Sym­po­si­um: 100 Jah­re Tech­ni­sche Ortho­pä­die Heidelberg

„Schön, dass Sie mit uns feiern wollen!“ Mit diesen Worten begrüßte Beate Flügel, eine der Referentinnen, ihr Publikum und hätte den Anlass für das Symposium kaum besser auf den Punkt bringen können. 100 Jahre sind ein stolzes Jubiläum in der OT-Branche.

Die Tech­ni­sche Ortho­pä­die Hei­del­berg (TOH) am Zen­trum für Ortho­pä­die, Unfall­chir­ur­gie und Para­ple­gio­lo­gie des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Hei­del­berg kann dar­auf ver­wei­sen und ver­an­stal­te­te fol­ge­rich­tig unter der wis­sen­schaft­li­chen Lei­tung von Dr. med. Cor­ne­lia Putz und Dipl.-Ing. Mer­kur Ali­mus­aj am 10. und 11. Mai ihr Hei­del­ber­ger Sym­po­si­um, das mit ca. 150 Besu­chern guten Zuspruch fand.

Anzei­ge

Begrü­ßung, Fest­li­ches und Standortbestimmung

Irm­traut Gür­kan, kauf­män­ni­sche Direk­to­rin des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Hei­del­berg (UKHD), und PD Dr. med. Burk­hard Leh­ner, kom­mis­sa­ri­scher Ärzt­li­cher Direk­tor des Zen­trums, begrüß­ten das Publi­kum zum Auf­takt der Ver­an­stal­tung. Als Lehr­an­stalt für die Kriegs- und Unfall­ge­schä­dig­ten gegrün­det, gin­gen und gehen Ortho­pä­di­sche Kli­nik und TOH damals wie heu­te Hand in Hand und ver­ste­hen sich als ver­sor­gen­de, for­schen­de und leh­ren­de Insti­tu­ti­on. Was als Stif­tung begann, ist inzwi­schen inte­gra­ler Bestand­teil des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums, wie Irm­traut Gür­kan ver­deut­lich­te, die in die­sem Zusam­men­hang eini­ge Eck­da­ten ver­mit­tel­te: 89 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter der TOH ver­sor­gen über 5.000 Pati­en­ten pro Jahr. Der 2015 bezo­ge­ne Neu­bau sorgt für zeit­ge­mä­ße Bedin­gun­gen in den Werk­stät­ten und Patientenbereichen.

Prof. Dr. Vol­ker Ewer­beck, ehe­ma­li­ger Ärzt­li­cher Direk­tor des Hau­ses, ging in sei­nem ein­lei­ten­den Vor­trag auf die Ent­wick­lung der letz­ten 100 Jah­re ein und stell­te in die­sem Zusam­men­hang Fra­gen wie die fol­gen­den in den Mit­tel­punkt: Wie lässt sich Tech­ni­sche Ortho­pä­die defi­nie­ren? Wer braucht sie, wer macht sie, wer beherrscht Tech­ni­sche Ortho­pä­die, und wie posi­tio­niert sie sich im sozio­öko­no­mi­schen Umfeld? Selbst Insi­der, die dies für leicht zu beant­wor­ten­de Fra­gen hiel­ten, muss­ten fest­stel­len, dass begin­nend mit der Defi­ni­ti­on die ein­schlä­gi­gen Begrif­fe des Faches klä­rungs­be­dürf­tig sind und stets aufs Neue geklärt wer­den müssen.

Dipl.-Ing. Mer­kur Ali­mus­aj (Lei­ter der TOH) ver­or­te­te anschlie­ßend das eige­ne Haus zwi­schen Hand­werk und For­schung. Dabei stell­te er sich auch der For­de­rung nach Evi­denz im ortho­pä­die­tech­ni­schen Han­deln: Auch in einem Bereich, in dem die Befun­de kom­plex und die Fall­zah­len klein sei­en, müs­se es mög­lich sein, Evi­denz auch als „evi­dence-based prac­ti­ce“ zu ver­ste­hen, for­der­te Ali­mus­aj und skiz­zier­te damit die Basis für die nach­fol­gen­den Bei­trä­ge. Im sel­ben Zusam­men­hang ver­wies er auf das Pro­the­sen­re­gis­ter, das die Hei­del­ber­ger Kli­nik in eige­ner Initia­ti­ve auf­baut, um eine vali­de Daten­ba­sis zur Dis­kus­si­on um Pro­the­sen­ver­sor­gun­gen zu schaffen.

