Ein kla­res Ja für Uganda

Im Außendienst verbrachte er früher viel Zeit im Dienstwagen – heute arbeitet Dieter Scharwatt unter freiem Himmel und möchte das nicht mehr missen. Auch für das Interview nahm der Orthopädietechnik-Meister nicht auf einem Bürostuhl Platz, sondern draußen vor grüner, sonniger Kulisse. Während manch anderer mit Anfang 60 vielleicht schon an die Rente denkt, brach Scharwatt 2021 zu neuen Ufern auf, und zwar nach Afrika. Hier ist der 63-Jährige seitdem als Werkstattleiter des Vereins Pro Uganda tätig. Ein Schritt, den er, wie er sagt, vielleicht schon früher hätte gehen sollen.

Vie­le Jah­re war Schar­watt beim Hilfs­mit­tel­her­stel­ler Otto­bock tätig, zunächst zwei Jah­re im ver­käu­fe­ri­schen Bereich, dann für 13 Jah­re im Tech­ni­schen Außen­dienst mit beson­de­rem Schwer­punkt auf Pro­the­tik obe­re Extre­mi­tät. „Mit Ende 50 denkt man sich: Wo geht die Rei­se hin?“, frag­te er sich damals und ent­schloss sich 2016 dazu, die Zel­te in der Nähe sei­ner Hei­mat in Lud­wigs­ha­fen bei Ortho­pä­die-Tech­nik Brun­ner auf­zu­schla­gen – aus fami­liä­ren Grün­den und mit dem Wunsch, wert­vol­le Lebens­zeit nicht mehr auf der Stra­ße zu ver­lie­ren. Die Ent­schei­dung für Afri­ka fiel nach vier Jah­ren dann recht schnell, als nach der Heim­rei­se von Schar­watts Vor­gän­ger Aaron Bre­mer 2020 ein Nach­fol­ger in Ugan­da gefun­den wer­den muss­te. Eine Lücke hin­ter­ließ Schar­watt dafür jedoch in Deutsch­land: Im Novem­ber steht der nächs­te Besuch sei­ner Frau an. Und die „Ver­hand­lun­gen“ lau­fen, dass künf­tig bei­de in Ugan­da ihr neu­es Zuhau­se finden.

Anzei­ge

Heu­te, ein­ein­halb Jah­re nach dem Umzug: War es die rich­ti­ge Ent­schei­dung zu gehen? „Ja, ein kla­res Ja“, betont Schar­watt. „Das war und ist eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit.“ Als Back­pa­cker ent­wi­ckel­te er früh ein Fai­ble für Afri­ka, kam spä­ter durch Vor­trä­ge an der Saal­burg­schu­le in Usingen/Taunus in Kon­takt mit dem Pro-Ugan­da-Ver­eins­vor­sit­zen­den Kars­ten Schulz und ver­brach­te dar­auf­hin 2019 eini­ge Wochen als Volon­tär in Ugan­da. Für ihn war klar: Wenn er im Ruhe­stand ist, will er sich lang­fris­tig ehren­amt­lich enga­gie­ren – und das soll­te dann frü­her pas­sie­ren als gedacht.

