OT: Herr Professor Hintermann, was hat sich in der Sportorthopädie bzw. Diagnostik und Therapie des Sprunggelenks in den vergangenen Jahren grundlegend verändert, worin sehen Sie den größten Fortschritt?
Beat Hintermann: In meinem Spezialgebiet Fuß und Sprunggelenk hat sich in den letzten 20 Jahren die Bilddiagnostik massiv verbessert. Das betrifft namentlich die Magnetresonanztomografie (MRT), aber ebenso andere Verfahren wie die SPECT-CT, die Kombination aus Singlephotonen-Emissionscomputertomografie und Computertomografie (CT), und das CT unter Belastung. Damit kann man heute Auskunft über strukturelle Veränderungen an den Weichteilen und in den Gelenken erhalten sowie auch Fehlstellungen und Deformitäten abbilden. Vor allem das MRT hat einen regelrechten Boom ausgelöst.
Ansprüche stark gestiegen
OT: Wie wirkt sich dieser Boom aus?
Hintermann: Wie bereits gesagt, die Bilddiagnostik ist fast zu schnell vorangeschritten, sodass wir vieles – Veränderungen, Deformitäten, Varianten – sehen können, was wir in seinem funktionell-biomechanischen Zusammenhang noch gar nicht in Gänze begriffen haben. Dies ist besonders kritisch für unsere jüngeren Kollegen, die noch eine limitierte klinische Erfahrung haben. Die Versuchung ist dann groß, das zu behandeln, was man zum Beispiel auf dem MRT sieht. Gerade in der Sportorthopädie, wo die Ungeduld groß ist und der Erwartungsdruck entsprechend hoch, kann das gefährlich sein. Generell sind die Ansprüche und das Verlangen nach bildgebender Diagnostik stark gestiegen, insbesondere auch von Patientenseite. Jeder will und muss sofort in die „Röhre“. Unserem Kausalitätsbedürfnis folgend fokussieren wir uns dann leicht auf sichtbare Anomalitäten, also auf Befunde, die wir als nicht normal einstufen. Wir sollten aber diese Befunde immer kritisch hinterfragen und mit der klinischen Befunderhebung korrelieren, was in der Sportorthopädie häufig eine besondere Herausforderung ist. Eine spezielle Verantwortung unsererseits ist, zu berücksichtigen, dass Heilprozesse von Knochen und Weichteilgewebe beim Sportler nicht schneller ablaufen. Bloß die funktionelle Rehabilitation läuft schneller und meist günstiger als beim Nichtsportler. In diesem Bereich hat die Orthopädie-Technik in den letzten Jahren viele gewinnbringende Produkte entwickelt. Ich denke da an Gelenkbandagen, Orthesen und vieles mehr.
OT: Würden Sie ein Beispiel für eine überschätzte Befunderhebung nennen?
Hintermann: Ein Knorpel-Knochenschaden am Sprungbeinknochen (Talus). Dieser ist etwa zur Hälfte der Fälle nicht unfallbedingt und kann häufig auch stumm – das heißt nicht schmerzhaft – sein. Wird eine derartige Veränderung jedoch visualisiert, kann dies eine operative Behandlung auslösen, die am Ziel vorbeischießt.
OT: Gibt es auch unterschätzte Befunde?
Hintermann: Ja, bestimmt. Kapselbandverletzungen werden noch immer häufig unterschätzt und verleiten so zu einer ungenügenden initialen Behandlung. Die Folgen sind bleibende Instabilitäten. Dies trifft insbesondere für das Sprunggelenk zu, für die Außen- wie auch Innenbänder.
Schub an Wissen
OT: Welche Diagnosemöglichkeiten sind neu?
Hintermann: Seit etwa zehn Jahren ist es möglich, mittels digitaler Volumentomografie (DVT bzw. Cone-Beam-CT) Knochen und Gelenke von Fuß und Sprunggelenk unter Belastung darzustellen. Das hat für mich den größten Schub an Wissensvermehrung gebracht. Durch dieses Verfahren haben wir gelernt, den Fuß in seiner Belastungsdynamik besser zu verstehen. Dies hat beispielsweise die Erkenntnis geliefert, dass nach Bandverletzungen entstandene Instabilitäten zu dreidimensionalen Stellungsveränderungen von Knochen und Gelenken führen können, die bleibende Bewegungsstörungen und fortschreitende Deformitäten verursachen können.
OT: Auf dem diesjährigen GOTS-Kongress haben Sie die Keynote „Das instabile Sprunggelenk – von der Diagnose zur Behandlung“ gehalten. Was sollte das Publikum als herausragenden Fakt mitnehmen?
