Der gelernte Modellbauer-Meister unterrichtet unter anderem im Programm „Digitale Fertigung“ an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik e. V. (BUFA). Aus seiner Erfahrung seiner Lehrtätigkeit weiß er, dass für den OT-Nachwuchs 3D-Scans sowie additive Fertigung bzw. 3D-Druck inzwischen genauso zum Repertoire in den Werkstätten gehören wie der bewährte Gipsabdruck.
OT: Herr Köster, wie ist aktuell der Stand der Dinge bei der Digitalisierung und dem Einsatz von 3D-Technologie in den OT-Werkstätten?
Antonius Köster: In den letzten 15 Jahren hat die Geschwindigkeit immens zugenommen. Zuerst waren es vor allem spezielle Entwicklungsprojekte wie die Fertigung von Cranio-Orthesen für die Helmtherapie oder von individuellen Sitzschalen im Sonderbau, bei denen digitale „Werkzeuge“ wie 3D-Scanner zum Einsatz kamen. Auf der OTWorld 2018 wurde der Schalter in Sachen Digitalisierung in der OT dann endgültig umgelegt. Da war ganz deutlich spürbar: Jetzt ist die Digitalisierung wirklich angekommen! Die Betriebe haben die darin liegenden Potenziale erkannt. Bei uns hat sich die Anzahl der verkauften Lizenzen zum Scannen und zur Modellierung seitdem vervielfacht.
OT: Trotzdem hält der Gips sich in den Werkstätten hartnäckig …
Köster: In den OT-Werkstätten wird sich noch einiges verändern. Aber es ist ein Trugschluss zu denken, dass der Gips durch die Digitale Fertigung völlig aus dem Arbeitsalltag verschwindet. Das wäre viel zu schwarz-weiß gedacht. Gips ist ein sehr guter Werkstoff. Es gibt nach wie vor genug Fälle, in denen die Gipsmodellierung durch erfahrene OTler:innen zu einem besseren Ergebnis führt als die digitale Variante. Sinnvoll ist deshalb ein Mix von konventioneller und Digitaler Fertigung – zum Beispiel die konventionell erstellte Zweckform und eine darauf basierende digitale Konstruktion, die dann wiederum zusätzliche Möglichkeiten bietet.
OT: Also kein Grund, die Werkstatt zuzusperren und in Zukunft nur noch am Rechner zu sitzen?
Köster: Nein. Die „alten“ Methoden haben sich ja bewährt. Es geht vielmehr um Efzienz durch eine gekonnte Mischung. Zu viel blinde Technikgläubigkeit ist nicht angebracht, Ergebnisse aus digitalen Verfahren sind nicht per se besser. Was sich beim Gipsen, beim Palpieren für die Hände „sichtbar“ machen lässt, dass muss reproduzierbar in die digitalen Scan-Prozesse hineingebracht werden. Wir arbeiten an Vorrichtungen, die orientierte und korrigierte Scans ermöglichen. Mit unserer „Scanboxx“ sind wir schon ein Stück vorangekommen, können unbelastete, teilbelastete und korrigierte bzw. gebettete Füße scannen.
OT: Wie offen ist denn die Branche inzwischen für digitale Verfahren?
Köster: Digitale Verfahren setzen sich im OT-Markt immer mehr durch und stellen so unter Beweis, dass sie funktionieren. Zudem ndet in den Werkstätten langsam ein Generationswechsel statt. Ich unterrichte an der BUFA das Thema „Digitale Fertigung“ – und die Absolvent:innen der ersten Kurse sind jetzt in Positionen, digitale Projekte auf- und umzusetzen. Generell führt kein Weg an Digitaler Fertigung vorbei, wenn ein Unternehmen noch zehn Jahre erfolgreich weitergeführt werden soll. Die Digitalisierung hört nicht wieder auf, die Reise geht immer weiter – mit neuen Technologien, neuen Werkstoffen für den 3D-Druck etc.
OT: In welchen Bereichen der Werkstatt, der Hilfsmittelversorgung hat sich die Digitalisierung bereits durchgesetzt – oder existiert alles parallel?