Prof. Dr. med. Bern­hard Grei­temann (Kli­nik Müns­ter­land, Bad Rothen­fel­de) ging in sei­nem Vor­trag durch­aus selbst­kri­tisch mit der ärzt­li­chen Zunft um: Die Qua­li­tät von Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen sei aus­ge­rech­net bei Ortho­pä­den unter­durch­schnitt­lich gut, und die Fort­bil­dung der Ärz­te in der Tech­ni­schen Ortho­pä­die müs­se inten­si­viert wer­den. Grei­temann for­der­te die Hei­del­ber­ger Kli­nik auf, nicht dem Bei­spiel sei­ner ehe­ma­li­gen Wir­kungs­stät­te in Müns­ter zu fol­gen und die kon­ser­va­ti­ve Ortho­pä­die nicht preiszugeben.

Brau­chen wir nicht­ärzt­li­che Aka­de­mi­ker in der Tech­ni­schen Ortho­pä­die? Ja, sagt Prof. Dr. med. Frank Bra­atz (PFH, Göt­tin­gen). Er ver­wies in sei­nem Refe­rat auf die beschleu­nig­te tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung in Pro­the­tik und Orthe­tik und stell­te die ent­spre­chen­den Stu­di­en­gän­ge in Deutsch­land vor. Eine aka­de­mi­sche Aus­bil­dung in Tech­ni­scher Ortho­pä­die ist für Bra­atz auch eine Ant­wort auf den zuneh­men­den Fach­kräf­te­man­gel der Branche.

Ortho­pä­die und Tech­ni­sche Orthopädie

Was kann unser Fach heu­te leis­ten? Das war die unaus­ge­spro­che­ne Fra­ge hin­ter den Vor­trä­gen im wei­te­ren Ver­lauf des Sym­po­si­ums. Eines war dabei klar und wur­de von vie­len Refe­ren­tin­nen und Refe­ren­ten betont: Bes­te Ergeb­nis­se in der Ver­sor­gung von Men­schen mit Behin­de­rung las­sen sich nur erzie­len, wenn Ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie, Tech­ni­sche Ortho­pä­die und Bio­me­cha­nik sich ergän­zen. Fol­ge­rich­tig sah das Pro­gramm einen kon­ti­nu­ier­li­chen Wech­sel zwi­schen ärzt­li­chen und tech­ni­schen Vor­trä­gen vor.

Die Fra­ge nach der Evi­denz auf­grei­fend beschäf­tig­ten sich Prof. Dr. Sebas­ti­an Wolf und Dipl.-Ing Dani­el Heit­zmann (bei­de UKHD) mit der Bewe­gungs­ana­ly­se und dem in die­sem Zusam­men­hang Mess­ba­ren in der Ortho­pä­die-Tech­nik. Zwar geht eine Bewe­gungs­ana­ly­se grund­sätz­lich mit einer Quan­ti­fi­zie­rung ein­her, aber Wolf war es wich­tig, auch das Qua­li­ta­ti­ve sei­ner Mess­ergeb­nis­se zu beto­nen. In die­sem Zusam­men­hang stell­te er klar, dass sinn­vol­les Mes­sen nicht erst dann begin­ne, wenn man einen maxi­ma­len appa­ra­ti­ven Auf­wand getrie­ben habe.

Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit neu­ro­or­tho­pä­di­schen Erkran­kun­gen stan­den im Blick­feld eines Kom­ple­xes meh­re­rer Vor­trä­ge: Fuß­de­for­mi­tä­ten, