Einleitung
Um die Abheilung eines diabetischen Fußsyndroms zu erreichen, ist die Therapie einer vorliegenden Durchblutungsstörung durch revaskularisierende Maßnahmen vordringlich. Ebenso wichtig ist das Ausschalten der repetitiven Traumatisierung des Gewebes durch eine suffiziente Druckentlastung. Im Gegensatz zu einem erlittenen Trauma bei erhaltener Sensibilität, damit verbundenen Schmerzen und einer daraus resultierenden Schonung wird ein Patient mit Sensibilitätsverlust häufig nicht von sich aus eine Schonung einhalten, weshalb sich die Mitarbeit der Patienten unter Umständen als schwierig erweist.
Die Schuhversorgung von Patienten mit diabetischem Fußsyndrom ist in Deutschland seit dem Jahr 2006 über eine Risikoklasseneinteilung (Tab. 1) geregelt, die auch in der aktuellen Praxisempfehlung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)1verankert ist.
Risikoklasse | Erläuterung | Regelversorgung | |
---|---|---|---|
0 | Diabetes mellitus ohne PNP/pAVK | Aufklärung und Beratung | fußgerechte Konfektionsschuhe |
I | wie 0, mit Fußdeformität | höheres Risiko bei späterem Auftreten einer PNP/pAVK | orthopädieschuhtechnische Versorgung aufgrund orthopädischer Indikation |
II | Diabetes mellitus mit Sensibilitätsverlust durch PNP/relevante pAVK | PNP mit Sensibilitätsverlust, pAVK | Spezialschuh für Diabetes mit herausnehmbarer konfektionierter Weichpolstersohle, ggf. mit orth. Schuhzurichtung |
III | Z. n. plantarem Ulkus | deutlich erhöhtes Ulkusrezidivrisiko gegenüber Gr. II | Spezialschuh für Diabetes i. d. R. mit diabetesadaptierter Fußbettung, ggf. mit orth. Schuhzurichtung |
IV | wie II mit Deformitäten bzw. Dysproportionen | nicht nach konfektioniertem Leisten zu versorgen | orth. Maßschuhe mit DAF |
V | diabetische Neuroosteoarthropathie (DNOAP, Sanders-Typ II–V, LEVIN-Stadium III) | Orthesen i. d. R bei DNOAP Sanders-Typ IV–V oder bei starker Lotabweichung | knöchelübergreifende orth. Maßschuhe mit DAF, Innenschuhe, Orthesen |
VI | wie II mit Fußteilamputation | mindestens transmetatarsale Amputation, auch als innere Amputation | Versorgung wie IV plus Prothesen |
VII | akute Läsion/floride DNOAP | stets als temporäre Versorgung | Entlastungsschuhe, Verbandsschuhe, Interimsschuhe, Orthesen, Vollkontaktgips (TCC) ggf. mit DAF und orth. Zurichtungen |
Tab. 1 Schuhversorgung und Risikoklassen beim diabetischen Fußsyndrom und analogen Neuro-Angio-Arthropathien. (Quelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft)
Die betroffenen Patienten erhalten bei sachgerechter Versorgung während ihres „aktiven“ DFS eine Interimsversorgung aus der Risikoklasse VII. Deren Versorgung wurde im Jahr 2019 von der IWGDF neu ausgearbeitet, sodass auch die deutsche Risikoklasseneinteilung vor allem der Gruppe VII derzeit (Stand: März 2023) überarbeitet wird (Abb. 1). Im Folgenden wird die Versorgung von Patienten mit aktivem diabetischem Fußsyndrom nach den Empfehlungen dieser Leitlinie2vorgestellt.
Der Leitlinie liegt mit dem GRADE-System (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation) eine Methodologie zugrunde, die auf klinischen Fragen im PICO-Format (PICO = Patient, Intervention, Comparison, Outcome bzw. Patient, Intervention, Vergleich, Ergebnis) beruht. Dabei handelt es sich um Fragen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Zudem wurden systematische Übersichtsarbeiten ausgewertet und die verfügbare Evidenz beurteilt. Daraus wurden entsprechende Empfehlungen abgeleitet und begründet. Im Folgenden stehen die Aspekte der Eignung nicht abnehmbarer Entlastungsorthesen, des Unterschieds zwischen einem TCC (Total Contact Cast) und einer nicht abnehmbaren Fertigorthese und der Eignung abnehmbarer Entlastungsorthesen jeweils bei Patienten mit plantarem diabetischen Fußulkus (DFU) im Vordergrund.