Köster: Noch existiert alles parallel. Das hängt auch mit den verantwortlichen Personen zusammen. Manche Unternehmen haben ganze Bereiche komplett digitalisiert. Dabei muss der gesamte Versorgungsablauf im Blick bleiben. Behandler:innen, Krankenkassen und Patient:innen müssen einverstanden sein mit den neuen Möglichkeiten. In der Einlagenversorgung ist es besonders schnell gegangen, hier gibt es bereits etliche digitale Prozessketten und ebenfalls neue Geschäftsmodelle. So haben sich 3D-Druckdienstleister etabliert, die anhand der von den OTler:innen erstellten 3D-Scans fertigen. Oder Lieferanten liefern zu den Bauteilen – wie zum Beispiel Gelenken – die 3D-Daten für die Modellierung dazu. Die Hauptfrage ist jedoch: Wie schaut es mit der Qualität aus? Denn Digitale Fertigung ist nicht unbedingt günstiger, aber nachvollziehbarer und reproduzierbarer. Die Verstetigung von Qualität gehört zu den Vorteilen der Digitalisierung. Zuweilen wäre schon viel geholfen, wenn das Resultat komfortablere und adaptivere Hilfsmittel sind, die öfter und mit mehr Selbstbewusstsein genutzt werden.
OT: Worin liegen besondere Diskrepanzen bei der Einschätzung digitaler Prozesse?
Köster: Vor einiger Zeit habe ich einen OT-Meister erlebt, der sich als Sachverständiger einer Krankenkasse darüber empörte, dass ein Betrieb 3D-gefertigte Orthesen abrechnen wollte wie konventionell hergestellte – obwohl doch Arbeitsschritte wegfallen würden. Doch hinter den Hilfsmittelversorgungen stehen Proleistungen von Expert:innen mit hohen Ansprüchen – egal, ob es sich um konventionell oder digital hergestellte Produkte handelt. Das Dilemma sind die je nach Perspektive unterschiedlichen Erwartungen und Kenntnisse: Für die einen geht es einfach nur um wirtschaftlich kostengünstigere Angebote. Für die anderen steht eine individuellere, bessere Versorgung der Patient:innen im Mittelpunkt – also die Grenzen bisheriger Arbeitsweisen zu überwinden. Ein positiver Nebeneffekt der Digitalisierung ist die bessere Dokumentation von Behandlungsdaten und ‑verläufen, die dadurch viel besser vergleichbar sind – als Mittel der Qualitätssicherung im Interesse von Kostenträgern, Sanitätshäusern und Patient:innen. Mit der Analyse der Fakten und der daraus folgenden Bewertung der eigenen Arbeit müssen Orthopädietechniker:innen aber offensiv umgehen können. Leider fehlen uns außerdem im großen Maßstab zusammengeführte Daten, die die Behandlungserfolge dokumentieren und damit nachweislich für die Rechtfertigung auch gegenüber den Kostenträgern dienen.
Wissen, was man will
OT: Hat es durch die Corona-Pandemie einen weiteren nachhaltigen Digitalisierungsschub gegeben?
Köster: Das vergangene Jahr hat uns allen viel beigebracht. Die digitale Kommunikation hat erstaunlich schnell gut funktioniert und wird nicht wieder weggehen. Selbst wer bisher digitale:r Analphabet:in war, wurde Könner:in. Das strahlt auf andere Bereiche aus.
OT: Wenn Orthopädietechniker:innen oder Sanitätshäuser jetzt motiviert sind, in die Digitale Fertigung einzusteigen und zum Beispiel 3D-Scan- und Modellierverfahren einzusetzen – wie sollten sie starten?