Ein Leben für den Beruf

„Ugan­da ist das schöns­te Land in Afri­ka, das ich bis­her bereist habe“, berich­tet Schar­watt und gerät dabei schnell ins Schwär­men. Hier herrscht ein für ihn – anfangs über­ra­schend – ange­neh­mes war­mes, nicht zu feuch­tes Kli­ma und statt auf gewohn­te Savan­ne blickt er auf viel Grün. „Mich fas­zi­nie­ren vor allem die Lebens­freu­de und die Zufrie­den­heit der Men­schen trotz der Armut. Mit weni­gen Din­gen glück­lich sein – davon kön­nen wir uns in Deutsch­land eine Schei­be abschnei­den“, ist sich Schar­watt sicher. Statt im Büro arbei­tet er heu­te im Frei­en, umge­ben von Son­ne und Wind und mit Patient:innen, die ihm mit gro­ßer Dank­bar­keit begeg­nen und eine weit­aus gerin­ge­re Erwar­tungs­hal­tung haben, als er es aus Euro­pa gewohnt ist. „Der All­tag ist nicht wirk­lich plan­bar, an Ter­mi­ne hält sich hier kei­ner“, sagt Schar­watt und lacht. „Man muss die deut­sche Men­ta­li­tät mit der ugan­di­schen ver­ei­nen. Die Ugan­der müs­sen etwas deut­scher wer­den für mich und ich muss mehr Ugan­der wer­den für sie.“ Gene­rell dre­he sich die Uhr in Ugan­da lang­sa­mer. Pri­vat habe ihn das ruhi­ger und gesün­der gemacht, ihn ent­schleu­nigt. Sein Sau­er­teig­brot backe er nun selbst, auch in der Käse­rei habe er sich schon ver­sucht. Und beruf­lich? „Ich habe die not­wen­di­ge Zeit, um alle Aspek­te, die man als Ortho­pä­die­tech­ni­ker braucht, auch die mensch­li­chen Aspek­te, zu beach­ten. Wie gehe ich mit Patient:innen um? Wie viel Zeit schen­ke ich ihnen? – Ich lebe hier für den Beruf und das tue ich ohne finan­zi­el­len Druck“, berich­tet er. „ Es gibt kein Erstat­tungs­sys­tem. Hier ent­schei­den wir als Tech­ni­ker vor Ort: Wie ver­sor­gen wir? Was ist der bes­te Weg? Und wie bekom­men wir die Ver­sor­gung finan­ziert?“ In der Regel lau­fe das über gespen­de­te Pass­tei­le oder über Spendenmittel.

Schar­watt betont noch­mals: „Ein gro­ßer Unter­schied zur Arbeit in Deutsch­land ist: Der Druck fällt weg. Ver­sor­gungs­druck, Zeit­druck bei Ver­sor­gun­gen sowie Druck im Hin­blick auf Wirt­schaft­lich­keit. All das spielt kei­ne Rol­le mehr.“ Das erin­nert ihn an sei­ne beruf­li­chen Anfän­ge, als alles deut­lich „locke­rer“ war. Doch die Bran­che habe sich im Lau­fe der Jahr­zehn­te mehr und mehr gewan­delt. „Hier in Ugan­da kannst du den Beruf so aus­le­ben, wie du es dir ideell vor­ge­stellt hast. Den Man­gel an Mate­ri­al und Tei­len, den man hat, gleicht das zehn­fach wie­der aus.“ Was Schar­watt bei der Arbeit in Ugan­da manch­mal zugu­te­kommt, ist sein Alter. „Ich kom­me aus einer ande­ren Gene­ra­ti­on. Unse­re hand­werk­li­chen Fähig­kei­ten waren zu Beginn der Aus­bil­dung auf Mate­ria­li­en wie Holz, Metall und ers­te Kunst­stof­fe fixiert. Das hilft mir heu­te sehr. Ich bas­te­le, baue und krie­ge Din­ge zum Lau­fen, da wür­den sich jün­ge­re Gene­ra­tio­nen viel­leicht schwe­rer tun.“

So schön Schar­watt die Idyl­le auch malt, er kennt auch die ande­ren Sei­ten des Lebens und Arbei­tens in Ugan­da. Sich lang­sam dre­hen­de Uhren? Der Betrieb muss trotz­dem am Lau­fen gehal­ten wer­den. Das Gieß­harz ist auf­ge­braucht? Am nächs­ten Tag ist mit einer Lie­fe­rung nicht zu rech­nen. Viel Zeit für die Patient:innen? Ja, aber die haben oft extrem schwe­re Schick­sa­le. Er erin­nert sich an eine Pati­en­tin, um die 80, vier­fach ampu­tiert und allein in einer Hüt­te lebend. Sie woll­te kei­ne neue Pro­the­se, son­dern einen Roll­stuhl, bis sich her­aus­stell­te: Ihre alte Pro­the­se pass­te nicht rich­tig. „Für sie war klar: Eine Pro­the­se muss weh tun“, erzählt Schar­watt. Sein Team über­zeug­te sie vom Gegen­teil. Eine ande­re Pati­en­tin lern­te er weni­ge Tage nach sei­ner Ankunft in Ugan­da ken­nen und behan­delt sie heu­te noch. Auf der Stra­ße vor der Werk­statt wur­de das Mäd­chen von einem Sam­mel­ta­xi über­fah­ren und erlitt ein Schä­del-Hirn-Trau­ma. „Du stehst in so einem Moment am Unfall­platz und weißt nicht, was du machen sollst. Es gibt kei­ne Regel­am­bu­lan­zen oder Kli­ni­ken. Das sind Momen­te, die einen belas­ten und prä­gen.“ Die Ankunft in Ugan­da war zudem geprägt von der Coro­na-Pan­de­mie. 2021 wur­den hier die Regeln ver­schärft und das Land war im Lock­down. Der Werk­statt­be­trieb durf­te zwar wei­ter­ge­führt wer­den, doch nur die Patient:innen aus der nahen Umge­bung konn­ten die­sen auch erreichen.

