OT: Wie oft kommt es vor, dass Sie ukrainische Evakuierte betreuen?
Achim Riepe: Seit Kriegsbeginn vor einem Jahr waren es acht Menschen, fünf Männer und drei Frauen, die ich in den Kliniken in Bayreuth und Kulmbach betreut habe. Das waren aber nicht alles aktive Kriegsteilnehmer. Manchmal weiß man nicht, woher sie ihre Verletzungen haben. Es gibt Fragen, die stellst du nicht einfach so.
OT: Welche Verletzungen stehen denn im Vordergrund?
Riepe: Das ist ganz unterschiedlich, da waren auch Patienten mit Polio dabei. Für die habe ich klassische Gehapparate gebaut. Das ist eine Versorgung, wie wir sie in der Bundesrepublik in den 80er- und 90er-Jahren noch ganz häufig gemacht haben – dann ist Polio dank der Schluckimpfung bei uns so gut wie verschwunden gewesen. Aber eben nicht überall auf der Welt, wie man jetzt bei den Menschen aus der Ukraine sieht. Bei den aktiven Kriegsteilnehmern sind es in der Regel Beinverletzungen, Armverluste eher weniger. Schuld sind meist Minen oder Geschosse.
OT: Sie sind seit fast 25 Jahren Meister, da haben Sie vermutlich schon zuvor mit Kriegsversehrten zu tun gehabt?
Riepe: Auf jeden Fall. Ich bin beruflich mit den Versehrten aus dem Zweiten Weltkrieg groß geworden, da habe ich einige Erfahrungen.
OT: Ist die prothetische Versorgung eines Kriegstraumas anders als die eines Unfalltraumas?
Riepe: Ob jemand sein Bein im Krankenhaus oder im Krieg verloren hat, macht eher keinen Unterschied – es ist immer etwas Traumatisches. Aber einen großen Unterschied gibt es im Vergleich zu den Versorgungen von früher: Meine Patienten mit Kriegsverletzungen damals waren nicht frisch amputiert. Die waren älter und sie waren es gewohnt, mit einer Prothese zu laufen. Die Patienten, die ich heute aus der Ukraine betreue, sind junge Männer, denen das gerade erst passiert ist.
OT: Wie ist die psychologische Komponente dabei zu bewerten? Die Versehrten haben Kriegserfahrungen gemacht, sind nun im fremden Land, weit weg von der Familie.
Riepe: Das ist schwer zu sagen. Die Sprachbarriere ist da das erste Hindernis. Ohne Dolmetscher geht gar nichts, da hast du keine Chance zu kommunizieren. Englisch spricht fast keiner aus der Ukraine, ich spreche kein Ukrainisch. Zum Glück gibt es im Klinikum Kulmbach einen Arzt, der regelmäßig beim Übersetzen hilft. In Bayreuth habe ich einen Kollegen, der das macht. Und wenn gerade keiner da ist, dann muss es mit Handyapp, Händen und Füßen gehen. Dann fehlen dir aber oft wichtige Infos.
OT: So richtig auf die Gesprächsführung mit einem traumatisierten Menschen vorbereiten kann man sich also gar nicht?
Riepe: Nicht anders als bei jedem anderen frisch amputierten Menschen. Man braucht eine gewisse Lebens- und Berufserfahrung und vor allem Feingefühl. Zunächst muss man überhaupt erst einmal einen Kontakt aufbauen. Auch da gibt es keinen Unterschied zwischen meinen Patienten. Ich schaue mir immer zuerst die Wundversorgung an, den Zustand des Stumpfes, beurteile ob und was in der Versorgung möglich ist, sehe mir die Mobilitätsklasse an und so weiter. Das Wie und Weshalb sind dabei noch gar nicht so wichtig.
OT: Ein in der Öffentlichkeit wenig beachtetes Problem dürfte die Frage nach der Finanzierung sein. Die Ukrainer:innen sind ja nicht gleich gesetzlich krankenversichert.
Riepe: Da hat sich zum Glück inzwischen etwas getan. Mittlerweile sind meine ukrainischen Patienten eigentlich alle bei der AOK. Am Anfang war das Thema Kostenübernahme wirklich ein sehr großes Problem, das lief immer entweder über das Landratsamt oder eine kommunale Stelle, aber immer mit großem Aufwand. Und du kannst nicht anfangen, eine Interimsprothese zu bauen, ohne die Kostenübernahme geklärt zu haben. Wir reden hier ja nicht nur von ein paar hundert Euro. Das ist durchaus ein Problem, wenn der behandelnde Arzt auf eine schnelle Versorgung drängt, der bürokratische Apparat im Hintergrund aber nicht mit der Geschwindigkeit mithält. Ich bin froh, dass das jetzt besser geregelt ist.
OT: Über die Interimsphase hinaus betreuen Sie wahrscheinlich die wenigsten oder?
Riepe: Das ist richtig. Die Menschen aus der Ukraine werden in der Regel umverteilt. Wo sie dann landen, weiß ich normalerweise gar nicht. Aber ich bin ja froh, dass ich zumindest bei meinen aktuellen Patienten weiß, wo ich sie finde. Das war anfangs auch oft ziemlich chaotisch; ein permanentes Hin- und Herlaufen, um herauszufinden, wo sie leben, weil die Meldeadresse nicht stimmte. Das ist auch alles Arbeitszeit gewesen, die ich lieber für meine eigentliche Aufgabe aufgewendet hätte.
OT: Der Krieg dauert nun schon ein Jahr an. Was glauben Sie? Wird er uns hierzulande noch länger beschäftigen?
Riepe: Das kann niemand sagen. Aber wenn es nach mir ginge, wäre der Krieg seit gestern vorbei.
Die Fragen stellte Tamara Pohl.
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