Digi­ta­li­sie­rung und 3D-Druck als Werk­zeu­ge in der Ortho­pä­die­tech­nik – Pro­zess­op­ti­mie­rung zur wis­sens­ba­sier­ten Kon­struk­ti­on und Aus­le­gung von Bewe­gungs­ele­men­ten für die Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler Orthesen

L. Mika, A. Hilbig, U. Gebhardt, F. Hirsch, P. Naake, M. Buro, S. Holtzhausen, K. Paetzold
Ziel des vorgestellten Projekts ist die Entwicklung einer durchgängigen digitalen Prozesskette in Verbindung mit der Bereitstellung einer Toolbox zur wissensbasierten Parameterauswahl für die Generierung lastangepasster Bewegungselemente individueller Orthesen. Grundlage ist die parametrische Beschreibung und Erzeugung diskreter Geometrien sowie die numerische Auslegung einer entsprechenden Anzahl zufällig gewählter Parametersätze für die Anlernphase des maschinellen Lernens. Die geometrischen Modelle stehen auf diese Weise den Orthopädietechnikerinnen und -technikern für die digitale Orthesenmodellierung zur Verfügung. Das (Teil-)Forschungsprojekt erfolgte in Kooperation der Professur für Numerische und Experimentelle Festkörpermechanik der TU Dresden sowie der Orthopädie- und Rehatechnik Dresden GmbH.

Ein­lei­tung

Im übli­chen Her­stel­lungs­pro­zess spe­zi­ell indi­vi­du­el­ler (Unterschenkel-)Orthesen exis­tiert der­zeit noch kei­ne durch­gän­gig digi­ta­le Pro­zess­ket­te. Dies ist nach­tei­lig sowohl im Hin­blick auf eine schnel­le und opti­ma­le Pati­en­ten­ver­sor­gung als auch auf eine nach­hal­ti­ge und repro­du­zier­ba­re Her­stel­lung. Ziel die­ses Bei­tra­ges bzw. des hier vor­ge­stell­ten Pro­jekts zur Erstel­lung einer bei­spiel­haf­ten Unter­schen­kel­or­the­se ist somit eine effi­zi­en­te­re Gestal­tung des Her­stel­lungs­pro­zes­ses mit­tels Digi­ta­li­sie­rung und addi­ti­ver Fer­ti­gung. Eine Pro­zess­op­ti­mie­rung soll mit Hil­fe fol­gen­der Tools erfolgen:

  • 3D-Scans und digi­ta­ler Datenaufbereitung,
  • CAx-Sys­te­men (CA = Com­pu­ter Aided; x = Platz­hal­ter für Anwen­dun­gen wie CAD, CAM und CAE) und Erstel­lung digi­ta­ler Model­le des Beins und der Orthesenkomponenten,
  • FEM-Simu­la­tio­nen (FEM = Fini­te-Ele­men­te-Metho­de) und KNNs (KNN = Künst­li­ches Neu­ro­na­les Netz­werk) sowie
  • addi­ti­ver Fertigung.

Mit die­sen Werk­zeu­gen kann die Her­stel­lung einer Orthe­se schnell und jeder­zeit repro­du­zier­bar gestal­tet wer­den und bei einem not­wen­di­gen Ersatz der Orthe­se ohne Wie­der­ho­lung aller Pro­zess­schrit­te erfol­gen, auch wenn sich die Behand­lungs­an­for­de­run­gen der Pati­en­tin bzw. des Pati­en­ten in der Zwi­schen­zeit geän­dert haben.

Neben der Pro­zess­ket­te wur­den inner­halb des Pro­jek­tes auch die Gestal­tung der hier im Mit­tel­punkt ste­hen­den Unter­schen­kel­or­the­se (Abb. 1) sowie im Detail deren Gelenk bzw. Bewe­gungs­ele­ment (der alten, tra­di­tio­nel­len Orthe­se) als gegen­wär­ti­ge Schwach­stel­le unter­sucht. Ziel sind neue und effi­zi­en­te­re Designs und Kon­struk­tio­nen für pati­en­ten­spe­zi­fi­sche, last­an­ge­pass­te addi­tiv gefer­tig­te Orthe­sen. Die dabei vor­ge­se­he­nen last­an­pas­sungs­fä­hi­gen Bewe­gungs­ele­men­te sind für indi­vi­du­el­le Behand­lungs­mög­lich­kei­ten durch Orthe­sen von gro­ßem Vor­teil, da sie den jewei­li­gen Pati­en­ten bzw. die jewei­li­ge Pati­en­tin in ihrer Bewe­gung opti­mal unter­stüt­zen und durch die Digi­ta­li­sie­rung auf schnells­tem Wege bereit­ste­hen. Mit Hil­fe eines CAD-Basis­mo­dells (CAD = Com­pu­ter-Aided Design; Abb. 5b) des Ele­men­tes und eines soge­nann­ten künst­li­chen neu­ro­na­len Net­zes soll dies zusätz­lich nahe­zu auto­ma­ti­siert erfol­gen. Gezeigt wer­den soll, dass die addi­ti­ve Fer­ti­gung und para­me­tri­schen Model­le der Orthe­sen­ge­len­ke kom­ple­xe­re For­men sowie mehr der bis­her umsetz­ba­ren und somit eigent­lich gewünsch­ten Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten erlau­ben und dar­über hin­aus eine geziel­te Anpas­sung und schnel­le Bereit­stel­lung von Ersatz­ele­men­ten bie­ten. Dies unter­stützt zusätz­lich die Nach­hal­tig­keit sowohl der Her­stel­lung als auch der Orthe­se selbst.

Zur Unter­stüt­zung die­ser Vor­ha­ben wur­den die Unter­su­chun­gen, Ergeb­nis­se und Simu­la­tio­nen der Pro­fes­sur für Nume­ri­sche und Expe­ri­men­tel­le Fest­kör­per­me­cha­nik der TU Dres­den (im Fol­gen­den: NEFM) bezüg­lich neu­er Mate­ria­li­en, Fer­ti­gungs­ver­fah­ren (SLS- und MJF-Ver­fah­ren) und der ent­wi­ckel­ten Gelenk­geo­me­trien genutzt. Ein­ge­bracht wur­de zudem die lang­jäh­ri­ge Erfah­rung, fach­li­che Exper­ti­se und fer­ti­gungs­tech­ni­sche Unter­stüt­zung in der Ortho­pä­die­tech­nik durch die Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH (im Fol­gen­den: ORD) gera­de im Bereich der Para­me­ter­un­ter­su­chung sowie der Kon­struk­ti­on von Bewegungselementen.