Inves­ti­ti­on in die Ausbildung

Als Werk­statt­lei­ter hat sich Die­ter Schar­watt eini­ge Zie­le gesetzt: Einen Schwer­punkt hat er auf die Aus­bil­dung der Mitarbeiter:innen gelegt, für die nun Schu­lun­gen nach ISPO Kate­go­rie 2 ange­bo­ten wer­den. Ein wei­te­res Pro­jekt, das Die­ter Schar­watt vor­an­trei­ben möch­te, dreht sich eben­falls ums The­ma Aus­bil­dung. Seit einem Jahr bie­tet der Ver­ein Semi­na­re für ein­hei­mi­sche Techniker:innen von ande­ren Werk­stät­ten an. Zudem wird eine Grup­pe von Lehr­kräf­ten aus Ugan­da qua­li­fi­ziert, mit der Absicht, dass die­se ihr Wis­sen anschlie­ßend wei­ter­ge­ben kön­nen. Stimmt die Bun­des­re­gie­rung zu, soll das Pro­jekt für drei wei­te­re Jah­re geför­dert werden.

„Schäf­te, die in Afri­ka gebaut wer­den, bestehen fast aus­schließ­lich aus Poly­pro­py­len“, erläu­tert Schar­watt die Hin­ter­grün­de für wei­te­re Ver­än­de­run­gen, die er anstrebt. „Wenn man mit moder­nen Tech­ni­ken arbei­ten möch­te, muss man ande­re Mate­ria­li­en ein­füh­ren.“ Beson­ders in sei­nem Fach­ge­biet, obe­re Extre­mi­tät, sto­ße der OTM häu­fig an Gren­zen. In Deutsch­land kam er unpro­ble­ma­tisch an die Tei­le, in Ugan­da ist die pas­sen­de 70.000-Euro-Armprothese dage­gen meist nicht im Spen­den­kar­ton zu fin­den. „Wir machen das Bes­te aus dem, was wir haben.“ Das lang­fris­ti­ge Ziel: eine qua­li­ta­ti­ve Anpas­sung an euro­päi­sches Niveau, sowohl im Hin­blick auf Mate­ria­li­en als auch im Hin­blick auf die Qua­li­tät der Ver­sor­gung. Geplant ist zudem, dass künf­tig Phy­sio- und Ergo­the­ra­pie eta­bliert wer­den. Bis­lang wur­de der Bereich ledig­lich durch Volontär:innen abgedeckt.

Nicht sel­ten kom­men Patient:innen ohne vor­he­ri­gen Arzt­be­such und mit nicht ver­sorg­ba­rem Stumpf in die Werk­statt. Viel ver­spricht sich Schar­watt daher von der Part­ner­schaft mit Ando – modu­lar aid e. V. Im rund 100 Kilo­me­ter ent­fern­ten Jin­ja hat der Ver­ein ein Hos­pi­tal errich­tet, in dem aus Euro­pa ein­ge­flo­ge­ne Ärzt:innen Ope­ra­tio­nen wie bei­spiels­wei­se Stumpf­kor­rek­tu­ren durch­füh­ren. „In Ver­bin­dung mit der neu­en The­ra­pie­ab­tei­lung arbei­ten wir dann auf ganz ande­rem Niveau“, ist der 63-Jäh­ri­ge überzeugt.

Gro­ße Zie­le – und geht es dann irgend­wann zurück ins Büro oder ins Dienst­fahr­zeug? Für Die­ter Schar­watt aktu­ell undenk­bar. Er ist ange­kom­men in Ugan­da. Wie sein Sau­er­teig­brot brauch­te auch er dafür nur ein war­mes Ört­chen, Ruhe und etwas Zeit zum Aufgehen.

Pia Engel­brecht

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