Bio­ni­sche Rekon­struk­ti­on der obe­ren Extremität

O. C. Aszmann
Die Bewegung myoelektrischer Armprothesen erfolgt bis dato über zwei transkutane Elektroden, die über zwei getrennt innervierte Muskelgruppen angesteuert werden. Die verschiedenen Steuerungsebenen werden durch Cokontraktionen dieser Muskeln angewählt und in der jeweiligen Ebene mit denselben Muskeln bedient. Ein harmonischer, dem natürlichen Bewegungsmuster entsprechender Bewegungsablauf ist mit diesem Mechanismus nicht möglich. Eine wesentliche Verbesserung wäre eine Ansteuerung der einzelnen Bewegungsebenen mit Signalen, die neuronal mit dem natürlichen Bewegungsablauf übereinstimmen. Technisch sind Prothesen mit sechs Steuerungsebenen seit Kurzem realisiert. Ziel ist es, einzelne Stammnerven wie den Nervus musculocutaneus, Nervus radialis, Nervus axillaris, Nervus medianus und Nervus ulnaris aus dem proximalen Armnervengeflecht herauszulösen und an verbliebene Nervenäste von stammnahen Muskeln zu transferieren. Als Zielmuskeln würden sich alle Muskeln der Rotatorenmanschette und Pectoralis major/minor anbieten. Diese Muskeln würden schließlich entsprechend der Aktivität der Spendernerven kontrahieren und über transkutane Elektroden die Prothese führen. In diesem Artikel wird das Konzept der „bionischen Rekonstruktion“ erläutert und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten bei der Behandlung von schweren Extremitätenverletzungen dargestellt.

Der Ver­lust einer Hand bzw. eines Armes oder deren Funk­ti­ons­tüch­tig­keit bedeu­tet für jeden Men­schen einen gewal­ti­gen Ein­schnitt in sei­ner per­sön­li­chen Lebens­ge­schich­te. Die ver­lo­re­ne kör­per­li­che Inte­gri­tät, der Ver­lust von all­ge­mei­nen und spe­zi­fi­schen Hand­fer­tig­kei­ten, aber vor allem der Ver­lust der per­sön­li­chen Unab­hän­gig­keit, sind für die betrof­fe­nen Men­schen nur schwer zu ertra­gen. Der Traum, das Ver­lo­re­ne durch bio­lo­gi­sche und/oder tech­ni­sche Hilfs­mit­tel wie­der­her­zu­stel­len, beschäf­tigt jeden, der ent­we­der als Arzt oder Betrof­fe­ner damit kon­fron­tiert wird. Bio­lo­gisch besteht zumin­dest für den Hand­ver­lust die Mög­lich­keit der homo­lo­gen Hand­trans­plan­ta­ti­on. Für den Arm­ver­lust besteht die­se Opti­on auch. Sie ist jedoch aus vie­len Grün­den zur­zeit nicht sinn­voll. Somit bleibt für Arm­am­pu­tier­te nur die Mög­lich­keit der myo­elek­tri­schen Pro­the­se. Das gro­ße Pro­blem die­ser Pro­the­sen ist die sinn­vol­le Inte­gra­ti­on in das Kör­per­bild des Pati­en­ten. Das gilt sowohl für die moto­ri­sche Steue­rung als auch für die Pro­prio­zep­ti­on bzw. die spe­zi­fi­sche sen­si­ble Rück­mel­dung der Kraft­ent­wick­lung am End­or­gan – ein­fach aus­ge­drückt die „Kör­per­wahr­neh­mung und Steuerung“.

Dem Ziel, das bio­tech­no­lo­gi­sche Inter­face zu ver­bes­sern, gel­ten die Bemü­hun­gen in dem an der Wie­ner Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät neu gegrün­de­ten Chris­ti­an Dopp­ler Labor für Extre­mi­tä­ten­re­kon­struk­ti­on und Rehabilitation.