Die Entlastung von Fersenulzerationen ist deutlich schwieriger und schlechter mit Literatur belegt. Beste klinische Erfahrungen haben die Autoren persönlich mit zweischaligen Entlastungsorthesen, wenn die Patienten noch sehr mobil sind. Bei weniger mobilen Patienten werden nur sogenannte Heel-Caps (kleiner und nur den Fuß umfassende Softcast mit Polsterung im Ulkusbereich) angefertigt.
Eignung nicht abnehmbarer Entlastungsorthesen
Fragestellung
Die erste Fragestellung bzgl. geeigneter Druckentlastungsmaßnahmen in der Leitlinie lautet:
„Sind bei Patienten mit plantarem diabetischem Fußulkus nicht abnehmbare Entlastungsmaßnahmen im Vergleich zu abnehmbaren Entlastungsmaßnahmen geeignet, ein diabetisches Fußulkus zu heilen?“
Empfehlung der Leitlinie
Bei Menschen mit Diabetes, die an einem neuropathischen plantaren Vorfuß- oder Mittelfußulkus leiden, sollte eine nicht abnehmbare kniehohe Entlastungsorthese mit angepasster Fußbettung als Entlastungsbehandlung erster Wahl verwendet werden, um die Abheilung des Ulkus zu fördern (GRADE-Empfehlungsstärke: stark; Evidenzqualität: hoch).
Begründung
Die Hilfsmittel, die hier in Frage kommen, sind ein Vollkontaktgips (TCC) und kniehohe Fertigorthesen. Die Nicht-Abnehmbarkeit wird erreicht, indem diese Hilfsmittel mit einem Klebeband mit Signatur, einem Kabelbinder oder einer Castbinde verschlossen werden, damit der Patient diese nur im Notfall öffnen kann (Abb. 2). Dies setzt allerdings voraus, dass die Wunde ein Exsudationsstadium erreicht hat und dass ein moderner Wundverband das anfallende Exsudat aufnehmen und festhalten kann; die Tragezeit muss daran angepasst werden. Bei schwach sezernierenden Wunden ist ein Wechselintervall von einer Woche möglich. Damit Spitzendrücke in den Fertigorthesen im Ulkusbereich ausreichend reduziert werden können, sollte ein modulares Einlagensystem in diese Hilfsmittel integriert sein oder eine individuelle Fußbettung hierfür konstruiert werden. Das zeigen die Erfahrungen der Autoren aus dem Versorgungsalltag.
Die Vorteile dieser Hilfsmittel liegen auf der Hand: Durch die fehlende Abnehmbarkeit werden eine maximale Therapietreue und eine optimale Druckumverteilung auf den Unterschenkel und den gesamten Fuß erreicht. Dies ist durch entsprechende Studien belegt, die alle eine höhere Abheilwahrscheinlichkeit und schnellere Abheilgeschwindigkeiten zeigen3.
Unterschied zwischen TCC und nicht abnehmbarer Fertigorthese
Die zweite Fragestellung lautet:
„Können bei Menschen mit plantaren Fußwunden ‚Total Contact Casts‘ (TCC) im Vergleich zu anderen nicht abnehmbaren kniehohen Entlastungsorthesen die Heilung der DFU bewirken?“
Die Autoren gelangen in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass hier kein Unterschied besteht. Die Entscheidung für einen TCC oder einen nicht abnehmbaren kniehohen Walker sollte sich daher nach der Verfügbarkeit von Orthese bzw. Material (d. h. den Ressourcen), nach den Fähigkeiten der Behandler, nach den Vorlieben des Patienten und nach dem Ausmaß der vorhandenen Fußdeformität (d. h. bei einem stark deformierten Fuß eher ein TCC) richten (GRADE-Empfehlungsstärke: stark; Evidenzqualität: moderat).
