In China fing es an – zunächst so angenehm weit weg… Und plötzlich waren wir betroffen – wir? Mitten im Sättigungsmodus einer reichen Industriegesellschaft, diskutierend über Luxusprobleme und CO2. China war angekommen. Unser angeblich bestes und unfehlbares Gesundheitssystem wurde plötzlich auf die Probe – und in Frage gestellt. Und schon musste zielgerecht reagiert werden. Anfänglich noch wurden Warnungen von Importeuren für Atemmasken ignoriert, es könnten Engpässe in der Versorgung von Schutzausrüstungen entstehen. Viele Politiker und viele Aktionen. Voran dann doch Gesundheitsminister mit mutigen Entscheidungen und krisensicheren Auftritten – Respekt. Dennoch gelang kein bundeseinheitliches Handeln. Eines aber glückte: eine breite Verunsicherung der Bevölkerung durch verschiedene politische Akteure und zu viele selbstdarstellende Auftritte. Sperre für Urlaubsreisende, Rückholen von Bundesbürgern aus Urlaubsregionen – mit oder ohne Quarantäne? Ausgangssperre oder Kontaktsperre? Einkaufen ja, aber nur mit einem nicht desinfizierten Einkaufswagen? Abstand halten, aber keine Desinfektionsmittel an den Supermarktkassen. Bemühungen um Schadensbegrenzung mit mangelnder Konsequenz. Lorenz Caffier, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, handelte dann klar zielorientiert und mutig, indem er Urlaubsreisen in sein Bundesland verbot und setzte dies dann auch mit straffen Polizeikontrollen durch. Somit wurde zumindest zielsicher die mögliche schnelle überregionale Verbreitung der Pandemie verhindert.
Ein hochentwickeltes Medizinsystem auf dem Krisen-Prüfstand
Wie schnell mussten wir allerorts feststellen, dass unser in den letzten Jahren nach dem Kalten Krieg entwickeltes Sicherheitsempfinden uns verleitet hatte, unsere Reserven an Schutzausrüstungen und Fachpersonal DRG-orientiert einzuschmelzen. Jetzt stellen sich die Fragen: Schutzmasken und Kittel sparen und wiederverwenden, selbst nähen oder auf chinesische Nachlieferungen warten? Ein System voller Einzelakteure zwischen Ernüchterung und Hilflosigkeit, Fachkompetenz und Aktionismus. Wie schmerzhaft mussten wir merken, dass wir einfach grob fahrlässig zu wenig auf eine derartige Krise vorbereitet waren. Wie deutlich wurde klar, dass die etablierte Kommerzialisierung des Gesundheitswesens nicht nur Effektivität, sondern selbst das höchste Risiko für Krisenfälle bedeutet? Wie glücklich können wir sein, dass dieses Corona-Virus erheblich weniger vital bedrohend war als zunächst angenommen. Das mühsame Umrüsten von elektiv verplanten Krankenhausbetten in Intensivbetten gelang dann vielerorts doch nachdem interessante finanzielle Anreize geschaffen worden waren. Man merkte erst, wie wenig man vorbereitet war, privatisierten Krankenhausbetrieben eine krisenbezogene Umorganisation vorzuschreiben. Der Spagat zwischen Privatisierung und Katastrophenschutz wird bleiben. Und dann wurde im weiteren Verlauf auch eine lukrative Pauschale für jedes nicht belegte elektive Bett versprochen, m Reserven für den Krisenmodus zu bilden. Wie groß war die Versuchung, dann doch noch einzelne elektive „schnelle“ Fälle durch den Betrieb zu schleusen. Schwierig wurde es für die offenbar mehr gefährdeten älteren Patienten, die aber dann als deklarierte Risikogruppe eher den Arztbesuch mieden. Aber so manche Krankenhaus- Vorstände wurden im Krisenmodus über engmaschig verschickte, elektronische Handbriefe und Krisensitzungen zu organisatorischen Helden – in der Versuchung, ihre zuvor geschaffenen Defizite in der Vorbereitung einer möglichen Gesundheitskrise zu überspielen. Gut funktionierte plötzlich, was lange trotz technischer Verfügbarkeit nicht ausgeschöpft wurde – Videoberatung von Patienten und elektronische Übermittlung von Daten. Wie schön für einzelne, dass der Krankenschein einfach so ins Haus kam, ohne ärztliche Untersuchung.