Neu­ro­mus­ku­lä­re Ein­hei­ten als Impulsgeber

Myo­elek­tri­sche Pro­the­sen der jet­zi­gen Gene­ra­ti­on wer­den meist über zwei trans­ku­ta­ne Elek­tro­den ver­blie­be­ner Mus­kel­stümp­fe ange­steu­ert. Bei Pati­en­ten mit trans­hu­me­ra­len Stümp­fen wer­den der Mus­cu­lus bizeps und tri­zeps, bei glen­oh­u­me­ra­len Stümp­fen wer­den meist der Mus­cu­lus pec­to­ra­lis major und latis­si­mus dor­si ver­wen­det. Mit die­sen bei­den Impuls­ge­bern kann der Pati­ent sowohl die Steue­rungs­ebe­ne wech­seln als auch in jeder Ebe­ne die jewei­li­ge Funk­ti­on mit den­sel­ben Mus­keln bedie­nen. Die Schwie­rig­keit ist natür­lich, dass ein und die­sel­be „Bewe­gung“ mit ver­schie­de­nen Funk­tio­nen der Pro­the­se belegt ist. Das erfor­dert vom Pati­en­ten eine größt­mög­li­che Kon­zen­tra­ti­on, da er die Pro­the­se nicht intui­tiv steu­ern kann. Eine wesent­li­che Ver­bes­se­rung ist eine Ansteue­rung der ein­zel­nen Bewe­gungs­ebe­nen mit Signa­len, die neu­ro­nal mit dem natür­li­chen Bewe­gungs­ab­lauf über­ein­stim­men. Tech­nisch sind seit Kur­zem auch Pro­the­sen mit sie­ben Steue­rungs­ebe­nen aus­ge­rüs­tet. Ziel ist es, die wesent­li­chen Arm­ner­ven wie Ner­vus mus­cu­lo­cu­ta­neus, Ner­vus radia­lis, Ner­vus media­nus und Ner­vus ulnaris aus dem pro­xi­ma­len Arm­ner­ven­ge­flecht her­aus­zu­lö­sen und an ver­blie­be­ne Ner­ven­äs­te von stamm­na­hen Mus­keln zu trans­fe­rie­ren, um so sinn­vol­le neu­ro­mus­ku­lä­re Ein­hei­ten zu schaf­fen, die als Impuls­ge­ber für eine moder­ne myo­elek­tri­sche Pro­the­se die­nen kön­nen (Abb. 1a – d). Als Ziel­mus­keln bie­ten sich zunächst die Mus­kel­grup­pen im Bereich des Ampu­ta­ti­ons­stump­fes an. Die­se Mus­keln füh­ren schließ­lich ent­spre­chend der Akti­vi­tät der Spen­der­ner­ven über trans­ku­ta­ne Elek­tro­den die Pro­the­se. Auf die­se Wei­se ist eine har­mo­ni­sche, intui­ti­ve, dem natür­li­chen Bewe­gungs­mus­ter ent­spre­chen­de Steue­rung gewähr­leis­tet, ohne dass der Pati­ent stän­dig zwi­schen den ver­schie­de­nen Steue­rungs­ebe­nen wech­seln muss.

Vor­aus­set­zung sind intak­te pro­xi­ma­le Mus­kel­grup­pen und ein weit­ge­hend unbe­schä­dig­tes pro­xi­ma­les Arm­ner­ven­ge­flecht mit der Mög­lich­keit, Spen­der­ner­ven ent­spre­chend topo­gra­phisch-ana­to­misch iso­lie­ren zu kön­nen. In der prä­ope­ra­ti­ven Pla­nungs­pha­se und in der post­ope­ra­ti­ven Ver­laufs­kon­trol­le wur­de gemein­sam mit der For­schungs- und Ent­wick­lungs­ab­tei­lung der Fir­ma Otto­bock ein detail­lier­tes Pro­ce­de­re aus­ge­ar­bei­tet, um mög­lichst sinn­vol­le Schal­t­ebe­nen zu schaf­fen, die Elek­tro­den­po­si­tio­nie­rung zu opti­mie­ren und die Pro­the­sen­an­bin­dung zu klä­ren (Abb. 2a u. b). Schließ­lich ist ein kom­ple­xes Reha­bi­li­ta­ti­ons­pro­gramm not­wen­dig, um dem Pati­en­ten ein opti­ma­les Ergeb­nis zu ermöglichen.