Grund­la­gen

Anfor­de­run­gen an die Orthese

Unter­schied­lichs­te Indi­ka­tio­nen kön­nen bei Betrof­fe­nen zu einer Dys­funk­ti­on bei der Kon­trol­le des Sprung­ge­lenk­kom­ple­xes füh­ren: Neben band­haf­ten Insta­bi­li­tä­ten kön­nen ins­be­son­de­re mus­ku­lä­re Funk­ti­ons­stö­run­gen eine phy­sio­lo­gi­sche Schritt­ab­wick­lung ver­hin­dern. Eine Stö­rung der fuß­he­ben­den Mus­ku­la­tur macht sich zum einen in der Schwung­pha­se, zum ande­ren aber auch wäh­rend der Last­über­nah­me bemerk­bar: Die Stö­rung der plant­ar flek­tie­ren­den Mus­ku­la­tur mani­fes­tiert sich ab der mitt­le­ren Stand­pha­se bis zur Zehen­ab­lö­sung. Die jeweils zu kom­pen­sie­ren­den Dreh­mo­men­te sind deut­lich ver­schie­den, und auch die benö­tig­ten Bewe­gungs­win­kel unter­schei­den sich. Eine Stö­rung der plant­ar flek­tie­ren­den Mus­ku­la­tur hat zudem Ein­fluss auf die Sta­bi­li­tät des Knie­ge­lenks. Vor Beginn der Orthe­sen­kon­struk­ti­on ist somit eine gründ­li­che indi­vi­du­el­le Befun­dung not­wen­dig. Hier flie­ßen die Ergeb­nis­se der kli­ni­schen Unter­su­chung, aber auch Erkennt­nis­se aus der Gang­ana­ly­se mit ein.

Kon­ven­tio­nel­le und neu kon­zi­pier­te Unterschenkelorthese

Die hier im Mit­tel­punkt ste­hen­de neu kon­zi­pier­te Orthe­se adres­siert vor allem den Aus­fall der plant­ar flek­tie­ren­den Mus­ku­la­tur durch einen mate­ri­al- und form­ab­hän­gi­gen Wider­stand gegen die Dor­sal­ex­ten­si­on, wie es in sehr ein­fa­cher Form auch in der von der ORD her­ge­stell­ten Ver­gleichs­or­the­se ver­wirk­licht wird (Abb. 1 links). Mit Hil­fe von Abbil­dung 2 las­sen sich Auf­bau, Wirk­wei­se und Para­me­ter erläu­tern: Bei bei­den Orthe­sen erfolgt die Kraft­ein­lei­tung am Schien­bein unter­halb des Knie­ge­lenks. Die wir­ken­de Kraft fließt dann über das Waden­teil, das als Über­trä­ger bzw. Hebel­arm fun­giert, wei­ter an das Gelenk. Die­ses nimmt das resul­tie­ren­de Dreh­mo­ment voll­stän­dig auf und ist somit der Bereich, in dem die signi­fi­kan­tes­te Ver­for­mung statt­fin­det. Dazu trägt bei der kon­ven­tio­nel­len Ver­gleichs­or­the­se auch der außer­halb der ana­to­mi­schen Dreh­ach­se lie­gen­de Dreh­punkt der Orthe­se bei. Ab der mitt­le­ren Stand­pha­se wird die Last über das Fuß­teil bis zum Bal­len getra­gen und dort als Boden­re­ak­ti­ons­kraft abge­ge­ben. Durch die Gestal­tung der Orthe­se wird neben der Unter­stüt­zung der Plant­ar­fle­xi­on auch eine Läh­mung der Dor­sal­ex­ten­so­ren kom­pen­siert, da der Bewe­gungs­wi­der­stand auch in die­ser Rich­tung vor­han­den ist. Somit ist nur die Aus­füh­rung der Dor­sal­ex­ten­si­on mög­lich, wäh­rend eine Plant­ar­fle­xi­on durch die Ver­stei­fung bzw. Geo­me­trie unter­bun­den wird. Vor allem aber ist die Kom­pen­sa­ti­on der feh­len­den exzen­tri­schen Mus­kel­ar­beit, also ein kon­trol­lier­tes Nach­ge­ben der Orthe­se, her­vor­zu­he­ben. Somit wird die tra­di­tio­nel­le als auch zukünf­tig addi­ti­ve Orthe­se bei­spiels­wei­se zur Behand­lung von Kau­er­gang, Fuß­he­ber­pa­re­se und teil­wei­se von Spitz­fuß­stel­lun­gen ange­wen­det. Wich­tig ist, dass die Orthe­se nur für den spe­zi­el­len, indi­vi­du­ell ermit­tel­ten Anwen­dungs­fall genutzt wer­den kann. Vor­kom­men­de Über­be­las­tun­gen, bei­spiels­wei­se durch Stol­pern, kön­nen von ihr auf­ge­nom­men wer­den, soll­ten aber Ein­zel­fäl­le bleiben.

Die Ana­ly­se der auf die Orthe­se ein­wir­ken­den Kräf­te, der Lage der Gelenk­ach­se und der Hebel­län­gen sind neben dem benö­tig­ten Bewe­gungs­um­fang ent­schei­den­de Para­me­ter für die Kon­struk­ti­on der neu­en Orthe­se und spe­zi­ell des inte­grier­ten Bewe­gungs­ele­men­tes. Fer­ner ist das Nach­emp­fin­den der Gelen­ke bezüg­lich der natür­li­chen Form des Knö­chel­be­rei­ches und die Gestal­tung des flie­ßen­den Über­ge­hens die­ses Bereichs in die rest­li­che Orthe­se wich­tig, die sich eben­so opti­mal an die Beinform anpas­sen soll­te. Zu den Meta­da­ten zäh­len der Akti­vi­täts­grad (sport­lich aktiv bis inak­tiv) sowie Gewicht und Grö­ße der zu ver­sor­gen­den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten 1.

Addi­ti­ve Fertigung

Selek­ti­ves Laser­sin­tern (SLS) ist ein Rapid-Pro­to­ty­p­ing-Ver­fah­ren, bei dem die Her­stel­lung von Pro­to­ty­pen bzw. Bau­tei­len mit­tels eines Laser­strahls erfolgt. Die Grund­la­ge bil­det eine Bau­platt­form mit fei­ner Pul­ver­schicht, deren Par­ti­kel vom Laser mit­ein­an­der ver­schmol­zen wer­den. Das Pul­ver wird auf die­se Wei­se lokal wie­der gezielt ver­bun­den und das Bau­teil Schicht für Schicht auf­ge­baut. Ein wei­te­res Ver­fah­ren, das soge­nann­te Mul­ti Jet Fusi­on (MJF), nutzt eben­falls fei­ne pul­ver­för­mi­ge Aus­gangs­stof­fe. Im Unter­schied zum SLS wer­den die Par­ti­kel hier­bei jedoch mit zwei spe­zi­el­len wär­me­lei­ten­den Flüs­sig­kei­ten ver­bun­den. Auch unter­schei­den sich die Ver­fah­ren bezüg­lich der Anwend­bar­keit von Werk­stof­fen sowie hin­sicht­lich der Ober­flä­chen­be­schaf­fen­heit. So kann ein Bau­teil mit­tels SLS-Ver­fah­ren aus ver­schie­dens­ten For­men von Poly­me­ren und Alu­mi­den her­ge­stellt wer­den; beim MJF-Ver­fah­ren besteht eine gerin­ge­re Aus­wahl an Poly­me­ren. Vor­aus­set­zung einer Fer­ti­gung mit bei­den Ver­fah­ren ist eine STL-Datei (STL = Stan­dard Tes­sel­la­ti­on Lan­guage) des gewünsch­ten (3D-)Modells. Die Fer­ti­gung der Orthe­sen­ele­men­te wird im Pro­jekt auf­grund erhöh­ter Anfor­de­run­gen an medi­zi­ni­sche und ortho­pä­di­sche Pro­duk­te von vorn­her­ein auf die bei­den Ver­fah­ren SLS bzw. MJF limi­tiert 1 2.

