„Es ist immer etwas Traumatisches“

Seit Februar 2022 tobt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, mit allen Folgen, die eine solche Auseinandersetzung für die Menschen haben kann. Bis zum Jahreswechsel sind rund 600 Ukrainer:innen zur medizinischen Behandlung nach Deutschland evakuiert worden – so die Zahlen des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Demnach übernimmt Deutschland im europäischen Vergleich mit Abstand die meisten Patient:innen. Einer, der sich um diese Menschen kümmert, ist Achim Riepe. Der 60-Jährige ist seit 1990 Orthopädietechnik-Meister und arbeitet seit fünf Jahren beim „Reha Team Nordbayern“ in Bayreuth. Er ist einer von zahlreichen Kolleg:innen in ganz Deutschland, die geflüchteten Menschen aus der Ukraine helfen.

OT: Wie oft kommt es vor, dass Sie ukrai­ni­sche Eva­ku­ier­te betreuen?

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Achim Rie­pe: Seit Kriegs­be­ginn vor einem Jahr waren es acht Men­schen, fünf Män­ner und drei Frau­en, die ich in den Kli­ni­ken in Bay­reuth und Kulm­bach betreut habe. Das waren aber nicht alles akti­ve Kriegs­teil­neh­mer. Manch­mal weiß man nicht, woher sie ihre Ver­let­zun­gen haben. Es gibt Fra­gen, die stellst du nicht ein­fach so.

OT: Wel­che Ver­let­zun­gen ste­hen denn im Vordergrund?

Rie­pe: Das ist ganz unter­schied­lich, da waren auch Pati­en­ten mit Polio dabei. Für die habe ich klas­si­sche Geh­ap­pa­ra­te gebaut. Das ist eine Ver­sor­gung, wie wir sie in der Bun­des­re­pu­blik in den 80er- und 90er-Jah­ren noch ganz häu­fig gemacht haben – dann ist Polio dank der Schluck­imp­fung bei uns so gut wie ver­schwun­den gewe­sen. Aber eben nicht über­all auf der Welt, wie man jetzt bei den Men­schen aus der Ukrai­ne sieht. Bei den akti­ven Kriegs­teil­neh­mern sind es in der Regel Bein­ver­let­zun­gen, Arm­ver­lus­te eher weni­ger. Schuld sind meist Minen oder Geschosse.

OT: Sie sind seit fast 25 Jah­ren Meis­ter, da haben Sie ver­mut­lich schon zuvor mit Kriegs­ver­sehr­ten zu tun gehabt?

Rie­pe: Auf jeden Fall. Ich bin beruf­lich mit den Ver­sehr­ten aus dem Zwei­ten Welt­krieg groß gewor­den, da habe ich eini­ge Erfahrungen.

OT: Ist die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung eines Kriegs­trau­mas anders als die eines Unfalltraumas?

Rie­pe: Ob jemand sein Bein im Kran­ken­haus oder im Krieg ver­lo­ren hat, macht eher kei­nen Unter­schied – es ist immer etwas Trau­ma­ti­sches. Aber einen gro­ßen Unter­schied gibt es im Ver­gleich zu den Ver­sor­gun­gen von frü­her: Mei­ne Pati­en­ten mit Kriegs­ver­let­zun­gen damals waren nicht frisch ampu­tiert. Die waren älter und sie waren es gewohnt, mit einer Pro­the­se zu lau­fen. Die Pati­en­ten, die ich heu­te aus der Ukrai­ne betreue, sind jun­ge Män­ner, denen das gera­de erst pas­siert ist.

OT: Wie ist die psy­cho­lo­gi­sche Kom­po­nen­te dabei zu bewer­ten? Die Ver­sehr­ten haben Kriegs­er­fah­run­gen gemacht, sind nun im frem­den Land, weit weg von der Familie.

