Einleitung
Patienten mit schlaffer Parese der Unterschenkelmuskulatur berichten von klinischen Symptomen wie Stolpern, Verspannungen und Verhärtungen der Oberschenkel- und Rückenmuskulatur, ein vorzeitiges Ermüden, bzw. eine Reduktion der maximal möglichen Gehstrecke und einer Reduktion der Fähigkeit, auf der Stelle stehen zu bleiben. Klinisch kann beim Stehen und Gehen eine abnorme Flexion in den großen Gelenken der unteren Extremität festgestellt werden, die als Kauerhaltung bzw. Kauergang bezeichnet wird. Diese Beobachtung veranschaulicht die funktionelle Bedeutung der Plantarflexoren. In der Literatur wird hier von einem „plantarflexion-knieextension couple“ gesprochen. Hiermit wird beschrieben, dass das von den Plantarflexoren erzeugte Drehmoment am oberen Sprunggelenk in Verbindung mit der Funktion des Fußes als Hebelarm am Kniegelenk ein extendierendes externes Drehmoment kompensiert. Die Plantarflexoren sind somit ein entscheidender Faktor für die Stabilität der aufrechten Haltung [8].
Anlass für nachfolgend dargelegte Untersuchung war die Tatsache, dass die oben beschriebenen Patienten häufig mit konfektionierten Fußheberorthesen versorgt werden. Diese Hilfsmittel haben in erster Linie das Versorgungsziel, das Stolpern zu verhindern, also die insuffizienten Dorsalextensoren zu kompensieren. Das Aufrichten der Gelenkkette und die Unterstützung des Abstoßens kann hingegen nicht ausreichend unterstützt werden.
Eine Lösungsmöglichkeit bietet die Versorgung mit individuell hergestellten dynamischen Ground Reaction Ankle Foot Orthesen (dGRAFOs). Hiermit sollen Kräfte so auf das Bein übertragen werden, dass eine korrigierende Beeinflussung der Gelenkmomente möglich wird, um Gelenkfehlstellungen zu kompensieren.
Die wesentlichen Merkmale einer GRAFO werden mit einer hohen Steifigkeit und einem exakten Aufbau definiert [5]. Malas kam in seiner Studie mit Spina bifida-Patienten zu dem Ergebnis, dass es sehr schwierig sei, die Variablen festzulegen, die für die Wirksamkeit einer Unterschenkelorthese für bestimmte klinische Indikationen prägend sind [13]. In der Vergangenheit sind verschiedene Meinungen über den korrekten Aufbau von GRAFOs dokumentiert. So beschrieb Saltiel 1969 seine Original-GRAFO mit der Einstellung eines kleinen Plantarflexionswinkels [14]. 1972 wurde von Glancy und Lindseth ein Winkel von 5° Dorsalflexion empfohlen [4]. Alimusaj et al. empfahlen bei der Verwendung von Karbonfedern in Orthesen bei Wadenparese einen neutralen Aufbau, der aber je nach Dynamik des Patienten variieren könne [1]. Bowers kam zu der Erkenntnis, dass der Winkel für jeden Patienten individuell sei und für die Feineinstellungen hier Doppelanschlaggelenke hilfreich seien [4].
Für Drewitz et al. ist das Wissen über den genauen OSG-Winkel unbedeutend. Hier wurde der Abstand der Wirkungslinie der vertikalen Bodenreaktionskraft („Belastungslinie“) zu den Drehachsen der großen Gelenke der unteren Extremität, insbesondere des Kniegelenkes, als ein wesentlicher Entscheidungsindikator für den Orthesenaufbau gesehen [6]. Owen beschrieb in ihrer Arbeit, dass für ein ideales Versorgungsergebnis nicht nur der Winkel der Orthese entscheidend ist, sondern der Schuh mit der Orthese zusammen eine funktionelle Einheit bildet. Durch die sinnvolle Gestaltung der Absatz- und Sohlenform könne die Versorgung individuell optimiert werden [15].