Köster: Es passiert gar nicht so selten, dass Technik angeschafft und dann nie eingesetzt wird. Deshalb zuerst ein Ziel festlegen, welches durch die Digitalisierung erreicht werden soll. Beispielsweise: „Diese beiden Orthesentypen möchten wir in soundso viel Monaten digital planen und fertigen oder digital optimieren“ – und dafür nicht gleich die komplexesten Varianten wählen. Mehr als zwei bis drei Baustellen sollten es zu Beginn nicht sein. Dann – sehr wichtig – personelle Kapazitäten sichern. Denn „nebenher“ passiert Digitalisierung nicht. Die Betreffenden müssen Lust darauf haben, Zeit und Raum bekommen, sich heranzutasten. Wie beim Autofahren sind ein „Führerschein“ und Praxis wichtig. So erfordert ein guter 3D-Scan Übung – wie ein gutes Foto. Empfehlenswert sind gemischte Teams aus erfahrenen Fachleuten und Nachwuchskräften, die fit am Computer sind. Gute Teams können Berge versetzen. Schließlich sollte ein Standard für das eigene Haus definiert werden, wie die erarbeiteten digitalen Prozesse integriert und dauerhaft eingesetzt werden.
Positives Abenteuer
OT: Wie viel zeitlichen Vorlauf sollte man sich für den Einstieg in die Digitale Fertigung geben?
Köster: Steht die Planung, braucht es maximal sechs Monate Vorlauf, um die nötige Scan- und Modelliertechnik auszuwählen und zu beschaffen. Denn es gibt nicht das eine Gerät, das alles kann. Es ist eine Vielzahl von Scannern und Software auf dem Markt, die unterschiedliche Stärken und
Schwächen haben. Da hilft nur Beratung und Testen. Die Einführungsphase sollte man ruhig mit einem Jahr veranschlagen – mit teilweise sehr frühen Erfolgen, aber genauso umfangreicheren Problemstellungen, die Zeit erfordern. Manchmal ist dies mit einem Generationswechsel in der Firmenleitung sowie in der Werkstatt verbunden. Hilfreich ist, wenn eine visionäre Kraft hinter einem solchen Vorhaben steckt, von der man „draußen“ als Marketingstory erzählen kann. Das kann ebenso für die Patient:innen reizvoll sein.
OT: Wie weit sind additive Verfahren bzw. 3D-Druckmethoden in die OT-Werkstätten vorgedrungen?
Köster: Wir haben bereits Kunden, die auf mehreren Profi-Anlagen ihre Modelle und Orthesen im eigenen Hause fräsen und drucken. Das sehe ich aber nicht als notwendig oder erstrebenswert an. Es gibt zahlreiche Lohnfertiger, die eine breite Auswahl an Verfahren und Materialien mit entsprechender Nachbehandlung und Qualitätssicherung anbieten. Sehr viele Betriebe haben bereits 3D-Scanner im Einsatz. Einige leiten die Daten an Dienstleister weiter und bekommen Produkte vom Leisten bis zur gedruckten Hightech-Orthese in kurzer Zeit geliefert. Immer mehr Häuser wollen aber die Wertschöpfung selbst im Hause haben und modellieren bis zur Zweckform oder konstruieren Orthesen und Prothesen digital. Die Anzahl von „einfachen“ 3D-Druckern ist enorm und unterstützt den Digitalisierungsprozess nachhaltig, da Ideen, Probeversorgungen und ebenso das ein oder andere Hilfsmittel spontan gedruckt werden können.
Zukunftssicher und unabhängig
OT: Welches Budget sollte man für ein erstes Digitalisierungsprojekt einplanen?
Köster: Einfache Scanlösungen sind schon ab 2.000 Euro zu haben. Die Anfangsinvestition für leistungsfähige Scanner und Modellierlösungen liegt bei etwa 20.000 bis 30.000 Euro – ohne Personalkosten, die man berücksichtigen sollte. Wir bieten nur offene Systeme an und empfehlen das jedem Interessenten, damit die Investition zukunftssicher und unabhängig bleibt.
OT: Gibt es Fördermöglichkeiten?