Eignung abnehmbarer Entlastungsorthesen
Die dritte von der Leitlinie zu beantwortende Fragestellung lautet:
„Sind bei Patienten mit plantaren DFU abnehmbare kniehohe Entlastungsorthesen im Vergleich zu anderen abnehmbaren Entlastungsorthesen geeignet, diabetische plantare Ulzerationen zu heilen?“
Empfehlung
Wenn nicht abnehmbare Hilfsmittel nicht toleriert werden oder kontraindiziert sind, sollen als Mittel der 2. Wahl abnehmbare Hilfsmittel benutzt und die Patienten zu einer möglichst langen Tragezeit motiviert werden. Dies führt allerdings laut IWGDF-Leitlinie im klinischen Alltag zu deutlich längeren Abheilzeiten, da die dafür notwendige Motivation und Einsicht der Patienten oft nicht gegeben ist (GRADE-Empfehlungsstärke: schwach; Evidenzqualität: niedrig).
Werden kniehohe Entlastungsmaßnahmen nicht toleriert, schlägt die Leitlinie als Drittlinien-Entlastungsmaßnahme die Benutzung knöchelhoher Entlastungshilfsmittel vor. Für diese Hilfsmittel finden sich allerdings keine Studien bzgl. der Abheilraten und ‑geschwindigkeiten (GRADE-Empfehlungsstärke: stark; Evidenzqualität: niedrig).
Die Frage, ob andere konventionelle oder Standard-Therapieschuhe geeignet sind, Druckgeschwüre abheilen zu lassen, wird in der Leitlinie klar verneint. Es existieren den Autoren der Leitlinie zufolge keine Studien, in denen solche Schuhe mit dem Therapieziel der Abheilung benutzt wurden. In Vergleichsstudien 4 mit anderen Entlastungsmaßnahmen waren diese Schuhe unterlegen.
Auch klassische Vorfußentlastungsschuhe sind ungeeignet: Die geringe Auftrittsfläche sorgt bei Patienten mit Sensibilitätsverlust für eine entsprechende Gangunsicherheit. Bei ganzsohligen Vorfußentlastungsschuhen rollen diese Patienten zwar normal ab, treten aber mit der Sohle trotzdem im Vorfußbereich auf. Halbe Entlastungsschuhe verursachen erhebliche Druckspitzen im Mittelfußbereich, die zu neuen Wunden oder zu Frakturen der Mittelfußknochen und zur Entwicklung eines Charcot-Fußes führen können (GRADE-Empfehlungsstärke: stark; Evidenzqualität: moderat).
Weitere Druckentlastungsmaßnahmen neben Schuhen und Orthesen
„Abfilzen“ der Fußsohle
In diesem Zusammenhang wird das sogenannte Abfilzen der Fußsohle in Betracht gezogen. Dabei werden Filzplatten so an der Fußsohle verklebt, dass normalerweise nicht belastete Fußzonen in die Belastungszone gelangen. Hinter dem Ulkus erfolgt eine gezielte leichte Anhebung der Fußstrukturen und der Ulkusbereich wird ausgespart5 (GRADE-Empfehlungsstärke: schwach; Evidenzqualität: niedrig).
Im klinischen Alltag funktioniert dies sehr gut, vor allem im Zusammenspiel mit abnehmbaren Hilfsmitteln. Die abgefilzte Fußsohle erfährt, wenn das eigentliche Hilfsmittel nicht getragen wird, dann deutlich mehr Entlastung als ohne Abfilzen. Problematisch ist lediglich das Anbringen der Filzplatten im Alltag; insbesondere wenn Angehörige dies nicht durchführen können, da ambulante Pflegedienste hierzu häufig nicht die erforderliche Zeit aufbringen können6.
