Viele Jahre war Scharwatt beim Hilfsmittelhersteller Ottobock tätig, zunächst zwei Jahre im verkäuferischen Bereich, dann für 13 Jahre im Technischen Außendienst mit besonderem Schwerpunkt auf Prothetik obere Extremität. „Mit Ende 50 denkt man sich: Wo geht die Reise hin?“, fragte er sich damals und entschloss sich 2016 dazu, die Zelte in der Nähe seiner Heimat in Ludwigshafen bei Orthopädie-Technik Brunner aufzuschlagen – aus familiären Gründen und mit dem Wunsch, wertvolle Lebenszeit nicht mehr auf der Straße zu verlieren. Die Entscheidung für Afrika fiel nach vier Jahren dann recht schnell, als nach der Heimreise von Scharwatts Vorgänger Aaron Bremer 2020 ein Nachfolger in Uganda gefunden werden musste. Eine Lücke hinterließ Scharwatt dafür jedoch in Deutschland: Im November steht der nächste Besuch seiner Frau an. Und die „Verhandlungen“ laufen, dass künftig beide in Uganda ihr neues Zuhause finden.
Heute, eineinhalb Jahre nach dem Umzug: War es die richtige Entscheidung zu gehen? „Ja, ein klares Ja“, betont Scharwatt. „Das war und ist eine Herzensangelegenheit.“ Als Backpacker entwickelte er früh ein Faible für Afrika, kam später durch Vorträge an der Saalburgschule in Usingen/Taunus in Kontakt mit dem Pro-Uganda-Vereinsvorsitzenden Karsten Schulz und verbrachte daraufhin 2019 einige Wochen als Volontär in Uganda. Für ihn war klar: Wenn er im Ruhestand ist, will er sich langfristig ehrenamtlich engagieren – und das sollte dann früher passieren als gedacht.
Ein Leben für den Beruf
„Uganda ist das schönste Land in Afrika, das ich bisher bereist habe“, berichtet Scharwatt und gerät dabei schnell ins Schwärmen. Hier herrscht ein für ihn – anfangs überraschend – angenehmes warmes, nicht zu feuchtes Klima und statt auf gewohnte Savanne blickt er auf viel Grün. „Mich faszinieren vor allem die Lebensfreude und die Zufriedenheit der Menschen trotz der Armut. Mit wenigen Dingen glücklich sein – davon können wir uns in Deutschland eine Scheibe abschneiden“, ist sich Scharwatt sicher. Statt im Büro arbeitet er heute im Freien, umgeben von Sonne und Wind und mit Patient:innen, die ihm mit großer Dankbarkeit begegnen und eine weitaus geringere Erwartungshaltung haben, als er es aus Europa gewohnt ist. „Der Alltag ist nicht wirklich planbar, an Termine hält sich hier keiner“, sagt Scharwatt und lacht. „Man muss die deutsche Mentalität mit der ugandischen vereinen. Die Ugander müssen etwas deutscher werden für mich und ich muss mehr Ugander werden für sie.“ Generell drehe sich die Uhr in Uganda langsamer. Privat habe ihn das ruhiger und gesünder gemacht, ihn entschleunigt. Sein Sauerteigbrot backe er nun selbst, auch in der Käserei habe er sich schon versucht. Und beruflich? „Ich habe die notwendige Zeit, um alle Aspekte, die man als Orthopädietechniker braucht, auch die menschlichen Aspekte, zu beachten. Wie gehe ich mit Patient:innen um? Wie viel Zeit schenke ich ihnen? – Ich lebe hier für den Beruf und das tue ich ohne finanziellen Druck“, berichtet er. „ Es gibt kein Erstattungssystem. Hier entscheiden wir als Techniker vor Ort: Wie versorgen wir? Was ist der beste Weg? Und wie bekommen wir die Versorgung finanziert?“ In der Regel laufe das über gespendete Passteile oder über Spendenmittel.