Bei der Unter­su­chung des Mate­ri­al­ver­hal­tens von Poly­amid 2200 (PA2200) im SLS-Ver­fah­ren sowie von Poly­amid 12 (PA12) beim MJF-Ver­fah­ren konn­ten durch die Pro­fes­sur NEFM eini­ge mecha­ni­sche Werk­stoff­ei­gen­schaf­ten ermit­telt wer­den. Dazu zählen:

  • Elas­ti­zi­täts­mo­dul,
  • Zug­fes­tig­keit,
  • Bruch­deh­nung und
  • Dich­te der Polymere.

Her­vor­zu­he­ben ist dabei die Fest­stel­lung eines eher iso­tro­pen und dehn­ra­ten­un­ab­hän­gi­gen Ver­hal­tens von PA2200 (SLS) und eines aniso­tro­pen und dehn­ra­ten­ab­hän­gi­gen Ver­hal­tens von PA12 (MJF). Sowohl line­ar-elas­ti­sche als auch elas­tisch-plas­ti­sche (iso­trop sowie ortho­trop) Mate­ri­al­mo­del­le wur­den dabei betrach­tet 3.

Inwie­fern die jewei­li­gen Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten vor­teil­haft für das Design von Bewe­gungs­ele­men­ten mit Bie­ge­funk­ti­on sind, wur­de eben­falls betrach­tet. Dies führ­te jedoch zu kei­nen neu­en Erkennt­nis­sen bezüg­lich der Umset­zung und Ein­hal­tung von Kon­struk­ti­ons­mög­lich­kei­ten und ‑richt­li­ni­en in der addi­ti­ven Fer­ti­gung (DIN ISO 2768–1; 2). Bei­spiels­wei­se zeig­ten sich kei­ne beson­de­ren Poten­zia­le durch ver­schie­de­ne Bau­teil­aus­rich­tun­gen im Dru­cker. Für die spe­zi­el­len bzw. jewei­li­gen Anfor­de­run­gen an das Bewe­gungs­ele­ment, vor allem Stei­fig­keit und Bie­ge­ver­hal­ten, erwie­sen sich jedoch die Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten beim SLS-Ver­fah­ren als vor­teil­haf­ter bzw. leich­ter zu kon­trol­lie­ren als beim MJF-Ver­fah­ren und wer­den daher im Pro­jekt bevor­zugt. Gene­rell bie­ten bei­de vor­ge­stell­ten Ver­fah­ren und Mate­ria­li­en gute Vor­aus­set­zun­gen für die Gestal­tung und Her­stel­lung von Unterschenkelorthesen.

Pro­zess­ket­te bei der Orthesenherstellung

Die Ver­gleichs- bzw. Bei­spiel­or­the­se wird in einem tra­di­tio­nel­len Her­stel­lungs­pro­zess mit Poly­pro­py­len (PP) in Form von dün­nen zu erhit­zen­den Plat­ten gefer­tigt. Das Tief­zie­hen auf einem zuvor gefer­tig­ten Posi­tiv­mo­dell des Pati­en­ten­beins aus Hart­schaum erfor­dert daher eine aus­ge­präg­te Kom­pe­tenz der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker. Die so erzeug­te grund­le­gen­de Form der Orthe­se wird anschlie­ßend zuge­schnit­ten. Am Pro­zess­ende kön­nen zwar mini­ma­le Ände­run­gen der Gelenk­stei­fig­keit mit­tels klei­ne­rer Mate­ri­al­ab­tra­gun­gen durch­ge­führt wer­den – ein Kor­ri­gie­ren der Pro­zess­schrit­te ist jedoch kaum mög­lich. Somit muss bei einer grö­ße­ren Kor­rek­tur oder bei einem Orthe­sen­er­satz der gesam­te Pro­zess erneut durch­lau­fen wer­den. Ein gro­ßes Defi­zit die­ser Her­stel­lungs­wei­se ist somit die feh­len­de Repro­du­zier­bar­keit, aber auch der gerin­ge Gestal­tungs- und Bewe­gungs­spiel­raum (s. o.) für die Orthe­se und deren Gelenke.

Neue­re Her­stel­lungs­pro­zes­se sind zumeist eben­so ent­we­der noch nicht kom­plett repro­du­zier­bar oder noch nicht für indi­vi­du­el­le Orthe­sen aus­ge­legt. Häu­fig wird die Digi­ta­li­sie­rung des Pro­zes­ses auf Teil­schrit­te wie die Fer­ti­gung des Bein­mo­dells mit­tels CNC-Frä­se (CNC = Com­pu­te­ri­zed Nume­ri­cal Con­trol) (via 3D-Scan und CAD-Modell) beschränkt, auf dem anschlie­ßend per Tief­zie­hen wei­ter­ge­ar­bei­tet wird. Gibt es dage­gen eine voll­stän­dig digi­ta­le Pro­zess­ket­te inklu­si­ve addi­ti­ver Fer­ti­gung, besteht die­se in der Regel nicht für Indi­vi­du­al- son­dern ledig­lich für Stan­dard­orthe­sen. Eine teil­au­to­ma­ti­sier­te, durch­gän­gig digi­ta­le Pro­zess­ket­te exis­tiert also zumin­dest für Orthe­sen wie die aus­ge­wähl­te last­an­ge­pass­te und pati­en­ten­spe­zi­fi­sche Bei­spiel­or­the­se noch nicht. Vor­bil­der sind dage­gen in der Hand­orthe­tik zu fin­den 1.