Zu bemerken ist, dass die bisher in der Literatur zu findenden GRAFOs per Definition als steife Orthesen beschrieben wurden. Wie den Abbildungen der Literatur jedoch zu entnehmen ist, waren sie überwiegend aus thermoplastischem Polypropylen im Tiefziehverfahren hergestellt worden. Somit ist zu vermuten, dass diese Orthesen aufgrund der Materialeigenschaft auch eine gewisse Flexibilität aufwiesen. Eine tatsächliche Versteifung des Orthesenvorfußes einer GRAFO bewirkt zwar eine Vergrößerung des Hebelarms und somit eine effektivere Streckung des Kniegelenkes, kann aber vom Patienten während der Abrollphase als hinderlich empfunden werden [9]. Unterschenkelorthesen, die aufgrund ihrer Materialeigenschaft bewusst eine gewisse Flexibilität bzw. Federspannung zeigen, werden teilweise auch als dynamische Orthesen bezeichnet [19]. Eine ganganalytische Studie mit 5 Spina bifida-Patienten [1] zeigte, dass eine AFO mit Karbonfeder im Vergleich zu einer Gelenkorthese eine verbesserte Sprunggelenkskinematik und stärkere Knieextension aufweist.
Die durchgeführte Untersuchung soll zur Beantwortung folgender für die Praxis wichtiger Fragen beitragen:
- Stellen dynamische GRAFOs, die nach der in dieser Arbeit beschriebenen Methode individuell hergestellt wurden, eine adäquate Versorgung für die oben genannte Patientengruppe dar?
- Können vergleichbare Ergebnisse auch mit einer vorkonfektionierten Orthese erzielt werden?
- Welche Rolle spielt der Orthesenaufbau?
Methoden
Das Patientenkollektiv setzte sich aus vier Männern zusammen. Die relevanten Einzeldaten sind in der Tabelle 1 aufgeführt. Die primäre pathologische Gemeinsamkeit bestand in der Insuffizienz der Unterschenkelmuskulatur. Das Muskelkraftniveau der fußhebenden und ‑senkenden Muskulatur lag, bis auf eine Ausnahme, unterhalb von Stufe 3, gemäß der Muskelfunktionsuntersuchung nach Janda [10]. Die Fußheber des linken Beins von Proband 2 hatten einen Muskelstatus von Stufe 3.
Allen Patienten war es weder möglich, in den Zehenstand zu gehen noch den Hackenstand durchzuführen. Es lagen keine relevanten Kontrakturen der Gelenke vor. Die Patienten waren im Durchschnitt seit 6 Jahren mit individuell angefertigten dGRAFOs versorgt.
Es wurden jeweils individuelle dGRAFOs hergestellt (MALMÖ-Technik, Ottobock-Servicefertigung D) und vorkonfektionierte Blue Rocker-Orthesen (Allard International, c/o Camp Scandinavia AB, SE) angepasst, sodass für jeden Patienten das Gehen in der Ebene in drei Situationen analysiert werden konnte: ohne Orthesen, mit individuellen Orthesen und mit vorkonfektionierten Orthesen. Es fanden auf einer 12 m langen Gehstrecke, mit selbst gewählter Geschwindigkeit, randomisiert vergleichende instrumentelle Ganganalysen statt:
- Kinematik: Vicon 460
- Kinetik: Kistler-Mehrkomponenten-Messplattformen
- Oberflächen-EMG: TeleMyo 2400T Noraxon
- Metabolischer Energieverbrauch (Sauerstoffrate): MetaMax® 3B, Cortex
Die Messungen des metabolischen Energieverbrauchs erfolgten auf einem Laufband, um eine konstante Gehgeschwindigkeit zu gewährleisten (Tab. 2).
Die Objektivierung des Stehens sowie die Justierung des Orthesenaufbaus erfolgte mit dem Statikmessgerät L.A.S.A.R. Posture (Ottobock, D). Für die Einschätzung der Messwerte wurden die Daten gesunder Gruppen genutzt (Abb. 1). Die optimierte Statik, sowohl in der Sagittalebene als auch in der Frontalebene, stellte die Grundlage der Versorgungsprozesse mit beiden Orthesen-Typen dar.
Im Anschluss an die Untersuchungen fand eine dreimonatige Nutzungsmöglichkeit der Blue Rocker-Orthesen statt, der eine Befragung über die gesammelten Alltagserfahrungen, die maximal zu erreichende Steh- und Gehdauer sowie über Schmerzen folgte.