Scharwatt betont nochmals: „Ein großer Unterschied zur Arbeit in Deutschland ist: Der Druck fällt weg. Versorgungsdruck, Zeitdruck bei Versorgungen sowie Druck im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit. All das spielt keine Rolle mehr.“ Das erinnert ihn an seine beruflichen Anfänge, als alles deutlich „lockerer“ war. Doch die Branche habe sich im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr gewandelt. „Hier in Uganda kannst du den Beruf so ausleben, wie du es dir ideell vorgestellt hast. Den Mangel an Material und Teilen, den man hat, gleicht das zehnfach wieder aus.“ Was Scharwatt bei der Arbeit in Uganda manchmal zugutekommt, ist sein Alter. „Ich komme aus einer anderen Generation. Unsere handwerklichen Fähigkeiten waren zu Beginn der Ausbildung auf Materialien wie Holz, Metall und erste Kunststoffe fixiert. Das hilft mir heute sehr. Ich bastele, baue und kriege Dinge zum Laufen, da würden sich jüngere Generationen vielleicht schwerer tun.“
So schön Scharwatt die Idylle auch malt, er kennt auch die anderen Seiten des Lebens und Arbeitens in Uganda. Sich langsam drehende Uhren? Der Betrieb muss trotzdem am Laufen gehalten werden. Das Gießharz ist aufgebraucht? Am nächsten Tag ist mit einer Lieferung nicht zu rechnen. Viel Zeit für die Patient:innen? Ja, aber die haben oft extrem schwere Schicksale. Er erinnert sich an eine Patientin, um die 80, vierfach amputiert und allein in einer Hütte lebend. Sie wollte keine neue Prothese, sondern einen Rollstuhl, bis sich herausstellte: Ihre alte Prothese passte nicht richtig. „Für sie war klar: Eine Prothese muss weh tun“, erzählt Scharwatt. Sein Team überzeugte sie vom Gegenteil. Eine andere Patientin lernte er wenige Tage nach seiner Ankunft in Uganda kennen und behandelt sie heute noch. Auf der Straße vor der Werkstatt wurde das Mädchen von einem Sammeltaxi überfahren und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. „Du stehst in so einem Moment am Unfallplatz und weißt nicht, was du machen sollst. Es gibt keine Regelambulanzen oder Kliniken. Das sind Momente, die einen belasten und prägen.“ Die Ankunft in Uganda war zudem geprägt von der Corona-Pandemie. 2021 wurden hier die Regeln verschärft und das Land war im Lockdown. Der Werkstattbetrieb durfte zwar weitergeführt werden, doch nur die Patient:innen aus der nahen Umgebung konnten diesen auch erreichen.
Investition in die Ausbildung
Als Werkstattleiter hat sich Dieter Scharwatt einige Ziele gesetzt: Einen Schwerpunkt hat er auf die Ausbildung der Mitarbeiter:innen gelegt, für die nun Schulungen nach ISPO Kategorie 2 angeboten werden. Ein weiteres Projekt, das Dieter Scharwatt vorantreiben möchte, dreht sich ebenfalls ums Thema Ausbildung. Seit einem Jahr bietet der Verein Seminare für einheimische Techniker:innen von anderen Werkstätten an. Zudem wird eine Gruppe von Lehrkräften aus Uganda qualifiziert, mit der Absicht, dass diese ihr Wissen anschließend weitergeben können. Stimmt die Bundesregierung zu, soll das Projekt für drei weitere Jahre gefördert werden.
„Schäfte, die in Afrika gebaut werden, bestehen fast ausschließlich aus Polypropylen“, erläutert Scharwatt die Hintergründe für weitere Veränderungen, die er anstrebt. „Wenn man mit modernen Techniken arbeiten möchte, muss man andere Materialien einführen.“ Besonders in seinem Fachgebiet, obere Extremität, stoße der OTM häufig an Grenzen. In Deutschland kam er unproblematisch an die Teile, in Uganda ist die passende 70.000-Euro-Armprothese dagegen meist nicht im Spendenkarton zu finden. „Wir machen das Beste aus dem, was wir haben.“ Das langfristige Ziel: eine qualitative Anpassung an europäisches Niveau, sowohl im Hinblick auf Materialien als auch im Hinblick auf die Qualität der Versorgung. Geplant ist zudem, dass künftig Physio- und Ergotherapie etabliert werden. Bislang wurde der Bereich lediglich durch Volontär:innen abgedeckt.
Nicht selten kommen Patient:innen ohne vorherigen Arztbesuch und mit nicht versorgbarem Stumpf in die Werkstatt. Viel verspricht sich Scharwatt daher von der Partnerschaft mit Ando – modular aid e. V. Im rund 100 Kilometer entfernten Jinja hat der Verein ein Hospital errichtet, in dem aus Europa eingeflogene Ärzt:innen Operationen wie beispielsweise Stumpfkorrekturen durchführen. „In Verbindung mit der neuen Therapieabteilung arbeiten wir dann auf ganz anderem Niveau“, ist der 63-Jährige überzeugt.
Große Ziele – und geht es dann irgendwann zurück ins Büro oder ins Dienstfahrzeug? Für Dieter Scharwatt aktuell undenkbar. Er ist angekommen in Uganda. Wie sein Sauerteigbrot brauchte auch er dafür nur ein warmes Örtchen, Ruhe und etwas Zeit zum Aufgehen.
Pia Engelbrecht
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