Pro­blem­stel­lung

Die vor­ge­stell­ten The­men­fel­der umfas­sen wesent­li­che Anfor­de­run­gen und Schwer­punk­te, die in die­sem Bei­trag beach­tet wer­den müs­sen. Das Dia­gramm in Abbil­dung 3 ver­mit­telt zur bes­se­ren Ver­an­schau­li­chung eine Über­sicht in Form einer Gegen­über­stel­lung, um die­se Aspek­te ent­spre­chend in die umzu­set­zen­den Teil­be­rei­che ein­ord­nen zu kön­nen. Eini­ge der Anfor­de­run­gen kön­nen in Form von Para­me­tern wie­der­ge­ge­ben wer­den, wor­auf im Abschnitt der prak­ti­schen Umset­zung näher ein­ge­gan­gen wird.

Hier­aus erge­ben sich fol­gen­de Schwie­rig­kei­ten in der prak­ti­schen Umsetzung:

  • Zum einen muss die bis­he­ri­ge tra­di­tio­nel­le Her­stel­lungs­wei­se grund­le­gend über­dacht bzw. neu kon­zi­piert wer­den. Wel­che Pro­zess­schrit­te kön­nen (mög­li­cher­wei­se leicht ange­passt) bestehen blei­ben, wel­che müs­sen ersetzt oder ent­nom­men wer­den, wel­che Schrit­te kom­men neu dazu, um eine durch­gän­gig digi­ta­le Pro­zess­ket­te zu ermög­li­chen, und wie muss ein ent­spre­chen­des Daten- und Infor­ma­ti­ons­mo­dell auf­ge­stellt werden?
  • Wei­ter­hin müs­sen die addi­ti­ve Fer­ti­gung und damit auch die Mate­ri­al­än­de­rung ein­be­zo­gen und deren Eigen­schaf­ten sowie Anfor­de­run­gen beach­tet und umge­setzt wer­den. Dies gilt sowohl für den Gesamt­pro­zess als auch für das Design der gesam­ten Orthe­se. Ein­fluss haben hier nun ande­re Kon­struk­ti­ons­richt­li­ni­en und ‑werk­zeu­ge, Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten (bspw. Bie­ge­ver­hal­ten) und neu gestal­te­te Gelenke.
  • Zum ande­ren gilt es die alten, zu erset­zen­den Bie­ge­ge­len­ke der Orthe­se kom­plett neu zu ent­wi­ckeln und damit das Poten­zi­al einer voll­stän­dig digi­ta­len Pro­zess­ket­te mit addi­ti­ver Fer­ti­gung der fina­len Geo­me­trie aus­zu­schöp­fen. Vor­ran­gig beein­flus­sen Anfor­de­run­gen wie ein opti­mier­ter Bewe­gungs­um­fang und ‑ver­lauf sowie eine höhe­re Bruch­si­cher­heit die Bewe­gungs­ele­men­te. Die soge­nann­ten Pati­en­ten­pa­ra­me­ter müs­sen hier teil­wei­se genau­er betrach­tet wer­den und haben mehr Ein­fluss auf die Adap­ti­on der Orthe­se an den Pati­en­ten bzw. die Pati­en­tin. Eine wich­ti­ge Rol­le spie­len dabei wir­ken­de Las­ten, Bewe­gungs­um­fän­ge und ana­to­mi­sche Formen.
  • Wei­ter­hin ist eine hohe und schnel­le Indi­vi­dua­li­sier­bar­keit der Gelen­ke gefor­dert. Um die­se Punk­te in Ver­bin­dung mit der digi­ta­len Pro­zess­ket­te pati­en­ten­in­di­vi­du­ell para­me­tri­sier­bar umset­zen zu kön­nen, ist die Anwen­dung eines soge­nann­ten neu­ro­na­len Net­zes nütz­lich. Die­ses wird wie­der­um durch die neu­en Bewe­gungs­ele­men­te und Mate­ria­li­en sowie durch den Pati­en­ten bzw. die Pati­en­tin mit sei­nen bzw. ihren Eigen­schaf­ten bzw. Para­me­tern beeinflusst.

Prak­ti­sche Umsetzung

Para­me­tri­sche Modelle

Unter Berück­sich­ti­gung der Mög­lich­kei­ten und Gren­zen der addi­ti­ven Fer­ti­gung wur­den ver­schie­de­ne Bewe­gungs­ele­men­te ent­wor­fen und anschlie­ßend in Zusam­men­ar­beit mit den Pro­jekt­part­ne­rin­nen und ‑part­nern ers­te Vor­zugs­va­ri­an­ten aus­ge­wählt. Dabei wur­den ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten erforscht, um durch eine defi­nier­te Geo­me­trie bestimm­te Frei­heits­gra­de zu erhal­ten, wobei die Bie­gung der Ele­men­te allein durch die Mate­ri­al­ver­for­mung rea­li­siert wer­den konn­te. Anschlie­ßend wur­den wei­te­re spe­zi­fi­sche Anfor­de­run­gen aus den Grund­la­gen wie ana­to­mi­sche Form, Bau­raum, Stei­fig­keit, Ver­form­bar­keit, Belas­tungs- und Bewe­gungs­gren­zen sowie Para­me­tri­sier­bar­keit an die Bewe­gungs­ele­men­te auf­ge­stellt und bei deren Design umge­setzt. So konn­ten drei kon­kre­te­re Ele­ment­va­ri­an­ten (Abb. 4a) erar­bei­tet wer­den. Es zeig­te sich wäh­rend des Ent­wick­lungs­pro­zes­ses, dass vor allem die Para­me­tri­sier- und Anpass­bar­keit sowie das Bie­ge­ver­hal­ten der Geo­me­trien bzw. CAD-Model­le die größ­ten Wich­tun­gen besit­zen. Final erfüll­te die Vari­an­te des soge­nann­ten Schmet­ter­ling­ge­lenks (Abb. 4b) alle beschrie­be­nen Kri­te­ri­en und wies zudem trotz der kom­ple­xen Geo­me­trie das gewünsch­te wei­te­re Ent­wick­lungs­po­ten­zi­al auf. Für die Kon­struk­ti­on per CAD wur­de die Soft­ware „Solid­Works“ genutzt.

Das CAD-Modell der fina­len Vor­zugs­va­ri­an­te wur­de ite­ra­tiv mit Hil­fe von FEM-Simu­la­tio­nen bezüg­lich Ver­for­mung, Bie­ge­ver­hal­ten und Stei­fig­keit ana­ly­siert und wei­ter­ent­wi­ckelt (Abb. 4c). Dabei wur­den bereits die Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten des bevor­zug­ten und folg­lich aus­ge­wähl­ten SLS-Ver­fah­rens berück­sich­tigt. Ver­än­dert haben sich dabei ste­tig die Geo­me­trie, die aber wei­ter­hin auf der Funk­ti­ons­wei­se und Grund­form des Schmet­ter­ling­ge­lenks basier­te, sowie die Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter. Letz­te­re stel­len dabei Ele­men­te wie Punk­te und Kur­ven im CAD-Modell dar, die durch die para­me­tri­sche Kon­struk­ti­on stets in ihren Wer­ten (Maße, Koor­di­na­ten) kon­stant unver­än­dert oder kon­trol­liert ver­än­der­bar blei­ben. Letz­te­re sind hier essen­zi­ell, da sie eine defi­nier­te, indi­vi­du­el­le Anpas­sung der Bewe­gungs­ele­men­te ermög­li­chen. Grund­sätz­lich wer­den die ver­än­der­ba­ren Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter durch die Ein­ga­be der Pati­en­ten­pa­ra­me­ter beein­flusst bzw. in ihren Wer­ten ange­passt und erge­ben (mit den kon­stan­ten Para­me­tern) als Gan­zes das pati­en­ten­spe­zi­fi­sche Gelenk (bzw. CAD-Basis­mo­dell). Genau­er aus­ge­drückt wird die Geo­me­trie durch die Varia­ti­on eines Para­me­ter­sat­zes algo­rith­misch erzeugt und in dis­kre­ter, ober­flä­chen­be­schrei­ben­der Form einer Tes­sel­la­ti­on (engl. für Mosa­ik) aus­ge­ge­ben. Zu den spe­zi­fi­schen Pati­en­ten- bzw. Ein­gangs­pa­ra­me­tern des Gelenks einer Unter­schen­kel­or­the­se zäh­len zum einen die Knö­chel­ma­ße wie Knö­chel­hö­he, ‑durch­mes­ser und ‑dreh­punkt­po­si­ti­on, wel­che direkt ins CAD-Modell über­tra­gen wer­den, zum ande­ren die gewünsch­ten Dor­sal­ex­ten­si­ons- und Plant­ar­fle­xi­ons­win­kel sowie das Wider­stands- bzw. Dreh­mo­ment, die in Sum­me bei­spiels­wei­se die Dicke sowie die geo­me­tri­schen Fein­hei­ten des Bewe­gungs­ele­men­tes sowohl direkt als auch indi­rekt beein­flus­sen und somit die gefor­der­te Last­an­pas­sung der Orthe­se erlauben.

Die grund­le­gen­de Form des fina­len Bewe­gungs­ele­men­tes kann mit Hil­fe eines Schmet­ter­lings beschrie­ben wer­den (Abb. 5a), des­sen vier Flü­gel­seg­men­te zu ins­ge­samt sechs Seg­men­ten erwei­tert wur­den. Da die gewünsch­ten Bewe­gungs­ele­men­te vor­ran­gig als Bie­ge­ge­lenk fun­gie­ren sol­len, hat die­se Form vor allem zwei Vorteile:

  • Zum einen kann das wir­ken­de Moment durch den ver­län­ger­ten Weg der Flü­gel­seg­men­te sehr gut und ohne zu gro­ße Last für das Gelenk selbst über­tra­gen wer­den. Die Kräf­te wer­den also auf die ver­schie­de­nen Seg­men­te aufgeteilt.
  • Zum ande­ren kön­nen die sich – je nach Para­me­ter­ein­stel­lung in ver­schie­den gro­ßen Abstän­den – berüh­ren­den Seg­men­te pro Sei­te direkt als Kon­takt­punk­te ver­wen­det wer­den. Die­se steu­ern, wann das Gelenk in sei­ner Bewe­gung ver­steift wer­den soll.

Wei­te­re Beson­der­hei­ten der Gelenkform:

  • Die nicht kom­plett sym­me­tri­sche Geo­me­trie (Fron­tal­an­sicht), was durch die sepa­ra­te Ein­stell­bar­keit des Dor­sal­ex­ten­si­ons- und Plant­ar­fle­xi­ons­win­kels bedingt ist (vgl. Kontaktpunkte),
  • eine nicht pla­ne Gestal­tung des Gelenks (Sei­ten­an­sicht), wodurch die­ses an die Knö­chel­form ange­passt wird, sowie
  • eine neue, geziel­te und somit zen­tra­le Plat­zie­rung des Dreh­punk­tes pas­send zum ana­to­mi­schen Drehpunkt.

Die Geo­me­trie bedingt somit das paar­wei­se Ein­set­zen der Gelen­ke in die Unter­schen­kel­or­the­se, um Bewe­gungs- und Frei­heits­gra­de kon­trol­lie­ren und defi­nie­ren zu kön­nen. Fer­ner sorgt die paar­wei­se Gestal­tung für mehr Sta­bi­li­tät und Sicher­heit. Für mehr Infor­ma­tio­nen über Kon­struk­ti­on, Aus­le­gung und Para­me­tri­sie­rung der Bewe­gungs­ele­men­te wird auf Arti­kel 1 verwiesen.

Zusam­men­ge­fasst wur­den eine fina­le Geo­me­trie, Grö­ßen­ab­stu­fun­gen und adap­tier­ba­re Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter (für jeg­li­che Pati­en­ten­pa­ra­me­ter­kon­stel­la­tio­nen) für das CAD-Modell des Bewe­gungs­ele­men­tes defi­niert. Des­sen soge­nann­tes Basis­mo­dell (Abb. 5b) wur­de zur Daten­ba­sis­er­zeu­gung (s. u.) sowie zum wei­te­ren Design einer neu­en Unter­schen­kel­or­the­se genutzt.

Neu­ro­na­les Netzwerk

Die mit Hil­fe künst­li­cher neu­ro­na­ler Netz­wer­ke aus dem Bereich des Deep Lear­ning (DL) umge­setz­te wis­sens­ba­sier­te Aus­wahl der Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter dient der pati­en­ten­in­di­vi­du­el­len Anpas­sung des Orthe­sen­ge­lenks. Dazu wur­de zunächst die all­ge­mei­ne Pro­zess­ket­te zur Erzeu­gung einer Daten­ba­sis (der Gelen­ke) und deren Ver­wen­dung in einer über­wach­ten Anlern­pha­se* auf­ge­stellt, die als Grund­la­ge für jedes Ver­fah­ren des maschi­nel­len Ler­nens dient. Aus­ge­hend vom Basis­mo­dell wur­den in einer auto­ma­ti­schen Modell­ge­nerie­rung unter­schied­li­che CAD-Modell­kon­fi­gu­ra­tio­nen erstellt. Dabei wur­den in ran­do­mi­sier­ter Wei­se bio­me­tri­sche Para­me­ter­zu­sam­men­stel­lun­gen erzeugt, deren Plau­si­bi­li­tät durch die vor­her­be­stimm­ten zuläs­si­gen Para­me­ter­be­rei­che in der jewei­li­gen Gelenks­ka­lie­rung (Abb. 6a) fest­ge­legt wur­den. Umfang­rei­che FEM-Simu­la­tio­nen dien­ten sodann der Erstel­lung von Last-Win­kel-Kur­ven, sodass maxi­ma­le Dor­sal­ex­ten­si­ons­win­kel, Kon­takt- und maxi­ma­le Dreh­mo­men­te der Gelen­ke extra­hiert wer­den konn­ten und ein anno­tier­ter Daten­satz bereitstand.