Versorgungsprozess der individuellen dGRAFO
Die Herstellung begann mit der Gipsnegativabnahme unter Berücksichtigung der effektiven Absatzhöhe der später verwendeten Schuhe (Abb. 2). Es folgte die Modellierung der Gipspositive, auf denen dann aus thermoplastischem PET-Kunststoff Testorthesen gefertigt wurden. Neben der Kontrolle und Optimierung der Passform war das Hauptziel der Testorthesen, den Winkel des OSGs individuell einzustellen. Hierzu stand der Proband auf dem L.A.S.A.R. Posture. Mithilfe der Einstellschrauben an den Doppelanschlag-Knöchelgelenken der Testorthesen wurde der OSG-Winkel so justiert, dass sich die Belastungslinie mit dem physiologischen Mittelwert von ca. 15 mm anterior vom Kniedrehpunkt befand (Abb. 3). Im Anschluss folgte die dynamische Anprobe mit Nachjustierungen und Festlegung der Sohlenelastizität durch Beschleifen der Sohlenunterfläche.
Da die Winkelstellung des oberen Sprunggelenkes beim Hochgehen einer Schrägen sich von der beim Gehen auf der Ebene unterscheidet, wurde auch das Gehen auf einer Schrägen getestet. Es fand gegebenenfalls wiederum eine Nachjustierung des Sprunggelenkwinkels statt. Das Ziel war der Kompromiss zwischen den Situationen Stehen, Gehen auf der Ebene und der Schräge sowie dem Empfinden des Patienten und dem visuellen Eindruck des Orthopädie-Technikers von der beobachteten Ganganalyse sowie den Messungen der Statikanalyse.
Mithilfe der Testorthesen wurden im Anschluss die definitiven Gipsmodelle hergestellt, die mit Kork als Distanzmaterial für das spätere Innenpolster versehen wurden. Nach der Festlegung des Orthesenrandverlaufs, der Abrollkante, der Verschlussart und ‑richtung sowie der Elastizitätseigenschaften von Orthesenvor- und rückfuß wurden die Orthesen in der Ottobock-Servicefertigung hergestellt. Die letzten Arbeitsschritte bestanden aus der Montage der individuell hergestellten Fußbettung, dem Auskleiden der Orthese mit Frottee, dem Polstern der Tibia-Anlage mit Gelmaterial und der Anbringung der Verschlusstechnik. In Abbildung 4 ist exemplarisch eine fertig gestellte individuelle dGRAFO dargestellt.
Versorgungsprozess der vorkonfektionierten Blue Rocker-Orthese
Ein Beispiel einer vorkonfektionierten Blue Rocker-Orthese (Allard International, c/o Camp Scandinavia AB, SE) mit individuellen Modifikationen ist in Abbildung 5 zu sehen. Grundsätzlich fand die Auswahl der passenden Orthesengröße anhand der Schuhgröße des Patienten statt. Wie vom Hersteller empfohlen, wurde ein nächstgrößeres Orthesenmodell gewählt, wenn eine geringere Flexibilität der Orthese, bzw. mehr Hebellänge, erforderlich war (Tab. 3). Das Fußbett wurde auf dem gleichen Gipsmodell gefertigt wie das der individuellen dGRAFO und entsprechend auf die Fußsohle der Blue Rocker-Orthese geklebt. Die Anpassung des Unterschenkelschaftes geschah mittels vom Hersteller gelieferter Schaumstreifen oder, wenn erforderlich, zusätzlich durch individuell hergestellte Polster entlang beider Seiten der Tibiakante (siehe Tab. 3).
Für den Komfort sorgte die Auskleidung des dazugehörigen Soft-Kits [vergleiche auch 3]. Ausgehend von der effektiven Absatzhöhe von 1,5 cm wurde die Statik mit Ausgleichskeilen soweit wie möglich optimiert [vergleiche auch 2] (siehe Tab. 3). Die Entscheidungsparameter hierfür waren, wie oben erwähnt, die Messdaten der Statikanalyse mit dem L.A.S.A.R. Posture.
Aufgrund dieser hätte der Aufbau noch weiter hinsichtlich kniestreckender Wirkung der Orthese geändert werden müssen. Die Grenzen der Aufbauoptimierungen lagen zum einen in der Tatsache, dass die Patienten zum Teil mit höheren Vorfuß-Ausgleichskeilen gegen die Orthese höhere Widerstände aufbringen mussten, um nicht nach hinten zu fallen, und zum anderen in dem begrenzten Platzangebot im Vorfußbereich des Schuhwerks.
