„Jetzt ist er endgültig rausgewachsen“, sagt Lisa Moczigemba. Sie deutet auf den Rollstuhl ihres Sohnes, der in einer Ecke steht und dem man die vielen Jahre im Einsatz deutlich ansieht. „Den hat Finn schon, seit er drei ist. Aber jetzt ist er zu groß und zu schwer, das packt der Hilfsantrieb nicht mehr.“
Finn Moczigembas Diagnose ist spastische tetraplegische Cerebralparese und er lebt mit seiner Familie in einem „Archedorf“ im Norden Bayerns. Hier gibt es viele alte Haustierrassen, von seinem Garten aus kann Finn Ziegen sehen und Hühner hören. Das Haus liegt an einem steilen Hang; nicht ungewöhnlich für die Gegend des Fichtelgebirges. Und eine Herausforderung für Lisa Moczigemba, wenn sie mit dem Rollstuhl vor die Tür will. „Finn muss ja auch an die Luft, an die Sonne“, sagt sie. Die meisten Kinder, die nicht selbstständig laufen können, haben mit Osteoporose zu kämpfen. Zum einen wegen der zu geringen Belastung der Knochen, zum anderen schlicht wegen des Vitamin-D-Mangels, der bei fehlendem Sonnenlicht entsteht. Deshalb geht Lisa Moczigemba so oft es geht mit Finn, seiner Schwester und dem Hund spazieren. „Aber dabei sind wir immer schwer beladen“, schildert sie.
Finn ist inzwischen Tag und Nacht beatmungspflichtig, weshalb immer eine Beatmungsmaschine dabei sein muss. Dazu kommen ein Absauggerät für den Schleim im Atemtrakt, Flüssigsauerstoff, eine Ernährungspumpe für die Sondennahrung, ein Oxymeter – die Liste ist lang. „Bis jetzt haben wir das alles immer in einen Beutel und an die Rückenlehne gepackt, und was Schlaufen hat, haben wir irgendwie an die Griffe gehängt. Aber das ist alles nicht sehr transportsicher“, erklärt Lisa Moczigemba, „wir wohnen ja direkt am Waldrand, bei Unebenheiten fällt leicht was runter“.
Von Rehakind zertifizierter Fachberater
Finn wird im Sozialpädiatrischen Zentrum im oberpfälzischen Weiden interdisziplinär betreut. Als er dort von seiner Ärztin ein Rezept für einen neuen Rollstuhl bekam, wollte Lisa Moczigemba gerne ein Modell, das ihnen beiden das Leben wirklich erleichtert. „Von Finns Physiotherapeutin habe ich den Tipp bekommen, mich an die Firma Meyra zu wenden.“ Hier kam auch Stefan Gröger ins Spiel.
Der Orthopädietechnik-Meister arbeitet für die Firma „Sanitätshaus und Rehatechnik Schuhmann und Landstorfer“ in Bayreuth. Und er ist seit über zwölf Jahren Experte für die Bedürfnisse von Kindern wie Finn. „Tatsächlich bin ich Rehakind-Fachberater“, sagt Stefan Gröger. Der Verein Rehakind e. V. qualifiziert Fachkräfte der Kinder-Reha und Orthopädie-Technik und er zertifiziert Expert:innen mit Berufserfahrung und besonderem Versorgungswissen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung mit dem Titel. Nach einer Schulung und einem abschließenden Test darf sich Stefan Gröger „Rehakind-Fachberater“ nennen. Gemeinsam mit dem Außendienstmitarbeiter von Meyra trafen sich die Beteiligten vor Ort und besprachen, welche Versorgung für Finn und seine Familie die beste ist: ein „iChair Netti Dynamic S“ mit An- und Umbauten.
Dank diesen hat nun jedes Hilfsmittel für Finn seinen rutschfesten Platz, ob Beatmungsgerät oder Sondennahrung. „Das ist wesentlich angenehmer als zuvor“, freut sich Lisa Moczigemba. „Du hast einfach alles am Stuhl und kannst ihn wie er ist ins Auto schieben, losfahren und am Ziel loslegen. Du musst nicht mehr alles immer wieder umräumen, das ist schon toll. Dazu kommt die Steuerung, die an einen Fahrradlenker erinnert. „Das ist gut im unebenen Gelände“, sagt Stefan Gröger, „bei der Steuerung via Joystick verwackelt man leichter“.