Chirurgische Maßnahmen
Bei Versagen der Hilfsmittel sollten immer auch chirurgische Maßnahmen in Betracht bezogen werden, um die biomechanischen Hindernisse der Abheilung zu beseitigen. So kann etwa bei plantaren Mittelfußulzerationen eine Achillessehnenverlängerung zur Druckreduktion führen. Auch die Resektion der Mittelfußköpfchen kann in Erwägung gezogen werden, wobei dies sehr oft zu Transferulzerationen führt. Besser sind daher Eingriffe wie Osteotomien und Gelenk-Arthroplastiken, die nur zu einer gewissen und nicht kompletten Druckreduktion führen (GRADE-Empfehlungsstärke: schwach; Evidenzqualität: niedrig).
Auch Sehnentransferoperationen oder die Durchtrennung der distalen Beugesehnen bei Krallenzehen sind sehr effektiv und von anhaltendem Effekt (GRADE-Empfehlungsstärke: schwach; Evidenzqualität: niedrig).
Empfohlen werden diese Maßnahmen vor allem bei fehlender Abheilung der plantaren Läsionen trotz des Tragens eines hochschaftigen und nicht abnehmbaren Hilfsmittels. Hier scheint der erhöhte innere Druck trotz effektiver Entlastungsmaßnahme so hoch zu bleiben, dass eine Abheilung ausbleibt.
Dies verdeutlicht wiederum, weshalb es wichtig ist, die bei einem DFS angewendeten Hilfsmittel nicht abnehmbar zu machen. Denn nur so kann geklärt werden, ob lediglich die Tragecompliance für die Abheilung nicht ausreicht oder ob der zu hohe innere Druck dafür verantwortlich ist.
Fazit
Bei neuropathischen plantaren und nicht infizierten Ulzerationen zeigt dieser Ausschnitt der Leitlinie der IWGDF den Algorithmus auf, wie diese Wunden idealerweise entlastet werden sollten. Als effektivste und am besten evaluierte Entlastungsmaßnahme stellten sich die hochschaftigen und nicht abnehmbaren Hilfsmittel wie der TCC oder Fertigorthesen dar. Werden die Hilfsmittel abnehmbar gemacht oder niedriger, wird die Abheildauer offensichtlich länger. Andere dargestellte Maßnahmen wie Verbandsschuhe und Entlastungsschuhe oder das Abfilzen der Fußsohle haben einen niedrigen Empfehlungsgrad und eine schlechtere Evidenz.
Bei zusätzlicher milder Ischämie oder milder Infektion gilt der gleiche Algorithmus. Sollte beides gleichzeitig vorliegen, sollten die Hilfsmittel abnehmbar bleiben. Bei höhergradigeren Stadien der Ischämie oder Infektion müssen diese vorrangig therapiert werden.
Für die Autoren:
Dr. med. Karl Zink
Facharzt für Allgemeinmedizin
Oberarzt
Diabetes-Klinik Bad Mergentheim
Theodor-Klotzbücher-Straße 12
97980 Bad Mergentheim
zink@diabetes-zentrum.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Zink K, Stumpf J, Haak T. Druckentlastung beim diabetischen Fußsyndrom. Vorstellung der aktuellen Leitlinie der International Working Group on the Diabetic Foot (IWGDF). Orthopädie Technik, 2023; 74 (5): 44–48
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Morbach S et al. Diabetisches Fußsyndrom. DDG Praxisempfehlungen. Die Diabetologie, 2021; 16 (2): S362–S372
- Bus SA et al. International Working Group on the Diabetic Foot (IWGDF). Guidelines on offloading foot ulcers in persons with diabetes (IWGDF 2019 update). Diabetes Metabolism Research and Reviews, 2020; 36 (1): e3274
- Armstrong DG et al. Evaluation of removable and irremovable cast walkers in the healing of diabetic foot wounds: a randomized controlled trial. Diabetes Care, 2005; 28 (3): 551–554
- Morona JK et al. Comparison of the clinical effectiveness of different offloading devices for the treatment of neuropathic foot ulcers in patients with diabetes: a systematic review and meta-analysis. Diabetes/Metabolism Research and Reviews, 2013; 29 (3): 183–193
- Zimny S, Schatz H, Pfohl U. The effects of applied felted foam on wound healing and healing times in the therapy of neuropathic diabetic foot ulcers. Diabetic Medicine, 2003; 20 (8): 622–625
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