Ergebnisse
Statikmessung
Abbildung 6 zeigt einen Patienten auf dem L.A.S.A.R. Posture in den drei untersuchten Situationen mit den Mittelwerten der Gruppe. Hier fällt insbesondere in der Situation ohne Orthese die weit dorsal zum Kniedrehpunkt verlaufende Belastungslinie auf, was charakteristisch für die Patientengruppe in dieser Situation war. So sind gerade auch am Kniegelenk die Unterschiede im Vergleich sehr deutlich. Ohne Orthese lag die Belastungslinie im Mittel 74 mm dorsal vom Kniedrehpunkt. Der größte Abstand wurde mit 126 mm gemessen, der geringste Abstand dorsal vom Kniedrehpunkt lag bei 17 mm. Mit der individuellen dGRAFO verlagerte sich die Belastungslinie auf einen Wert von 8 mm im Mittel ventral vom Kniedrehpunkt. Mit der Blue Rocker-Orthese wurde hier ein Abstand von 1 mm dorsal dem Kniedrehpunkt gemessen.
Zeit-Distanz-Parameter
Die Gehgeschwindigkeit der vier Patienten betrug im Mittel ohne Orthese 1,01 m/s und erhöhte sich beim Gehen mit der individuellen Orthese auf 1,2 m/s und auf 1,18 m/s bei der Messung mit der Blue Rocker-Orthese. Der Mittelwert der Schrittlänge vergrößerte sich für beide Orthesen-Typen von 0,61 m ohne Orthese auf 0,7 m.
Gelenkwinkel in der Sagittalebene
In Abbildung 7 sind die Mittelwertkurven des OSG-Winkels in den drei untersuchten Situationen im Vergleich zur Normalkurve dargestellt. Grundsätzlich konnte in der Situation ohne Orthese von Beginn der mittleren Standphase bis zu Beginn der mittleren Schwungphase ein kleinerer Winkel (verstärkte Dorsalextension) im Vergleich zur Normal-Gruppe gemessen werden. Mit beiden Orthesen ließ sich diese abnorme Bewegung reduzieren. Während sich die individuelle dGRAFO insgesamt dem normalen Bewegungsablauf deutlicher näherte, ließ die Blue Rocker-Orthese einen etwas größeren Bewegungsumfang zu.
Am Verlauf des Kniewinkels (Abb. 8) konnte in der Situation ohne Orthese eine unphysiologische Knieflexion vom Beginn der mittleren Standphase bis zum Ende der Vorschwungphase festgestellt werden. Beide Orthesen wirkten hier in Richtung der physiologischen Knieextension. Das Extensionsmaximum vergrößerte sich um 2° mit der individuellen dGRAFO gegenüber der Blue Rocker-Orthese. Zu Beginn der mittleren Schwungphase war ohne Orthese im Vergleich zum Normalverlauf ebenfalls eine übermäßige Knieflexion zu erkennen. Mit beiden Orthesen konnte hier eine deutliche Reduktion dieser Auffälligkeit erreicht werden. Die individuelle dGRAFO näherte sich hier ebenfalls um 2° dem Normal-Bewegungsumfang gegenüber der Blue Rocker-Orthese.
Bei der Betrachtung der Mittelwertkurven des Oberschenkelsegmentwinkels (weitestgehend identisch mit Hüftflexionswinkel) in Abbildung 9 fiel ohne Orthese von Beginn der mittleren Standphase bis zur Schwungphase eine verstärkte Flexion auf. Das gleiche gilt für die zweite Hälfte der Schwungphase. Das Extensionsmaximum zu Beginn der Vorschwungphase erhöhte sich mit beiden Orthesen-Typen sehr deutlich. Der mit der individuellen dGRAFO gemessene Extensionswinkel war um ein Grad größer im Vergleich zur Blue Rocker-Orthese. Die Flexion in der Schwungphase verringerte sich mit beiden Orthesen in Richtung der Normalkurve bedeutend. Der Unterschied der beiden Orthesen-Typen untereinander betrug hier zwei Grad.