Die Hilfsmittel-Branche im Krisenmodus
Wie denn nun die Bevölkerung zu Hause im Rahmen der Kontaktsperre mit notwendigen Hilfsmitteln versorgen? Wie kommen Leistungserbringer in die Kliniken? Mit oder ohne Passierschein? Wie kann das Entlassungs-Management aufrecht erhalten bleiben? Es entstanden rechtliche Unsicherheiten bei jenen Leistungserbringern, die gesetzlich versicherten Patienten mit Hilfsmitteln versorgen. Auch für sie galt: Nur noch notwenige Versorgungen. Für ein Gesundheitshandwerk, das an allen Schnittstellen zwischen Kliniken, häuslicher Versorgung, Ergo- und Physiotherapie agiert, bedeutete die Aufrechterhaltung ihrer Verpflichtung zur Leistungserbringung gegenüber Krankenkassen und Patienten einen nie da gewesenen Kraftakt. So sank der Bedarf durch die reduzierten Klinikbetriebe und die reduzierten Verordnungen der niedergelassenen Ärzte erheblich. Wie in den Kliniken wurde zunächst durch Abbau von Überstunden und Resturlauben reagiert. Aber vielerorts halfen nur noch die Kurzarbeit und die Hoffnung auf die klugerweise von der Bundesregierung versprochenen Rettungsschirm und Krisen-Pauschalen. Letztere warteten – im Gegensatz zu Italien – glücklicherweise aufgrund guter Bilanzen des Vorjahres in der Bundeskasse auf ihre sinnvolle und neidfreie Verteilung. Aber diese einmaligen Zahlungen ließen dennoch große Löcher in den Kassen der kleinen Betriebe der Branche; denn Löhne und Mieten mussten zugleich weiterbezahlt werden und die Patientenversorgung aufrechterhalten bleiben. Die Betriebe mussten geöffnet bleiben – komme was wolle. Auch dies eine offene Flanke des Gesundheitssystems – dachten doch viele, dass das Gesundheitshandwerk, weil überwiegend als KMU organisiert, für das GKV-System nachrangig sei. Pfiffige Betriebe reagierten mit getrennten Arbeitsschichten für die Herstellung individueller Produkte, schulten in enger Zusammenarbeit mit Krankenhausbetrieben ihre Mitarbeiter in Hygiene nach, beschafften sich rechtzeitig Schutzmasken und lieferten in die Praxis sowie zu Patienten nach Hause.
Nachwehen nach der Krise?
Was wird bleiben? Es wird sich zeigen, ob wir gelernt haben werden, dass wir in unserem hochentwickelten Wirtschaftssystem dennoch über ausreichende Reserven verfügen müssen – zumindest in den Universitätsklinika, in weiteren staatsgeführten Krankenhäusern und für fest in das GKV-System integrierte Leistungserbringer. Reserven werden benötigt – an Material wie Schutzausrüstungen – aber auch an Medikamenten und geschulten Personal, zumindest an staatlich geführten Kliniken. Was wäre denn bei hohen Ausfallraten von Pflegepersonal und Ärzten passiert? Müssen nicht generell noch mehr Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte intensivtherapeutisch fit gehalten werden für den intensivmedizinischen Notfall? Wie schnell haben wir gemerkt, dass unsere ständig überarbeiteten Tarife für Ärzte – ohne längere Diskussion – auch mal aus dem bequemeren Modus in den Krisenmodus geschaltet werden müssen. Hoffentlich wird in den politischen Köpfen ankommen, dass Krisenmaßnahmen noch besser bundeseinheitlich abgestimmt werden müssen, anstatt sie schnell aus dem Holster zu ziehen. Unsere Hersteller aus der Hilfsmittelbranche werden an den finanziellen Belastungen noch zu knabbern haben. Die Versorgungsbetriebe der Branche werden beweisen können, dass sie schnell und wendig reagieren können. Wir alle werden danach verstanden haben, welch hohe Rolle sie als Fachbetriebe mit hoher Mobilität auch in Krisensituationen für die hochwertige, breite Versorgung der Bevölkerung einnehmen.
Wolfram Mittelmeier