Je nach Ampu­ta­ti­ons­hö­he sind ver­schie­de­ne Ner­ven­trans­fers mög­lich, die die neu­ro­bio­lo­gi­sche Kon­takt­flä­che mit der Pro­the­se erwei­tern. Selbst auf trans­hu­me­ra­ler Ebe­ne sind durch kom­ple­xe neu­ro­mus­ku­lä­re Umord­nung vier bis sechs Signal­be­rei­che rea­li­sier­bar. Das Ent­schei­den­de ist eine detail­lier­te Kennt­nis der Ana­to­mie und der spe­zi­fi­schen intra­neu­r­a­len Topo­gra­phie, sodass ver­schie­de­ne Funk­ti­ons­ebe­nen auch auf limi­tier­tem Raum eta­bliert wer­den kön­nen und somit eine Steue­rung mit größt­mög­li­cher Intui­ti­on und Har­mo­nie mög­lich ist. Selbst in Situa­tio­nen, in denen unge­nü­gen­de Ziel­mus­ku­la­tur vor­han­den ist, kön­nen durch freie funk­tio­nel­le Mus­kel­trans­fers neue Myo­si­gna­le eta­bliert wer­den (Abb. 3a u. b).

Bio­ni­sche Funk­ti­on für funk­ti­ons­lo­se Extremität

Ein wei­te­res span­nen­des Betä­ti­gungs­feld der „bio­ni­schen Rekon­struk­ti­on“ ist die funk­ti­ons­lo­se obe­re Extre­mi­tät. Die­se kommt bei Pati­en­ten vor, die ent­we­der durch eine Ner­ven­schä­di­gung oder durch einen kri­ti­schen Ver­lust funk­tio­nel­ler Gewe­be einen irrever­si­blen Funk­ti­ons­ver­lust der Hand erlit­ten haben. Auch hier kön­nen oben genann­te Tech­ni­ken das bio­tech­no­lo­gi­sche Inter­face so ver­bes­sern, dass eine her­vor­ra­gen­de bio­ni­sche Hand­funk­ti­on erreicht wer­den kann. Bei man­chen Pati­en­ten sind selek­ti­ve Ner­ven­trans­fers, bei ande­ren freie funk­tio­nel­le Mus­kel­trans­fers und Ver­än­de­run­gen der ske­le­ta­len Struk­tu­ren not­wen­dig, um ein best­mög­li­ches Resul­tat zu errei­chen (Abb. 4a – c). Auf die­se Wei­se kön­nen selbst Pati­en­ten, die schon vor lan­ger Zeit einen sol­chen Scha­den erlit­ten haben, eine sinn­vol­le Hand­funk­ti­on wie­der­erlan­gen (Abb. 5a – c).

Reha­bi­li­ta­ti­on

Für ein opti­ma­les End­ergeb­nis ist ein mehr­stu­fi­ges Tech­Neu­ro­Re­ha­bi­li­ta­ti­ons­pro­gramm not­wen­dig (Tab. 1). Sechs Wochen nach der Ope­ra­ti­on beginnt eine spe­zi­el­le Phy­sio­the­ra­pie. Zu den Zie­len die­ser The­ra­pie zäh­len die För­de­rung der all­ge­mei­nen Fit­ness und Aus­dau­er, die Schu­lung der Bewe­gungs­öko­no­mie sowie ein Rumpf- und Gangtraining.

Je nach Rege­ne­ra­ti­ons­fort­schritt muss der Pati­ent sei­ne völ­lig neu­ge­ord­ne­te „neu­ro­bio­lo­gi­sche Land­schaft“ erkun­den. Die­se Erkun­dungs­rei­se soll­te unbe­dingt mit einem Fähr­ten­le­ser durch­ge­führt wer­den, der dem Pati­en­ten hilft, die neu­en Signa­le inter­pre­tie­ren zu kön­nen (Pat­ter­ning). Sobald der Pati­ent bestimm­te Signa­le einer ein­deu­ti­gen Funk­ti­on zuord­nen kann, müs­sen die­se gestärkt wer­den (Streng­thening). Die­ser Pro­zess ist eine kogni­ti­ve Lern­funk­ti­on, die vor allem die kor­ti­ka­len Bewe­gungs­zen­tren (Brod­man Area 4 und 6) trai­niert. Zudem ver­bes­sert er die Signa­le auf ter­mi­na­ler Ebe­ne und führt so zu aus­ge­reif­ten Myosignalen.