Die eigent­li­che Para­me­ter­vor­her­sa­ge für die Gelenk­kon­fi­gu­ra­ti­on fin­det aus­ge­hend von pati­en­ten­spe­zi­fi­schen Para­me­ter­vor­ga­ben (bio­me­tri­sche und ana­to­mi­sche Merk­ma­le) und der mecha­ni­schen Spe­zi­fi­ka­ti­on – wie Las­ten und Bewe­gungs­pro­fil – statt (Abb. 6b). In der Infe­renz wer­den sodann die Para­me­ter des Orthe­sen­ge­lenks vor­her­ge­sagt und das Basis­mo­dell modi­fi­ziert, sodass die Modell­kon­fi­gu­ra­ti­on zur anschlie­ßen­den Fer­ti­gung bereitsteht.

Fer­ner wur­den ver­schie­de­ne Netz­werk­ar­chi­tek­tu­ren mit Hil­fe der Soft­ware „Ten­sor­flow“ imple­men­tiert, die unter­schied­li­che Ziel­stel­lun­gen und Aus­ga­be­er­geb­nis­sen erfül­len können:

  • Auf der einen Sei­te die Vor­her­sa­ge unge­ord­ne­ter Regres­si­ons­wer­te mit Hil­fe eines Mul­ti-Lay­er-Per­cep­trons (MLP), das die ste­ti­ge Aus­ga­be von Ein­zel­pa­ra­me­tern wie der Gelenk­di­cke erlaubt;
  • auf der ande­ren Sei­te eine Kom­bi­na­ti­on des MLP mit künst­li­chen Fal­tungs­schich­ten (Con­vo­lu­tio­nal Neu­ral Net­work = CNN), die eine räum­li­che Ver­ar­bei­tungs­wei­se der Last-Win­kel-Kur­ve ermöglichen.

Bei­de Netz­werk­ar­chi­tek­tu­ren wur­den mit und ohne gleich­zei­ti­ge Klas­si­fi­ka­ti­on in die Gelenks­ka­lie­rung implementiert.

* Um in der über­wach­ten Anlern­pha­se eine Dar­stel­lung der Ein­gangs- gegen­über den Aus­gangs­pa­ra­me­tern bereit­zu­stel­len, wur­den nume­ri­sche Simu­la­tio­nen ein­zel­ner Gelenk­kon­fi­gu­ra­tio­nen ange­wen­det, wel­che auf das jewei­li­ge Bewe­gungs­ver­hal­ten schlie­ßen lie­ßen. Dazu wur­den ähn­lich einer sta­tis­ti­schen Ver­suchs­pla­nung gleich­ver­teil­te, zufäl­lig erzeug­te Modell­kon­fi­gu­ra­ti­ons­pa­ra­me­ter gewählt, sodass auf jeg­li­che pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Spe­zi­fi­ka­ti­on reagiert wer­den konn­te und ein mög­lichst mini­ma­ler Simu­la­ti­ons­um­fang not­wen­dig war. Die Last-Win­kel-Kur­ve ergab sich dar­auf­hin aus der inkre­men­tel­len Aus­len­kung der Bewe­gungs­ele­men­te, sodass die resul­tie­ren­den Dreh­mo­men­te in einem Bereich von 0 bis 15° Dor­sal­ex­ten­si­on im Trai­nings­da­ten­satz bereit­stan­den. Mit den auf die­se Wei­se zur Ver­fü­gung ste­hen­den Daten wur­de anschlie­ßend die imple­men­tier­te Netz­werk­ar­chi­tek­tur ange­lernt und für jede Netz­werk­ar­chi­tek­tur eine auto­ma­ti­sche Hyper­pa­ra­me­ter­op­ti­mie­rung ange­wen­det, die aus­ge­rich­tet auf die fest­zu­le­gen­den Hyper­pa­ra­me­ter (Lern- und Dro­pout-Rate, Opti­mie­rungs- und Ver­lust­funk­ti­on, Batch­grö­ße) und Netz­werk­spe­zi­fi­ka­tio­nen (Anzahl Hid­den-Lay­er, Akti­vie­rungs­funk­ti­on, Batch­nor­ma­li­sie­rung) die bes­ten Lern­pa­ra­me­ter ermittelte.

Fer­ner konn­te ein Soft­ware­pro­to­typ (Tool­box) umge­setzt wer­den, der alle Ver­fah­rens­schrit­te zur Fest­le­gung der Pati­en­ten­pa­ra­me­ter, der Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter­vor­her­sa­ge und der Aus­ga­be des kon­fi­gu­rier­ten Orthe­sen­ge­lenks bereit­stellt (Abb. 7).

Auf die­se Wei­se wird den Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­kern ermög­licht, schnell und ganz ohne Kennt­nis­se im Bereich digi­ta­ler para­me­tri­scher Kon­struk­ti­on pas­sen­de pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Bewe­gungs­ele­men­te (via Daten­ba­sis) aus­zu­wäh­len und zu erzeugen.

Über das Gra­phi­cal User Inter­face (GUI) des Soft­ware­pro­to­typs kön­nen die Tech­ni­ke­rin­nen und Tech­ni­ker zunächst die pati­en­ten­spe­zi­fi­schen Daten wie bio­me­tri­sche Daten, die jewei­li­gen Gelen­klas­ten und den Akti­vi­täts­grad fest­le­gen (Abb. 7a). Sodann wer­den die Kon­struk­ti­ons­pa­ra­me­ter durch das ein­ge­pfleg­te KNN vor­her­ge­sagt, eine Gelenk­kon­fi­gu­ra­ti­on auto­ma­tisch aus­ge­wählt und eine Abschät­zung zum Sicher­heits­fak­tor des jewei­li­gen Gelenks bei einer maxi­ma­len Dor­sal­ex­ten­si­on zurück­ge­ge­ben (Abb. 7b). Die Anga­ben die­nen der Doku­men­ta­ti­on, der Über­prü­fung und einer unmit­tel­bar mög­li­chen Kor­rek­tur des aus­ge­wähl­ten pati­en­ten­in­di­vi­du­el­len Gelenks und des­sen Para­me­ter­kon­fi­gu­ra­ti­on. Abschlie­ßend kön­nen das Orthe­sen­ge­lenk als STL-Datei sowie das Kon­fi­gu­ra­ti­ons­pro­to­koll zur wei­te­ren Model­lie­rung der Gesamt­or­the­se sowie zur Fer­ti­gung aus­ge­ge­ben werden.

Digi­ta­le Prozesskette

Für die neu auf­ge­stell­te digi­ta­le Pro­zess­ket­te zur Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler Orthe­sen wur­den u. a. die Bewe­gungs­ele­men­te, die GUI für deren Gene­rie­rung und die digi­ta­le Model­lie­rung der Gesamt­or­the­se zusam­men­ge­führt. In Abbil­dung 8 wer­den die ein­zel­nen Pro­zess­schrit­te in zeit­li­cher Abfol­ge (von oben nach unten) und die ent­spre­chen­den Daten­for­ma­te aufgezeigt.

Ein Test­durch­lauf der neu­en Pro­zess­ket­te erfolg­te mit Hil­fe der ORD und erwies sich dabei als prak­ti­ka­bel und all­tags­taug­lich. So konn­te der kom­plet­te Ablauf inklu­si­ve des Soft­ware­pro­to­typs bzw. der indi­vi­du­el­len Gelenk­aus­wahl durch­lau­fen und posi­tiv bewer­tet wer­den. Belegt wur­de dies mit den schnel­len und pati­en­ten­freund­li­chen 3D-Scans, wodurch der Pati­ent weni­ger belas­tet wird und die bis­her nur hän­disch zu fer­ti­gen den Posi­tiv­mo­del­le nun direkt nach dem Scan per CAD gene­riert wer­den kön­nen. Die dar­auf­fol­gen­den digi­ta­len Pro­zess­schrit­te zur Model­lie­rung der Gesamt­or­the­se kön­nen mit einer vor­an­ge­hen­den Ein­wei­sung und der intui­tiv gestal­te­ten Soft­ware vom Anwen­der bzw. von der Anwen­de­rin adäquat durch­ge­führt wer­den. Die anschlie­ßen­de Fer­ti­gung wird an eine exter­ne Dienst­leis­tung über­ge­ben und erspart den Tech­ni­ke­rin­nen und Tech­ni­kern somit wei­te­re Bear­bei­tungs­zeit. Eine ent­spre­chen­de Vor­be­rei­tung des CAD-Modells der Orthe­se für die addi­ti­ve Fer­ti­gung kann in Abspra­che mit dem Dienst­leis­ter bzw. der Dienst­leis­te­rin erfol­gen. Der Tech­ni­ker bzw. die Tech­ni­ke­rin über­nimmt wei­ter­hin wie gewohnt die manu­el­le Auf­nah­me und Digi­ta­li­sie­rung der Pati­en­ten­da­ten (Para­me­ter) zu Beginn des Pro­zes­ses sowie die fina­le Über­prü­fung der fer­ti­gen Orthe­se am Pati­en­ten bzw. an der Patientin.

Ins­ge­samt ermög­licht die hier vor­ge­stell­te eigens ent­wi­ckel­te Pro­zess­ket­te bereits jetzt eine adäqua­te prak­ti­sche Umset­zung mit Poten­zi­al zur Opti­mie­rung. Zusätz­lich sind jeg­li­che Schrit­te, u. a. durch die Digi­ta­li­sie­rung, sehr gut zu doku­men­tie­ren und somit auch repro­du­zier­bar, was nicht nur für die Pati­en­ten­ver­sor­gung, son­dern vor allem auch für eine Umset­zung nach medi­zi­ni­schen Richt­li­ni­en und Regu­la­ri­en (MDR) vor­teil­haft ist. Des Wei­te­ren bie­tet der neue Her­stel­lungs­pro­zess inklu­si­ve der fer­ti­gen Orthe­se (als ers­ter Pro­to­typ der Neu­ent­wick­lung) nach aktu­el­lem Kennt­nis­stand eine hohe Wirt­schaft­lich­keit, da die Her­stel­lungs­kos­ten ver­gleich­bar mit denen der tra­di­tio­nel­len Vor­ge­hens­wei­se und einer übli­chen Orthe­se sind. An Plä­nen, um das Gesamt­kon­zept kom­mer­zi­ell zugäng­lich zu machen, soll eben­falls zukünf­tig gear­bei­tet werden.

Fazit und Ausblick

Im Ergeb­nis des Pro­jek­tes konn­te mit Hil­fe der vor­ge­stell­ten The­men­fel­der, Werk­zeu­ge und Metho­den sowie der dar­aus erfolg­ten prak­ti­schen Umset­zung von neu­en last­an­ge­pass­ten, pati­en­ten­spe­zi­fi­schen Bewe­gungs­ele­men­ten und eines eigens ent­wi­ckel­ten neu­ro­na­len Net­zes die gewünsch­te durch­gän­gig digi­ta­le Pro­zess­ket­te zur Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler Orthe­sen auf­ge­stellt bzw. kon­zi­piert werden.

Eben­so war es im Gesamt­pro­jekt mög­lich, eine kom­plett neu design­te Unter­schen­kel­or­the­se umzu­set­zen (Abb. 9b). Die vor­ge­stell­te Orthe­se wur­de bis­her nicht direkt am Pati­en­ten bzw. der Pati­en­tin getes­tet, son­dern vor­erst im Pro­jekt für eine Test­per­son ohne Erkran­kung model­liert und gefer­tigt. Die Bei­spiel­or­the­se inklu­si­ve der Gelen­ke wur­de also mit den ent­spre­chen­den spe­zi­fi­schen Para­me­tern der Test­per­son erstellt und anschlie­ßend durch nume­ri­sche Berech­nun­gen und prak­ti­sche Tests geprüft. Dies gilt sowohl für die tra­di­tio­nel­le als auch für die digi­ta­le Her­stel­lungs­wei­se. Sowohl das alte (Abb. 9a) als auch das neue Orthe­sen­de­sign konn­ten von der Test­per­son ange­zo­gen und wäh­rend des nor­ma­len Gan­ges erprobt wer­den (Abb. 9c). Unter­schie­de erga­ben sich zunächst hin­sicht­lich der Optik und der Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten (dor­sal, plant­ar) bzw. im kon­trol­lier­ten Last-Win­kel-Ver­lauf, wobei die neue Orthe­se in bei­den Punk­ten hervorstach.

Detail­lier­te Ergeb­nis­se der prak­ti­schen Tests der tra­di­tio­nel­len und der addi­tiv gefer­tig­ten Orthe­se mit­tels opti­scher sowie hap­ti­scher Mes­sun­gen (bzgl. Kraft, Biegung/Verformung) wäh­rend des Gehens wer­den aktu­ell noch aus­ge­wer­tet und ver­gli­chen. Dazu wur­de ein Orthe­sen­prüf­stand ent­wi­ckelt und umge­setzt sowie das Mess­sys­tem „ARAMIS“ angewendet.