Ohne Orthese wurde von der zweiten Hälfte der mittleren Standphase bis zur Mitte der Vorschwungphase im Vergleich zum Normalverlauf eine stärkere Extension des Rumpfwinkels gemessen (Abb. 10). Mit beiden Orthesen konnte hier der Rumpfwinkel verkleinert werden. Das Flexions-Minimum reduzierte sich mit beiden Orthesen-Typen gegenüber der Situation ohne Orthese um zwei Grad.
Drehmomente der Beingelenke in der Sagittalebene (bezogen auf das Körpergewicht)
In Abbildung 11 sind die Mittelwertkurven des OSG-Momentes dargestellt. In der Situation ohne Orthese fehlte während der Gewichtsübernahme das im Normalverlauf übliche plantarflektierende Drehmoment. Mit beiden Orthesen-Typen konnte ein ausgeprägtes plantarflektierendes Moment bei 5 % des Gangzyklus gemessen werden. Während der mittleren Standphase bis zum Ende der Standphase war eine deutliche Abstufung der einzelnen untersuchten Konstellationen zu erkennen. Das OSG-Moment-Maximum war in der Situation ohne Orthese am geringsten und erhöhte sich jeweils auffällig mit den unterschiedlichen Orthesen. Die deutlichste Annäherung an den Mittelwert der Norm-Gruppe wurde in der Situation mit der individuellen dGRAFO erreicht. Das Maximum des Dorsalextensions-Momentes lag hier bei 1,49 Nm/kg und war um 0,12 Nm/kg höher als das mit der Blue Rocker-Orthese gemessene Drehmoment.
Am Verlauf der Mittelwertkurve des Kniemomentes war in der Situation ohne Orthese von Beginn der mittleren Standphase bis zum Ende der Standphase ein abnormes flektierendes Kniemoment zu erkennen. Mit beiden Orthesen-Typen konnte ein extendierendes Moment in diesem Gangzyklusabschnitt bewirkt werden. Die deutlichste Annäherung an den Normalverlauf zeigte die Kurve der individuellen dGRAFO. Der Unterschied im Maximum des Extensionsmomentes zwischen den beiden Orthesen betrug 0,13 Nm/kg (Abb. 12).
In den Ergebnissen des Hüftmomentes war in allen drei untersuchten Situationen in der mittleren Standphase ein stark flektierend wirkendes Moment auffällig. Tendenziell zeigen die Kurven beider Orthesen-Typen eine geringe Annäherung an das Extensionsmoment, das im physiologischen Fall wirkt (Abb. 13). Das Moment der individuellen dGRAFO beträgt bei 20 % Gangzyklus 0,23 Nm/kg und das der Blue Rocker 0,35 Nm/kg.
Oberflächen-Elektromyographie
Die Grafiken der Oberflächen-Elektromyographie zeigen keine Werte der Norm-Gruppe, da die Intensität der Ausschläge sehr von der Platzierung der Elektroden und den individuellen Weichteilverhältnissen der Patienten abhängt. Bewertet wurden die Unterschiede der drei gemessenen Situationen untereinander und der Zeitabschnitt der Muskelhauptaktivität im Verlauf des Gangzyklus, verglichen mit dem aus der Literatur bekannten [16] physiologischen Zeitabschnitt der Hauptaktivität.
Wie in Abbildung 14 dargestellt, zeigte der M. vastus lateralis in der Situation ohne Orthese eine unphysiologische Aktivität von der terminalen Standphase bis zum Anfang der Vorschwungphase. Mit beiden Orthesen-Typen war eine Reduktion dieser Aktivität messbar. Mit der individuellen dGRAFO zeigte sich dieser Effekt am deutlichsten.
Ohne Orthese konnte eine unnatürliche hohe Aktivität des M. rectus femoris von Beginn der mittleren Standphase bis zu Beginn der Vorschwungphase beobachtet werden. Auch hier konnte mit beiden Orthesen-Typen diese Aktivität verringert werden. Der Unterschied der beiden Orthesen-Typen ist hier sehr groß. Das EMG zeigt eine deutlich geringere Muskelaktivität der individuellen dGRAFO im Vergleich zur Blue Rocker-Orthese (Abb. 15).