Hintermann: Eine zentrale Aussage war, dass Instabilitäten des Sprunggelenks, Rückfußes sowie des Fußes in seiner Gesamtheit viel komplexer sind als allgemein angenommen. Lange Zeit war das eine Black Box. In den letzten Jahren wurde jedoch etwas Licht in das Dunkel gebracht. Insbesondere haben wir erkannt, dass die medialen Bänder am Sprunggelenk viel wichtiger sind als bisher angenommen. Eine fatalistische Haltung in der Behandlung von Bandläsionen ist deshalb nicht angebracht. Unzureichend behandelte Bandverletzungen sind häufig die Ursache von eingeschränkter Belastbarkeit des Fußes und damit Verlust der Sportfähigkeit.
Stagnation beobachtet
OT: Was möchten Sie im Zusammenhang mit der Behandlung des instabilen Sprunggelenks speziell den Fachleuten aus der Orthopädie-Technik ans Herz legen?
Hintermann: Zweifellos wurden große Fortschritte in den Bereichen äußere Stabilisierungshilfen der Sprunggelenke erzielt. Bezüglich Einlagenversorgung und Fußbettungen denke ich aber, dass die Orthopädie-Technik in den letzten Jahren eher stagniert hat. Zwar sind viele innovative, meist computerunterstützte Analyse- und Fertigungsmethoden entwickelt worden. In der problemorientierten Umsetzung hapert es jedoch vielfach. Oft ist es enttäuschend zu sehen, dass damit das „Handwerk Orthopädie-Technik“ gelitten hat. Wahrscheinlich hat ein offener Gedankenaustausch zwischen Orthopäden und Orthopädietechnikern in den letzten Jahren zu wenig stattgefunden. Möglicherweise sehe ich dies zu kritisch. Ich bin noch Vertreter der „alten Garde“, vielleicht ein „Auslaufmodell“ – aber für mich ist all das, was in der Orthopädie und der Medizin passiert, immer noch eine Kunst, für die die Technologie immer nur Ergänzung sein kann. Ähnlich in der Orthopädie-Technik: Leute, die ehemals mit Leidenschaft und Akribie – regelrecht kunstvoll – gearbeitet haben, verlassen sich inzwischen zu stark auf neue computergesteuerte Mess- und Fertigungsmethoden. Damit kommt das eigentliche Handwerk zu kurz. Natürlich gibt es auch heute noch Ausnahmen, Leute, die innovativ und sehr gut arbeiten.
OT: Sie erwähnten die Einlagenversorgung – worin liegen dabei die Probleme?
Hintermann: Zum Beispiel wurde bei der Fertigung von Schuheinlagen früher nach einem Abdruck der Fuß in seiner Statik und Funktion mit den eigenen Augen minutiös analysiert sowie der Aufbau der Einlage immer wieder am Patienten auf Funktionalität und Passform geprüft. Nach einigen Sitzungen, wenn alles gut war, wurde die Einlage mit Obermaterial versehen und finalisiert. Heute wird der Patient dynamisch und statisch mit Geräten ausgemessen und analysiert. Daraus wird computergesteuert das Produkt hergestellt und dem Patienten als fertige Einlagen abgegeben. Bedenklich ist es dann, wenn die Einlagen ohne Anprobe abgegeben werden, was ich einige Male gesehen habe. Da fehlt mir die Leidenschaft, da wird zu stark auf Technik vertraut.
Mit Leidenschaft
OT: Sie haben ein Lehrbuch über Instabilitäten bei Fuß und Sprunggelenk herausgebracht. Warum sollten auch Orthopädietechniker diese Monografie lesen?
Hintermann: Mein Anliegen war, mein in den letzten 30 Jahren akquiriertes Wissen und die langjährige Erfahrung aus der Klinik aufzuarbeiten und strukturiert weiterzugeben – aus der Praxis für die Praxis. Wer sich für Instabilitäten an Fuß und Sprunggelenk interessiert, kommt an dem Buch kaum vorbei. Orthopädietechniker können sich auf den neuesten Stand bringen, wie sich der Fuß aufgrund von Instabilitäten verändert, und damit das Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen von technischen Korrekturen und die Wirkung von Stabilisierungshilfen erweitern.
OT: An welchen Forschungs- bzw. wissenschaftlichen Projekten arbeiten Sie?
