experimental and Clinical Endocrinology & Diabetes, 2011; 119 (06): 377–385
- Hochlenert D et al. Das diabetische Fußsyndrom – über die Entität zur Therapie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2014
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