Leisse war lange Jahre Strategie-Berater bei internationalen Werbeagenturen. In seinem Hamburger Trendforschungsinstitut See More, Future Research and Development entwickelt er Zukunftsstrategien und berät renommierte Unternehmen. Im Interview beleuchtet er seine Sicht auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen.
OT: Herr Leisse, worin liegt die Hauptinspiration, die Sie den Fachleuten auf der OTWorld.connect mit auf den Weg geben wollen – und welche Idee haben Sie für eine „goldene“ Zukunft im Gesundheitswesen?
Oliver Leisse: Es beginnt eine neue Zeit, in der das Menschliche wieder mehr Bedeutung bekommt. Wir leben in den kommenden Jahren noch in einer Zeit der Krisen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Pandemie. Viele Menschen haben auch Sorgen um ihre finanzielle Zukunft. Die aktuelle R+V‑Befragung zu den Ängsten der Deutschen zeigt, dass knapp die Hälfte der Menschen sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage macht. Und auch der Klimawandel beunruhigt uns. Die Belastung ist groß, auch wenn wir uns langsam auf das „neue Normal“ einstellen. Wir arrangieren uns mit den Herausforderungen. So ist das Tragen von Masken schon fast Normalität geworden. Doch je länger wir in Krisenzeiten leben, desto wichtiger wird der Austausch zwischen den Menschen. Nach einer Studie von PricewaterhouseCoopers (PwC) sehnen sich 75 Prozent der Menschen weltweit nach zwischenmenschlichen Kontakten, mehr Emotionalität in einer immer technischer werdenden Welt. Darauf sollten wir uns einstellen und vorbereiten. Mehr Austausch! Austausch zwischen Arzt und Patient, zwischen Sanitätshausmitarbeiter und Kunden – aber auch der Austausch zwischen den Patienten selbst, der zwischen den Ärzten sowie den in der Gesundheitsbranche Beschäftigten.
Mehr Digitalisierung – mehr Zeit
OT: Welche Chancen ergeben sich dabei zum Beispiel aus der Digitalisierung? Speziell auch für Orthopädietechnik-Betriebe und Sanitätshäuser?
Leisse: Mehr Digitalisierung heißt mehr Daten. Je mehr Daten es gibt, desto besser wird die Prävention sein. Langfristig werden wir weniger krank werden, da beginnende Fehlentwicklungen in unserem Körper schon viel früher erkannt und behandelt werden können. Mehr Digitalisierung heißt mehr Zeit für uns alle. Die organisatorische Arbeit, die Verwaltung, die Erfassung und Auswertung von Daten, Aufgaben in der Reha – all das wird die Technik übernehmen. Daher wird Zeit frei.
OT: Wie können die Unternehmen die Corona-Krise trotz aller Herausforderungen positiv nutzen?
Leisse: Hier sehe ich zwei Arbeitsfelder. Die erste Herausforderung: Unternehmen müssen sich schnell und entschlossen der Digitalisierung öffnen, um den internationalen Anschluss wiederzufinden. Digitalisierung in der Organisation, in der Kommunikation, in der Analyse. Überall haben wir noch sehr viel aufzuholen, wenn man in aller Welt sieht, was bereits möglich ist. Die zweite Herausforderung: Unternehmen müssen „Customer Centricity“ lernen, also den Kunden/Patienten in den Mittelpunkt stellen. Ihn verstehen, ihn ernst nehmen, ihm zuhören. Darauf kommt es noch mehr an, als die Bemühungen zur Digitalisierung – und diese Herausforderung ist schwierig zu bewältigen.
Weniger Krankheiten, weniger Kosten
OT: Wie wird sich durch die Digitalisierung die Position der Patienten im Gesundheitswesen verändern?
Leisse: Die Digitalisierung entspannt auch die Situation für den Patienten. Mehr Wissen, bessere Daten, weniger unnötige Arztbesuche, weniger unnötige Operationen, mehr Zeit für das Einzelgespräch… Die Liste ist lang. So werden wir mehr Zeit für Empathie haben, aber auch mehr Zeit, unser Wissen zu mehren – denn in der aktuellen Diskussion gibt es zu viele „Fake News“-Behauptungen und zu wenig fundiertes Wissen. Sicher werden wir als Gesellschaft auch Zeit in die Erforschung spiritueller Bereiche investieren – die Suche nach Glück, Gelassenheit, Zufriedenheit zum Beispiel.
OT: Gerade im Gesundheitswesen ist oft die Rede davon, Geld sparen zu müssen – auch die Digitalisierung wird teils damit verbunden. Wird sich hier in Zukunft ein anderes Paradigma durchsetzen?
Leisse: Wenn wir die Entwicklung ein wenig in die nahe Zukunft weiterdenken, dann ist gerade in der Medizin ganz viel Fortschritt zu erkennen. Durch bessere, individuelle Medizin, durch die Modifikation von RNA, das Umbauen von DNA-Bausteinen und durch die engere Verbindung von Technologie und Medizin. Die Folge ist, dass Schritt für Schritt immer mehr Krankheiten besiegt werden können. Die Entwicklungen im Bereich der Medizin sind exponentiell und wir dürfen hoffen, dass sich die Situation im Gesundheitswesen entspannen wird: Weniger Krankheiten, weniger Kosten. Die Orthopädie wiederum wird uns helfen, lange mobil zu bleiben und vielleicht geht die Entwicklung noch einen Schritt weiter. Vielleicht sehen wir schon bald Methoden, die unsere Gelenke und Muskelfunktionen selbst im Alter noch steigern können. Mit 90 Jahren kann man dann geistig und körperlich noch fit sein – und sich zu einem Marathonlauf aufschwingen.
Goldenes Jahrzehnt, revolutionäre Fortschritte
OT: Wird das Gesundheitswesen vielleicht auch aufgrund der Digitalisierung ganz neue Player sehen?
Leisse: Ja, hier muss natürlich einmal mehr auf die große Gefahr hingewiesen werden, dass wir den Zugriff auf unsere Daten verlieren. Die Gefahr ist real, denn bei allen Gadgets (kleine technische Geräte, bei denen neben Funktionalität zudem der „Spaßfaktor“ nicht zu kurz kommt, d. Red.) und Wearables (am Körper getragene oder in die Kleidung integrierte technische Gegenstände, z. B. Smartwatches, d. Red.), die wir uns freiwillig umschnallen, verlieren wir bereits jetzt das Recht auf die gesammelten Daten. So steht es im Kleingedruckten der Anleitungen dieser Gadgets. Wenn wir in Europa nicht bald sichere und unabhängige Datendepots anlegen, werden nicht europäische Player die Gesundheit dominieren, sondern Asien und die USA. Wir müssen dann dafür zahlen, dass wir auf unsere eigenen, so entscheidenden Daten zugreifen können, ohne die eine fundierte Diagnose gar nicht mehr möglich sein wird. Aber ich will nicht mit so einem düsteren Bild enden. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Daten-Thematik noch rechtzeitig in den Griff kriegen. Wenn alle sich der Herausforderungen bewusst sind, wird die Gesundheitsbranche in ein goldenes Jahrzehnt voller revolutionärer Fortschritte eintreten.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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