Rie­pe: Das ist schwer zu sagen. Die Sprach­bar­rie­re ist da das ers­te Hin­der­nis. Ohne Dol­met­scher geht gar nichts, da hast du kei­ne Chan­ce zu kom­mu­ni­zie­ren. Eng­lisch spricht fast kei­ner aus der Ukrai­ne, ich spre­che kein Ukrai­nisch. Zum Glück gibt es im Kli­ni­kum Kulm­bach einen Arzt, der regel­mä­ßig beim Über­set­zen hilft. In Bay­reuth habe ich einen Kol­le­gen, der das macht. Und wenn gera­de kei­ner da ist, dann muss es mit Han­dyapp, Hän­den und Füßen gehen. Dann feh­len dir aber oft wich­ti­ge Infos.

OT: So rich­tig auf die Gesprächs­füh­rung mit einem trau­ma­ti­sier­ten Men­schen vor­be­rei­ten kann man sich also gar nicht?

Rie­pe: Nicht anders als bei jedem ande­ren frisch ampu­tier­ten Men­schen. Man braucht eine gewis­se Lebens- und Berufs­er­fah­rung und vor allem Fein­ge­fühl. Zunächst muss man über­haupt erst ein­mal einen Kon­takt auf­bau­en. Auch da gibt es kei­nen Unter­schied zwi­schen mei­nen Pati­en­ten. Ich schaue mir immer zuerst die Wund­ver­sor­gung an, den Zustand des Stump­fes, beur­tei­le ob und was in der Ver­sor­gung mög­lich ist, sehe mir die Mobi­li­täts­klas­se an und so wei­ter. Das Wie und Wes­halb sind dabei noch gar nicht so wichtig.

OT: Ein in der Öffent­lich­keit wenig beach­te­tes Pro­blem dürf­te die Fra­ge nach der Finan­zie­rung sein. Die Ukrainer:innen sind ja nicht gleich gesetz­lich krankenversichert.

Rie­pe: Da hat sich zum Glück inzwi­schen etwas getan. Mitt­ler­wei­le sind mei­ne ukrai­ni­schen Pati­en­ten eigent­lich alle bei der AOK. Am Anfang war das The­ma Kos­ten­über­nah­me wirk­lich ein sehr gro­ßes Pro­blem, das lief immer ent­we­der über das Land­rats­amt oder eine kom­mu­na­le Stel­le, aber immer mit gro­ßem Auf­wand. Und du kannst nicht anfan­gen, eine Inte­rims­pro­the­se zu bau­en, ohne die Kos­ten­über­nah­me geklärt zu haben. Wir reden hier ja nicht nur von ein paar hun­dert Euro. Das ist durch­aus ein Pro­blem, wenn der behan­deln­de Arzt auf eine schnel­le Ver­sor­gung drängt, der büro­kra­ti­sche Appa­rat im Hin­ter­grund aber nicht mit der Geschwin­dig­keit mit­hält. Ich bin froh, dass das jetzt bes­ser gere­gelt ist.

OT: Über die Inte­rims­pha­se hin­aus betreu­en Sie wahr­schein­lich die wenigs­ten oder?

Rie­pe: Das ist rich­tig. Die Men­schen aus der Ukrai­ne wer­den in der Regel umver­teilt. Wo sie dann lan­den, weiß ich nor­ma­ler­wei­se gar nicht. Aber ich bin ja froh, dass ich zumin­dest bei mei­nen aktu­el­len Pati­en­ten weiß, wo ich sie fin­de. Das war anfangs auch oft ziem­lich chao­tisch; ein per­ma­nen­tes Hin- und Her­lau­fen, um her­aus­zu­fin­den, wo sie leben, weil die Mel­de­adres­se nicht stimm­te. Das ist auch alles Arbeits­zeit gewe­sen, die ich lie­ber für mei­ne eigent­li­che Auf­ga­be auf­ge­wen­det hätte.

OT: Der Krieg dau­ert nun schon ein Jahr an. Was glau­ben Sie? Wird er uns hier­zu­lan­de noch län­ger beschäftigen?

Rie­pe: Das kann nie­mand sagen. Aber wenn es nach mir gin­ge, wäre der Krieg seit ges­tern vorbei.

Die Fra­gen stell­te Tama­ra Pohl.

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