Beim Gehen ohne Orthese konnte in zwei Phasen des Gangzyklus eine unphysiologische Muskelaktivität des M. biceps femoris (Caput longum) festgestellt werden: zum einen in der terminalen Standphase und zum anderen in der initialen Schwungphase. Mit beiden Orthesen-Typen konnte diese Muskeltätigkeit reduziert werden (Abb. 16).
Metabolische Energieverbrauchsmessung
Die Sauerstoffrate reduzierte sich im Mittel mit beiden Orthesen-Typen. Die Daten des metabolischen Energieverbrauchs korrelierten mit den Messergebnissen der Herzfrequenz. Die Herzfrequenz sank ebenfalls in den Messungen mit beiden Orthesen-Typen. Prozentual dargestellt bedeutet das für die Situation mit der individuellen dGRAFO eine verringerte Sauerstoffrate gegenüber der Messung ohne Orthese um 32 % bei einer Herzfrequenzreduktion von 12 %. Mit der Blue Rocker-Orthese verringerte sich die Sauerstoffrate um 26 % bei einer geringeren Herzfrequenz von 9 % (Abb. 17 u. 18).
Befragung
Die Aussagen der Patienten zu den Alltagserfahrungen mit der Blue Rocker-Orthese sind in der Tabelle 4 aufgeführt. Faktisch konnten aus unterschiedlichen Gründen nur von einem Patienten die Blue Rocker-Orthesen genutzt werden, allerdings nur zu landwirtschaftlichen Arbeiten am Hanggrundstück. Hier stellte die höhere Flexibilität einen Vorteil dar. Dieser hohen Belastung hielten die Orthesen jedoch nur knapp drei Monate stand. Folglich konnte die subjektive Einschätzung nur noch im Vergleich ohne Orthesen und mit der individuellen dGRAFO ausgewertet werden.
Wie in der Tabelle 5 zu sehen ist, haben sich die Schmerzen mit Nutzung der Orthesen bis auf ein Minimum reduziert oder verschwanden ganz. Die maximale Stehdauer hatte sich im Gruppenmittel deutlich von 2 min in der Situation ohne Orthese auf 27,8 min mit der individuellen dynamischen GRAFO erhöht (Abb. 19). Die maximal zu bewältigende Gehstrecke hatte sich im Mittel deutlich verlängert. Es konnte eine nahezu Verzehnfachung der möglichen Gehstrecke von 0,63 km ohne Orthese auf 6,19 km mit der individuellen dynamischen GRAFO festgestellt werden (Abb. 20).
Diskussion
Grundsätzliche biomechanische Effekte
Die beobachteten pathologischen Merkmale dieser Patientengruppe konnten mit beiden Orthesen-Typen positiv beeinflusst werden. Grundsätzlich sind Parallelen mit den in der Literatur zu findenden Studien zu erkennen. So wurden in der unversorgten Situation auch bei dieser Patientengruppe eine abnorme Dorsalextension sowie Knie- und Hüftflexion, hohe und lang anhaltende externe Knie-Flexionsmomente sowie eine hohe Aktivität des M. rectus femoris beobachtet [11, 17].
Die insuffizienten Plantarflexoren konnten mit beiden hier verwendeten Orthesenkonstruktionen kompensiert werden. Die externen extendierenden Momente am Sprung- und Kniegelenk erhöhten sich deutlich [1, 7, 12, 18].
Des Weiteren korrelierte die orthetisch bedingte Reduktion der Muskelaktivität mit einer Verringerung des metabolischen Energieverbrauchs (Sauerstoffrate). Die Patienten profitierten in der Situation mit der dGRAFO von einer deutlichen Verlängerung der ohne Unterbrechung maximal zu erreichenden Gehstrecke.
Für den Vergleich mit den in der Literatur gefundenen Studien ist zu bedenken, dass sich diese Studien primär mit Erkrankungen wie ICP und Spina bifida befassten. Die Ursache für den Kauergang kann hier entsprechend multifaktoriell bedingt sein. Die Beschreibung des Patientenkollektivs orientiert sich oft nur an wenigen Gemeinsamkeiten, obwohl die klinischen Befunde dieser Patienten in der Regel sehr komplex sind. Ein detaillierter Vergleich der Ergebnisse der vorliegenden Studie mit denen der Literatur erscheint deshalb aus Gründen der unterschiedlichen Krankheitsbilder sowie der unterschiedlichen Materialeigenschaften und Konfigurationen bezüglich des Orthesenaufbaus nicht sinnvoll.