Der Pro­zess wird am bes­ten durch ver­schie­de­ne Feed­back­me­tho­den erleich­tert. So wer­den die Signa­le zu Beginn mit einem Com­pu­ter­pro­gramm ver­knüpft, das dem Pati­en­ten eine vir­tu­el­le Bewe­gungs­kon­trol­le ermög­licht. Neue „hap­ti­sche“ Pro­gram­me kön­nen so auch kom­ple­xe Bewe­gungs­ab­läu­fe trai­nie­ren (Vir­tu­al Fit­ting). Sobald der Pati­ent die­se Bewe­gun­gen ohne Pro­ble­me bewäl­tigt, wird die eigent­li­che Schaft­an­pas­sung und Pro­the­sen­ge­stal­tung vor­ge­nom­men (Pro­sthe­tic Fit­ting). Je nach Höhe der Ampu­ta­ti­on und Kom­ple­xi­tät der vor­her­ge­hen­den Ein­grif­fe, kann die­ser Pro­zess von sechs Wochen bis zu zwei Jah­ren dauern.

Sen­si­bi­li­tät für Pro­the­se und Patient

Zuletzt ist es das Anlie­gen des Wie­ner Labors, auch eine Art direk­te Sen­si­bi­li­tät zu errei­chen. Zu die­sem Zweck wer­den Haut­ner­ven im Stumpf­be­reich ent­we­der direkt an den Ner­vus media­nus oder auf höhe­rer Ebe­ne an die Wur­zel C6 ange­la­gert. Nach erfolg­ter Rege­ne­ra­ti­on emp­fin­det der Pati­ent in die­sen Haut­be­rei­chen ein­deu­ti­ge Area­le sei­ner Hand wie Dau­men und Zei­ge­fin­ger (Abb. 6a – d). Hier sind nicht nur eine vage Ober­flä­chen­sen­si­bi­li­tät, son­dern auch spe­zi­fi­sche Sin­nes­qua­li­tä­ten wie Tem­pe­ra­tur und Vibra­ti­ons­emp­fin­dung und eine detail­lier­te tak­ti­le Sen­si­bi­li­tät mög­lich. Damit gibt es eine neu­ro­bio­lo­gi­sche Grund­la­ge, um die Pro­the­se sinn­voll zu sen­si­bi­li­sie­ren. Die neu gewon­ne­ne Emp­find­sam­keit am Stumpf kann mit unter­schied­li­chen Rück­mel­de­sys­te­men gekop­pelt wer­den. Auch hier wird jedoch ein auf­wän­di­ges „TechNeuroRehabilitations“-Programm not­wen­dig sein, damit der Nut­zer den Arm wie sei­nen eige­nen wahr­neh­men kann.

Im All­ge­mei­nen kön­nen jun­ge Pati­en­ten die­se geis­ti­gen „Sprün­ge“ jedoch mit eini­ger Übung bewäl­ti­gen. Letzt­lich siegt, was ein­fach ist. Und der Autor ist über­zeugt, dass die oben dar­ge­stell­ten The­ra­pie­an­sät­ze vie­len Pati­en­ten hel­fen wer­den, um eine immer kom­ple­xer wer­den­de Tech­nik opti­mal zu nut­zen und damit wie­der ein Stück Kör­per­lich­keit zurück zu gewinnen.

Der Autor:
Univ. Prof. Dr. med. Oskar C. Aszmann
Lei­ter des Labors für Wiederherstellung
von Extremitätenfunktionen
Abtei­lung für Plas­ti­sche und
Wie­der­her­stel­len­de Chirurgie
Medi­zi­ni­sche Uni­ver­si­tät Wien
Wäh­rin­ger Gür­tel 18–20
A – 1090 Wien
oskar.aszmann@meduniwien.ac.at

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Lite­ra­tur
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Zita­ti­on
Aszmann OC. Bio­ni­sche Rekon­struk­ti­on der obe­ren Extre­mi­tät. Ortho­pä­die Tech­nik, 2013; 64 (6): S. 34–39
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