Für den OT-Meister besonders wichtig ist aber eine gute Sitzschalenversorgung. „Finn macht ja nicht viel, er liegt oder er sitzt. Und wenn er seine Zeit so verbringt, dann muss er auch Komfort haben.“ Eine Skoliose macht dem Elfjährigen beim Atmen zusätzliche Probleme, deshalb fertigt Stefan Gröger derzeit für Finn eine neue angepasste Sitzschale nach Körperformabdruck. „Die muss einfach gut passen, damit das Kind sich wohlfühlt.“ Finn kann sich nicht selbstständig bewegen. Bislang hat seine Mutter ihn bei längeren Rollstuhlfahrten immer wieder umgelagert. „Aber länger als drei Stunden schafft er es nicht“, sagt sie. „Das ist schade, wenn es schön ist und du gerade gemütlich im Biergarten sitzt, und dann musst du schon wieder los, weil Finn nicht mehr länger sitzen kann.“ Stefan Grögers Augenmerk liegt deshalb besonders auf der Verträglichkeit der Schale. „Wir werden beobachten, ob Finn noch eine Dekubitusprophylaxe braucht oder nicht. Gelkissen oder Memoryschaum wären jederzeit noch möglich.“
Neue Perspektiven auf vielen Ebenen
Dazu kommt, dass der Rollstuhl stark höhenverstellbar ist. Für Lisa Moczigemba ein deutliches Plus: „Das ist wesentlich rückenschonender als zuvor.“ Und es sei für Finn angenehm, wenn er von einer erhöhten Position aus in die Welt schauen kann. „Im Zoo zum Beispiel kann er mit dem Rollstuhl über die Absperrung sehen.“ Für Stefan Gröger ist auch der Nutzen im Alltag nicht unbedeutend: „Wenn Finn mit der Familie am Tisch sitzt und alle begegnen sich auf Augenhöhe, dann ist das etwas Gutes.“ Für Finn bedeutet dieser freie Blick auf die Welt also neue Perspektiven auf vielen Ebenen.
Ein Clou, über den sich Lisa Moczigemba besonders freut, ist der dynamische Aufbau des Rollstuhls: Eine bewegliche Beinstütze, ein flexibler Rückenzylinder und eine dynamische Sitzplatte machen jede unfreiwillige Bewegung Finns mit. „Wenn bei Finn die Spastik zuschlägt, kann es gefährlich für ihn werden, wenn der Rollstuhl die Bewegung blockiert“, erklärt die Mutter. „Sein Muskeltonus ist bei einem Anfall so hoch, dass er sich schon dreimal den Oberschenkelknochen gebrochen hat.“ Zusätzlich zu den Schmerzen des Jungen folgte auch ein unangenehmes Nachspiel – immerhin ist bei Finns Zustand ein Fremdverschulden bei einem Beinbruch durchaus denkbar. Er rennt schließlich nicht allein durchs Haus und stürzt, sondern wird rund um die Uhr von Pfleger:innen betreut. Nachfragen der Krankenkasse und Stellungnahmen der Beteiligten waren die Folgen. Umso mehr freut sich Lisa Moczigemba, dass der neue Rollstuhl Finns Besonderheiten Rechnung trägt: Er erlaubt dem Körper Spielraum beim Krampfen und führt ihn nach den Spasmen wieder in seine ursprüngliche Sitzposition zurück. Davon abgesehen, dass Finn somit mehr Sicherheit und Komfort genießt, ist das auch für den Rollstuhl besser: Meyra gibt an, die Technik führe zu weniger Repositionierung und weniger Verschleiß.
Trotz all dieser Gründe war Finns Krankenkasse zunächst nicht überzeugt und lehnte die Versorgung ab. „Die haben einen manuellen Stuhl mit Schiebehilfe angeboten, obwohl der preisliche Unterschied bei gerade einmal 2.000 Euro lag“, erinnert sich Stefan Gröger, „also ging der Fall an den MDK“. Der OT-Meister schrieb eine fachliche Begründung, während Lisa Moczigemba ihre Sicht der Dinge als Mutter eingereicht hat. Mit Erfolg, wie man nun sehen kann. „Tatsächlich war die Sitzbreite das ausschlaggebende Argument“, sagt Stefan Gröger, „die manuellen Rollstühle bieten nur 35 Zentimeter, wir brauchen aber wegen der Sitzschalenversorgung 38 Zentimeter“.
Bis zum fertigen Rollstuhl ist es ein langer Weg. Absprachen müssen getroffen, gegebenenfalls Widerspruch eingelegt, Bauteile bestellt und gefertigt und immer wieder Anproben angesetzt werden. „Da lassen wir uns auch Zeit“, betont Stefan Gröger, „das muss alles sehr gut passen. Dann lieber langsam und ordentlich als überhasten.“ Eine Ansicht, die Finns Mutter teilt. „Die Wartezeit ist echt lang, doch ich kann das schon verstehen“, sagt Lisa Moczigemba. „Aber es lohnt sich. Der neue Rollstuhl gibt Finn und uns Freiheit.“ Einen Plan für die Jungfernfahrt gibt es schon: „Wir machen als Erstes einen Ausflug nach Regensburg und fahren mit dem Schiff auf der Donau. Darauf freuen wir uns schon lange mal wieder.“
Tamara Pohl
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