Einfluss der insuffizienten Dorsalextensoren
Wenn auch in diesem Patientenkollektiv die Ursache für den Kauergang in den geschwächten Plantarflexoren zu sehen war, so wurde die Gruppe ebenfalls durch geschwächte Dorsalextensoren charakterisiert.
In der Situation ohne Orthese konnten in der Schwungphase eine vermehrte Knie- und Hüftflexion als Mechanismen zur Kompensation des Fallfußes beobachtet werden. Dies zeigten folgende Messparameter:
- Kleinerer Kniewinkel ab der mittleren Schwungphase (siehe Abb. 8).
- Kleinerer Oberschenkelsegmentwinkel ab der mittleren Schwungphase (siehe Abb. 9) Abnorme Aktivität des M. biceps femoris (Caput longum) in der initialen und frühen mittleren Schwungphase (Abb. 16).
Mit beiden Orthesen ließen sich diese Kompensationsmechanismen reduzieren. Die Ergebnisse jeweils in den Situationen mit Orthese zeigten hier eine deutliche Annäherung an die Normalwerte.
Durch die Schwäche der Dorsalextensoren bedingt, konnte während der Gewichtsübernahme am OSG-Moment in der Situation ohne Orthese kein plantarflektierendes Moment gemessen werden. Mit beiden Orthesen war es hingegen möglich, die passive Plantarflexion zu kontrollieren.
Unterschiede der Orthesen-Typen
Die beiden Orthesen-Typen unterschieden sich im Wesentlichen hinsichtlich ihrer Steifigkeit, der unterschiedlichen Passformadaption und der differenten Aufbaujustierung (Tab. 6). Aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten und Toleranzbereiche der Aufbaujustierungen und der Materialeigenschaften ergaben sich verschiedene statische Ausgangssituationen, die offensichtlich im Detail zu unterschiedlichen Ergebnissen beim Stehen und Gehen führten. Die statisch gemessene Belastungslinie in der Sagittalebene am Malleolus lateralis und am Kniedrehpunkt verlief mit der individuellen dGRAFO jeweils deutlich näher am physiologischen Mittelwert.
Bei einem Vergleich der Bewegungsausmaße beider Orthesen-Typen untereinander war zu erkennen, dass die im Vergleich steifere individuelle dGRAFO insgesamt etwas weniger Bewegung im oberen Sprunggelenk zuließ als die Blue Rocker-Orthese (Unterschied in der finalen Plantarflexion). Man könnte hieraus zunächst ableiten, dass mit zunehmender Steifigkeit der Orthese die Einschränkung im oberen Sprunggelenk ebenfalls zunimmt. Im Ganzen zeigte die Kurve der individuellen dGRAFO jedoch eine größere Annäherung an den Normalverlauf. So konnte die initiale Plantarflexion während der Gewichtsübernahme ausschließlich mit der individuellen dGRAFO bedeutend verringert werden. Der Bewegungsumfang der Dorsalextension in der Standphase kam ebenfalls mit der individuellen dGRAFO der Normalsituation deutlich näher.
Auffällig ist, dass sich die gemessenen Unterschiede der Gelenkwinkel zwar eindeutig darstellten, aber nur von geringem Ausmaß waren, während die Unterschiede der externen Momente der Beingelenke deutliche Abstufungen erkennen ließen. Die insgesamt gemessenen höheren externen extendierenden OSG- und Kniemomente korrelierten mit der deutlich verringerten Aktivität des M. rectus femoris.
Der Unterschied der beiden Orthesen-Typen untereinander bezüglich der metabolischen Energieverbrauchsmessung ist mit 6 % Differenz nur knapp über der allgemein angenommenen Messungenauigkeit. Trotzdem stellt sich diese Tendenz klinisch als nicht unbedeutend dar. Die mit der Blue Rocker-Orthese gemessene vermehrte Sauerstoffrate korrelierte zum einen mit der höher gemessenen Herzfrequenz und zum anderen mit der höheren Aktivität des M. rectus femoris.