Hintermann: Meine klinische und biomechanische Forschung fokussiert sich seit Beginn auf die Folgen von Verletzungen, die Entwicklung von innovativen Behandlungsmethoden und die Validierung von deren Wirkung. Aktuell arbeite ich an neuen Methoden, wie sich ein Kunstgelenk und andere operative Maßnahmen, etwa zur Stabilisierung und Korrektur von Deformitäten, auf den Fuß unter Belastung auswirken. In diesem Kontext untersuche ich im Besonderen, wie der Fuß sich in seiner Dynamik des Bewegungsablaufs verändert und wie Gelenke und Weichteilgewebe darauf antworten. Dazu ist eine standardisierte, vom behandelnden Arzt unabhängige Dokumentation unerlässlich. Sie können mir glauben, dass sich in meinen über 25 Berufsjahren da sehr viel wertvolles Material angesammelt hat. Etliches davon habe ich noch nicht abschließend ausgewertet. Ich möchte diese Dokumentation nutzen, um in den kommenden Jahren noch einige offene Fragen des Fachs zu beantworten.
OT: Mit welchen Themen befassen Sie sich in diesem Zusammenhang?
Hintermann: Das obere Sprunggelenk kann sich besser als andere Gelenke gegen eine Arthrose wehren. Das dürfte mit dem speziellen Knorpel zu tun haben, der dünner und steifer ist als zum Beispiel derjenige des Kniegelenks. Nach Unfallverletzungen dauert es häufig 20 bis 30 Jahre, bis sich eine schmerzhafte und behandlungsbedürftige Arthrose entwickelt. Das macht es schwierig, Patienten über so viele Jahre hinsichtlich langzeitiger Schäden zu verfolgen. Eigentlich ist es die nächste Generation von Orthopäden, die den Patienten sieht und behandelt. Umso wichtiger ist es deshalb, den Aufwand nicht zu scheuen und Behandlungsverläufe langzeitig zu dokumentieren. Manche Behandlungsmethoden und ‑ergebnisse kann dann erst die nächste Generation beurteilen. Gerade bei Sportlern wird dies helfen, akute Verletzungen und chronische Überlastungen in ihrer Schwere und ihren Folgen besser zu verstehen und sinnvolle Maßnahmen nicht nur für deren Behandlung, sondern genauso deren Vorbeugung abzuleiten.
OT: Was empfehlen Sie Berufseinsteigern?
Hintermann: Wähle das Fachgebiet, dem deine Leidenschaft gehört! Ich würde meinen Beruf auf jeden Fall wieder ergreifen und bin dankbar für das, was ich lernen, miterleben und bewegen durfte. Ich habe selbst Leistungssport betrieben und kann verstehen, was Sportler wollen. Das Wichtigste aber ist: Jeder Patient, ob Sportler oder nicht, hat das Recht auf die beste Behandlung. Ich habe in der Sportorthopädie Kollegen gesehen, die sich primär rund um den Sportler engagieren, um ihr eigenes Ego in den Mittelpunkt zu rücken. Wenn es nur darum geht, sich selbst auf die Bühne zu stellen, dann rate ich von dieser Tätigkeit ab. Es geht hier nicht nur um Geld und Prestige, es geht um die Leidenschaft! Darum, dass wir überall in der Medizin, namentlich in der Sportorthopädie, primär unsere Ohren, Augen und Hände einsetzen, um zu verstehen, was passiert ist und was das Problem ist – und diese Verantwortung nicht an den Radiologen und seine Bilddiagnostik delegieren sollten. Es ist und bleibt wichtig, dass man den ethischen Grundsätzen des medizinischen Handelns treu bleibt, auch dem Sportler gegenüber.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Prof. Dr. Beat Hintermann ist Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates und Leiter des Centers of Excellence Fuss & Sprunggelenk des Kantonsspitals Baselland (Schweiz). Hintermann ist Mitglied mehrerer internationaler Fachgesellschaften, darunter der Chilean Orthopaedic Society und der italienischen Fußgesellschaft Italian Foot and Ankle Society SISPEC, sowie SISPEC-Ehrenmitglied. Der international anerkannte Orthopäde und Sportmediziner hält etliche Patente. Er entwickelte unter anderem die Sprunggelenk-Totalprothese HINTEGRA, die laut Hintermann rund 3.000 Mal im Jahr implantiert wird – was etwa einem Viertel des Weltmarkts entspreche. Sprunggelenke der Hintermann-Serie haben die Zulassung der U.S. Food and Drug Administration (FDA) erhalten, der unter anderem für die Zulassung von Medizinprodukten zuständigen US-amerikanischen Behörde. Gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. med. Roxa Ruiz hat Hintermann in diesem Jahr die Monografie „Foot and Ankle Instability“ (Instabilität an Fuß und Sprunggelenk) veröffentlicht.
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