Vor­ab wur­den ver­gleich­ba­re nume­ri­sche Simu­la­tio­nen mit Hil­fe der Soft­ware „Aba­qus“ anhand der Bei­spiel­or­the­se von der Pro­fes­sur NEFM durch­ge­führt (wie bereits bei der Gelenk­si­mu­la­ti­on). Dazu wur­den sowohl die tra­di­tio­nel­le als auch die addi­tiv gefer­tig­te Orthe­se mit dem opti­schen Mess­sys­tem „ATOS“ gescannt und in jeweils digi­ta­le flä­chen­rück­ge­führ­te CAD-Model­le über­führt (Abb. 1). Anschlie­ßend wur­den die­se unter glei­chen Bedin­gun­gen nume­risch berech­net und ein­an­der gegen­über­ge­stellt. Im Ergeb­nis konn­te fest­ge­stellt wer­den, dass bei­de Orthesen(-gelenke) min­des­tens den glei­chen Bewe­gungs­um­fang in der Dor­sal­ex­ten­si­on zulas­sen. Unter­schie­de erga­ben sich dage­gen im Ver­lauf der Last-Win­kel-Kur­ven und somit im Bie­ge­ver­hal­ten: Wäh­rend die tra­di­tio­nel­le Orthe­se direkt nach der Last­ein­lei­tung nahe­zu sprung­haft ihre maxi­ma­le Aus­len­kung erreicht, erlaubt die neue, addi­ti­ve Orthe­se einen kon­trol­lier­ten Anstieg der Kur­ve und ein Abstop­pen der Aus­len­kung bzw. ein Ver­stei­fen im gewünsch­ten Exten­si­ons­be­reich. Somit kann ein natür­li­che­res und somit gewünsch­tes Gang­bild des Pati­en­ten erzielt werden.

Bei der Ent­wick­lung des Bewe­gungs­ele­men­tes ist zudem her­vor­zu­he­ben, dass das vor­ge­stell­te neue Gelenk eine Bewe­gung und eine Ein­stell­bar­keit in der Plant­ar­fle­xi­on zulässt. Bei­des war mit den bis­he­ri­gen, tra­di­tio­nel­len Orthe­sen nicht mög­lich. Dies unter­stützt Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zusätz­lich in ihrem Gang­ver­lauf und könn­te zu einer bes­se­ren Last­ver­tei­lung wäh­rend des Gehens inner­halb der Orthe­se ver­hel­fen. Aller­dings wur­de die­se Gelenk­be­we­gung im Unter­schied zur Dor­sal­ex­ten­si­on noch nicht aus­rei­chend durch Simu­la­tio­nen oder gar prak­ti­sche Tests unter­sucht. Es wird jedoch davon aus­ge­gan­gen, dass dies im glei­chen Umfang prak­ti­ka­bel ist, da der geo­me­tri­sche Ursprung iden­tisch ist und die Test­per­son die­se Bewe­gung mit der neu­en Orthe­se bereits aus­füh­ren konn­te. Auch die Wech­sel­wir­kung der Ein­stel­lung von Dor­sal­ex­ten­si­ons- und Plant­ar­fle­xi­ons­win­kel inner­halb der Gelenk­geo­me­trie gilt es wei­ter­füh­rend zu betrach­ten. In jedem Fall ermög­licht das Bewe­gungs­ele­ment durch die Unter­stüt­zung bei­der Bewe­gungs­rich­tun­gen ein deut­lich umfang­rei­che­res und natür­li­che­res Gang­bild und bie­tet zudem ein wei­te­res enor­mes Ent­wick­lungs­po­ten­zi­al. Dies soll zukünf­tig wei­ter­ver­folgt werden.

Als wich­ti­ge Aspek­te für die Zukunft kön­nen somit die Umset­zung einer noch detail­lier­te­ren Aus­ar­bei­tung des digi­ta­len Her­stel­lungs­pro­zes­ses, eine wei­te­re Opti­mie­rung des Designs der fina­len gesam­ten Unter­schen­kel­or­the­se, die wei­te­re Ent­wick­lung und Aus­füh­rung der Bewe­gungs­ele­men­te (ins­be­son­de­re bzgl. Bewe­gungs­um­fang und Daten­ba­sis) sowie die kom­mer­zi­el­le Zugäng­lich­keit des Gesamt­kon­zep­tes genannt werden.

Dank­sa­gung

Unse­ren Pro­jekt­part­ne­rin­nen und Pro­jekt­part­nern der Pro­fes­sur für Nume­ri­sche und Expe­ri­men­tel­le Fest­kör­per­me­cha­nik der TU Dres­den sowie der Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH gilt ein gro­ßer Dank für das gelun­ge­ne Pro­jekt und die stets sehr gute Zusammenarbeit.

Für die Autoren:
Dipl.-Ing. Lydia Mika
Wis­sen­schaft­li­che Mitarbeiterin
Pro­fes­sur für Vir­tu­el­le Produktentwicklung
Insti­tut für Maschi­nen­ele­men­te und Maschinenkonstruktion
Tech­ni­sche Uni­ver­si­tät Dresden
01062 Dres­den
lydia.mika@tu-dresden.de

Ansprech­part­ner Orthopädie-Technik:
Mar­kus Buro
Ortho­pä­die­tech­nik­meis­ter
Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH
Fet­scher­stra­ße 70
01307 Dres­den
mburo@ord.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Mika L, Hil­big A, Geb­hardt U, Hirsch F, Naa­ke P, Buro M, Holtz­hau­sen S, Paet­zold K. Digi­ta­li­sie­rung und 3D-Druck als Werk­zeu­ge in der Ortho­pä­die­tech­nik – Pro­zess­op­ti­mie­rung zur wis­sens­ba­sier­ten Kon­struk­ti­on und Aus­le­gung von Bewe­gungs­ele­men­ten für die Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler Orthe­sen. Ortho­pä­die Tech­nik, 2022; 73 (5): 56–64
  1. Mika L, et al. Kon­struk­ti­on und Aus­le­gung von Bie­ge­ge­len­ken für die Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler Unter­schen­kel­or­the­sen mit­tels addi­ti­ver Fer­ti­gung. In: Lach­may­er R, Rett­schlag K, Kai­er­le S (Hrsg.). Kon­struk­ti­on für die Addi­ti­ve Fer­ti­gung 2020. Han­no­ver: Sprin­ger, 2021: 57–73
  2. Rapid­ob­ject GmbH. Unse­re 3D-Druck­ver­fah­ren im Über­blick. https://www.rapidobject.com/de/Wissenswertes/3D-Druckverfahren_1173.html (Zugriff am 31.03.2022)
  3. Meh­di­pour F, et al. Aniso­tro­pic and rate-depen­dent mecha­ni­cal pro­per­ties of 3D prin­ted poly­ami­de 12 – A com­pa­ri­son bet­ween sel­ec­ti­ve laser sin­te­ring and mul­ti jet fusi­on. Results in Mate­ri­als, 2021; 11 (5): 100213. doi: 10.1016/j.rinma.2021.100213
Tei­len Sie die­sen Inhalt