Die Bedeutung des Orthesenaufbaus
Grundsätzlich deutete sich an, dass es sinnvoller scheint, den Winkel des oberen Sprunggelenkes auf den Patienten abzustimmen, als die statische Belastungslinie mittels der Verkippung einer vordefinierten Unterschenkel-Fuß-Position zu beeinflussen. Im letzteren Fall scheint die Adaption des Bewegungsapparates deutlich schwieriger, da sie nicht der Haltungsregulation am oberen Sprunggelenk entspricht. So war während der Anpassung der Blue Rocker-Orthese die Grenze der knieextendierenden Optimierungsmöglichkeit erreicht. Die Patienten drohten nach hinten zu fallen, obwohl sich die Belastungslinie noch nicht im Bereich der Normalwerte befand.
Die Ergebnisse zeigten die Korrelation der Statik mit der Gangcharakteristik. Es wurde deutlich, dass mit einer in der Statik nicht optimal justierten Orthese grundsätzlich Verbesserungen der Gangcharakteristik im Vergleich zur Situation ohne Orthese erreicht werden können, die Orthese sich aber beispielsweise für einen längeren Spaziergang in freier Umgebung als nicht besonders praktikabel erweist. Insbesondere bei längeren Gehstrecken und damit verbundener fortschreitender Ermüdung der Muskulatur scheint der optimale Aufbau umso wichtiger. Die Patienten berichteten hier über Schwierigkeiten beim Stehen und dem spontanen Stehenbleiben aus dem Gang (verstärktes „Einsinken“ in die Orthese).
Wenn das Ziel der Orthesenversorgung mit einer korrigierenden Beeinflussung der Gelenkmomente definiert ist, erscheint es sinnvoller, die statische Aufbaujustierung mit Hilfe der Belastungslinie vorzunehmen, als sich, wie in der Literatur diskutiert wird, auf eine feste Vorgabe der Winkelposition des oberen Sprunggelenkes zu beziehen. Mit dieser Methode ist nicht eindeutig nachvollziehbar, wie die von individuellen Einflüssen geprägte Haltungsregulation erfolgt.
Schlussfolgerungen für den Versorgungsprozess
Eine adäquate Orthesenversorgung sollte immer das Ziel haben, das Stehen und Gehen so effizient wie möglich zu gestalten und eine möglichst physiologische Belastung der Gelenke zu bewirken. Um dieses Ziel zu erreichen, lassen sich anhand dieser Untersuchung, unter Beachtung der geringen Patientenzahl, zur Versorgung von Patienten mit schlaffer Parese der Unterschenkelmuskulatur folgende Empfehlungen formulieren:
1. Grundsätzlich ist mit der vorkonfektionierten Blue Rocker-Orthese eine deutliche Verbesserung des Stehens und Gehens und somit physiologischere Belastung des Bewegungsapparates möglich, unter folgenden Voraussetzungen:
- Der statische Aufbau sollte so physiologisch wie möglich erfolgen können.
- Die anatomische Passform sollte druckstellenfrei sein.
- Die Orthese sollte der zu erwartenden Belastung Stand halten.
2. Mit einer individuellen dGRAFO, die nach der hier beschriebenen Methode hergestellt wurde, ist eine deutliche Verbesserung des Stehens und Gehens und somit eine physiologischere Belastung des Bewegungsapparates möglich. In dieser Untersuchung bestätigten dies die biomechanischen Resultate, die sich in den Alltagserfahrungen widerspiegelten. Mit diesem Orthesentyp ist eine Versorgung möglich, die den individuellen Anforderungen des Patienten am besten entspricht. Dies ist insbesondere für die gewünschte Nutzung über lange Zeiträume bedeutsam.
Für die Autoren:
Heiko Drewitz, OTM
CPO‑D, MSc Neuroorthopädie
Leitung Orthetik
Otto Bock HealthCare Deutschland
Kompetenzzentrum Forschungs- und
Entwicklungswerkstatt
Herman-Rein-Straße 2a
37075 Göttingen
drewitz@ottobock.de
Literatur beim Verfasser.
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Drewitz H, Schmalz T, Blumentritt S. Biomechanische Wirkung von dynamischen GRAFOs bei Patienten mit Kauergang. Orthopädie Technik, 2013; 64 (7): 36–47
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