130 Teilnehmer, vom Geschäftsführer bis zum Werkstattleiter, geben mit ihren Antworten einen Einblick in den digitalen Wandel des Handwerks bei der Anfertigung von Produkten bis hin zur Bereitschaft der Beschäftigten, sich auf neue Arbeitsprozesse einzulassen. Nadja Singer fasst die gewonnenen Erkenntnisse im folgenden Interview zusammen:
OT: Wer bestimmt nach Ihren Ergebnissen maßgeblich das Tempo der Digitalisierung in der Branche?
Nadja Singer: In den vergangenen Jahren beobachten wir technologische Disruptionen. Der vereinfachte Zugang zu innovativen hoch-performanten Scannern und die beeindruckenden Entwicklungen von industriellen 3D-Druck-Anlagen erhöhen die Markt-Attraktivität für die Orthopädietechnik-Industrie. Die treibende Kraft, die digitale Transformation im Betrieb umzusetzen, obliegt jedoch stets den Menschen. Sowohl Geschäftsführer als auch Mitarbeiter bestimmen hier gleichermaßen das Tempo. Beide tragen ebenso maßgeblich zum Erfolg bei.
OT: Auf welche Arbeitsbereiche im Versorgungsprozess fokussiert sich Ihre Umfrage und wie sind bis dato die Erfahrungswerte der Teilnehmer?
Singer: Die Umfrageergebnisse beziehen sich im Kern auf die potentielle Ablösung des Gipsabdruckes durch 3D-Scanner und intelligente Software-Applikationen. Konkret bedeutet das, dass die konventionellen Versorgungsschritte mittels innovativer Lösungen ersetzt werden. Dazu zählen die digitale Abdrucknahme der patientenindividuellen Körperform durch 3D-Scanner, die Korrektur der Körperformen und Konfiguration des individuellen Hilfsmittels innerhalb einer Online-Plattform sowie die maßgeschneiderte Anfertigung eines individuellen Hilfsmittels. Die Mehrheit der Teilnehmer hat bereits erste Berührungspunkte innerhalb der digitalen Versorgungskette gemacht. Gleichzeitig ist der Weg hin zu einer vollständigen Implementierung in die Arbeitsabläufe in einem Sanitätshaus mehrheitlich noch weit.
OT: Welchen Herausforderungen sehen sich die Akteure im besonderen Maße ausgesetzt?
Singer: Sowohl die hohen Investitionskosten in Maschinen und Werkzeuge als auch in die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter werden als die größten Herausforderungen angesehen. Knapp die Hälfte aller Befragten befürchtet zusätzlich eine Entwertung des Handwerkes und ein Drittel gab an, dass es eine Überforderung mit der Technologie befürchtet. Diese Ergebnisse belegen die Komplexität, die bei einer Entscheidung zur Umstellung auf eine digitale Patientenversorgung mitbedacht werden sollte. Wichtig ist, dass die Entscheidungen über die Versorgungen weiterhin der Orthopädietechniker trifft und die Scan- und Softwarelösungen lediglich Werkzeuge sind.
OT: Welche Chancen und Hoffnungen verbinden die Befragten mit der Digitalisierung im eigenen Unternehmen?
Singer: Effizientere Prozesse und eine gesteigerte Passgenauigkeit sind die beiden dominanten Erwartungen, die an die Scan- und Software-Lösungen gestellt werden. Begleitet werden sie von dem Wunsch, durch mehr Zeit mit dem Patienten eine höhere Produktqualität zu erlangen. Die Geschäftsführer sehen zudem eine Chance, mit der digitalen Patientenversorgung dem anhaltenden Fachkräftemangel in der Branche entgegenzuwirken.
OT: Wie weit sind die Unternehmen in der Anwendung digitaler Technologien in den jeweiligen Anwendungsfeldern?
Singer: Das Level der Anwendbarkeit und Akzeptanz variiert innerhalb der Branche und indikationsspezifisch sehr stark. Die Bereiche Einlagen- und Korsettversorgungen sind Vorreiter in der digitalen Versorgungskette. Hingegen steht die Industrie z. B. in der Anwendung digitaler Versorgungsschritte für Neuro-Beinorthesen noch in den Anfängen.
OT: Was sind die Gründe, dass Fort- und Weiterbildungsoptionen zur Digitalisierung von den Unternehmen und Beschäftigten bis dato nur bedingt wahrgenommen werden?
Singer: Zwei Punkte stechen hier besonders hervor: Einerseits ist das Angebot für Fort- und Weiterbildungen für digitale Patientenversorgungen noch recht begrenzt. Außerdem muss der digitale Wandel vom gesamten Unternehmen gewollt und mitgetragen werden, damit auch wirklich nachhaltig die digitalen Abläufe im Versorgungsalltag angewandt werden. Das heißt, Geschäftsführung und Mitarbeiter gleichermaßen müssen den digitalen Wandel wollen und die Freiheit haben, neue Abläufe zu erlernen und zu implementieren. Ein solches Vorhaben erfordert wahre Teamarbeit. Wir unterstützen mit unserem iFab-Service-Programm interessierte Kunden entlang des Weges der digitalen Transformation, um gemeinsam die Digitalisierung der Orthopädietechnik-Industrie zu gestalten.
OT: Haben Sie abschließend eine Empfehlung, wie Betriebe ihr digitales Know-how ausbauen und die Beschäftigten für den technologischen Fortschritt begeistern können?
Singer: Viele Betriebe, die in kurzer Zeit den Einstieg in die digitale Versorgung erfolgreich in ihr Haus implementieren konnten, haben ein Team aus erfahrenen Orthopädietechnikern und jungen Berufseinsteigern gegründet, um gemeinsam den neuen digitalen Weg zu erkunden. Grundsätzlich sind Neugierde und Spielfreude, gepaart mit einer klaren Vision, gute Begleiter, um Innovationen erfolgreich umzusetzen.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
Zur Person: Nadja Singer studierte zunächst Internationale Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Marketing und Finanzen, ehe die gebürtige Berlinerin erste Berufserfahrungen in der Automobilbranche sammelte. Seit 10 Jahren ist sie nun bei Ottobock in verschiedenen Funktionen tätig. 2016 gründete Singer zusammen mit Kollegen im Duderstädter Unternehmen die „digitale Werkbank“ iFab mit einem Fokus auf die Weiterentwicklung der CAD/CAM-Technologien. Als Head of Digital Solutions & Business Acceleration (seit Juni 2020) verfolgt sie mit ihrem Team den Ansatz einer ganzheitlichen Betrachtung und Weiterentwicklung der digitalen Transformation in der Branche.
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