Köster: Grundsätzlich existieren verschiedene Möglichkeiten, den Digitalisierungsprozess gefördert zu bekommen. Es lohnt sich, bei der Hausbank nachzufragen, es gibt Technologieberater an den Handwerkskammern, Unterstützung bei Industrie- und Handelskammern (IHKs). Nicht alle Förderprojekte sind gleichermaßen zielführend. Das Programm „Digital Jetzt – Investitionsförderung für KMU“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) für kleine und mittlere Unternehmen ist löblich, aber miserabel umgesetzt. Man reicht monatlich ein Los ein und hofft, durch die Ziehung seinen Antrag einreichen zu dürfen. Vorher darf nichts begonnen werden, um die Förderfähigkeit nicht zu verwirken. Fördersumme und Anzahl der Lose stehen in krassem Widerspruch. Neben nanzieller Unterstützung lassen sich Digitalisierungsprojekte ebenfalls durch die Zusammenarbeit mit Hochschulen, durch Kooperationen bei Bachelor- und Masterarbeiten in Gang bringen. Nebenbei erschließt man sich eventuell einen neuen Mitarbeiterpool. Interne Forschungs- und Entwicklungsprojekte lassen sich aber inzwischen auch steuerlich geltend machen.
OT: Was kann am Schluss als Gewinn herauskommen?
Köster: Nicht sofort ein Umsatzwachstum. Digitalisierung ist keine Gelddruckmaschine. Sie ist eine weitere Werkbank, mit der sich neue Möglichkeiten verwirklichen lassen und die außerdem vermarktet werden muss. Die digitale Welt wird noch arbeitsteiliger – von der direkten Arbeit an den Patient:innen bis zur Arbeit am Computer. Vor dem Bildschirm müssen nicht zwingend Orthopädietechniker:innen sitzen, Hauptsache, das Team spielt gut zusammen und kombiniert sein Know-how. Eine gewisse Risikobereitschaft gehört dazu, um aus der Digitalisierung ein positives Abenteuer zu machen.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
„Augen auf bei der Scannerwahl!“ – das empfiehlt 3D-Scanexperte Köster. Denn das „Eines-für-alles“-Gerät für den Einsatz in der Orthopädie-Technik gebe es nicht. Testen laute deshalb die Devise vor dem Einstieg in die Digitale Fertigung. Die Zahl der Scanner wachse ständig.
Rund 100 Anbieter mit entsprechenden iPad-Apps gebe es am Markt, die teils auf die gleichen Geräte zugreifen würden, so Köster. Zudem finde eine Vermischung zwischen Consumer- und Profisegment statt. Derzeit laufe das Forschungsprojekt Sigma-3D, in das neben Kösters Firma Hochschulen, das Start-up Mecuris und mehrere Sanitätshäuser eingebunden seien. „Wir erfassen, was der Markt derzeit hergibt, was genau von den integrierten Kameras und Sensoren erfasst wird und wie die Informationen dann weiterverarbeitet werden“, berichtet Köster.
„Wir konzentrieren uns auf handgeführte Scanner, die mobil einsetzbar sind, ob im Außendienst in der Klinik oder bei den Patient:innen zu Hause. Als Referenz haben wir den Arm einer Schaufensterpuppe mit einem Industriescanner eingescannt, der ansonsten zur Qualitätssicherung genutzt wird. Für OT-Zwecke wäre dieser allerdings zu langsam.“ Die gewonnenen Daten werden laut Köster mit den Ergebnissen von derzeit zehn marktüblichen Scannern verglichen.
Dabei gelte es herauszufinden, wie groß die Abweichungen, wie einfach die Geräte bedienbar seien, wie komfortabel die Software ausgestattet sei, ob sich ein Scan nach Unterbrechung nahtlos fortsetzen lasse. „Erste Auswertungen zeigen größere Abweichungen bei den Messdaten, die von einem Millimeter bis 15 Millimeter und mehr reichen“, erklärt Köster. Ziel sei ein Leitfaden, der einzelne Scannertechnologien bestimmten Versorgungsaufgaben zuordne und den Sanitätshäusern bei der Auswahl helfe. Das Forschungsprojekt laufe noch bis Anfang 2023.
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