Zu den von ihm zunächst vermissten Innovationen gehörten Verschiebeadapter und Brustprothesen. „Die Adapter für die Modularprothesen – in der DDR Rohrskelette genannt – konnten in zwei Richtungen verschoben werden. Als Ottobock uns 1990 erstmals seine Adapter vorstellte, war ich daher erstaunt, dass diese nicht zu verschieben waren“, erzählt Berg. „Zum Glück gibt es längst wieder verschiebbare Adapter auf dem Markt.“
Ebenso überrascht war der Orthopädiemechaniker-Meister, dass die in der DDR genutzten Brustprothesen verschwanden, bei denen sich das Volumen über die Luftzufuhr per Ventil in der Rückseite der Prothese passgenau regeln ließ. „Fast 30 Jahre nach dem Zerfall der DDR wollte mir ein Vertreter eines Brustprothesenherstellers dieses Prinzip als Weltpremiere vorstellen. Er schien tatsächlich nichts von der Vorgeschichte dieser Erndung zu wissen“, so Berg.
OTB und VEB Königsee als Innovationsbeschleuniger
Die erwähnte Brustprothese stammte – wie zahlreiche andere DDR-Innovationen – aus dem 1953 gegründeten Leitbetrieb Orthopädietechnik Berlin (OTB). Als Auszubildender besuchte Berg mit seiner Ost-Berliner Berufsschulklasse Mitte der 1980er-Jahre die OTB-Produktionsstätte. Kosmetische Handprothesen mit Handschuhen sowie Stomabeutel seien dort ebenfalls gefertigt worden. „Die Handschuhe entstanden nach Silikonabdrücken von Mitarbeiterhänden, nach denen die verschiedenen Größen dann beispielsweise Norbert, Herbert oder James hießen“, so Berg.
Im Bereich der Armprothetik gab es von der OTB drei Versorgungen zur Auswahl, wie er berichtet: eine kosmetische passive Armprothese, eine funktionelle Unterarmprothese mit Kraftzugbandage über einen Schultergurt, sodass sich die Hand öffnen oder schließen ließ, sowie die Oberarmprothese Myoelektrik.
Zu den Innovationsbeschleunigern der DDR gehörte auch der VEB Königsee Orthopädie Technik, der aus dem 1948 enteigneten Unternehmen Orthopädische Industrie Otto Bock entstanden war. Der VEB in Thüringen habe ein modular aufgebautes Rohrskelett aus Metall im Programm gehabt, an das mit dem oben genannten Schiebeadapter Knie- und Oberschenkel- oder Hüftmodule aus Holz oder Faserverbundstoffen andockbar waren. „Im Westen wurde das Modularprothese genannt“, erklärt Berg. „Grundsätzlich war der Aufbau gleich.“
MDR hemmt Innovationskraft
Im Hinblick auf die heutige Innovationskraft einzelner Sanitätshäuser und ihrer Mitarbeiter:innen zeigt sich Berg skeptisch: „Angesichts des hohen Niveaus industriell gefertigter Passteile lohnt es sich für einzelne Sanitätshäuser nicht mehr, eigene Entwicklungen anzustreben. Die mit der Einführung der europäischen Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation – MDR) verbundenen Regularien hemmen die Motivation zusätzlich.“
Vor allem aber vermisse er die deutlich einfachere Verwaltung, die zu DDR-Zeiten herrschte. Lediglich die Erstversorgung nach einer Amputation verordneten Fachärzt:innen für Orthopädie. „Alles Weitere wie Reparatur von Prothesen oder Orthesen ging direkt über uns“, erklärt Berg, der inzwischen beim Sanitätshaus Baldur Berg die Geschäfte führt. Im Versicherungsausweis, den alle DDR-Bürger:innen besaßen, wurden alle Versorgungen bzw. Reparaturen notiert – leicht nachvollziehbar für die Mitarbeiter:innen der Sanitätshäuser. Auf dieser Grundlage wurden Reparaturen vorgenommen oder neue Hilfsmittel herausgegeben. Die Kosten für Reparaturen wurden direkt mit den Krankenkassen abgerechnet. „Für neue Hilfsmittel mussten wir zwar Kostenvoranschläge bei der Krankenkasse einreichen, konnten aber im persönlichen Gespräch mit den Krankenkassenmitarbeiter:innen unsere geplante Vorgehensweise erläutern, sodass wir schnell und unkompliziert eine Genehmigung für die jeweilige Neuversorgung erhielten“, so der Obermeister der Landesinnung für Orthopädie-Technik Sachsen-Anhalt. „Zuzahlungen gab es in der DDR nicht. Als ab dem Jahr 1997 auf bestimmte Hilfsmittel eine zwanzigprozentige Zuzahlung und ab 2004 eine Zuzahlung zu Hilfsmitteln in Höhe von fünf bis zehn Euro erhoben wurde, stieß das bei etlichen Menschen, die in der DDR gelebt hatten, auf großes Unverständnis“, betont Berg.
Ruth Justen
Baldur Berg übernahm 2001 den 1974 gegründeten väterlichen Betrieb in Salzwedel, zunächst gemeinsam mit seinem Bruder Karsten und seit 2006 alleine. Der Orthopädiemechaniker-Meister sitzt seit 2001 im Vorstand der Landesinnung für Orthopädie-Technik Sachsen-Anhalt und ist seit 2014 deren Obermeister. Die Landesinnung wurde am 3. November 1990 gegründet. Baldur Berg war zudem von 2011 bis 2020 Vorstandsmitglied des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT). Das Sanitätshaus Baldur Berg vereint aktuell 28 Mitarbeiter:innen an sechs Standorten.
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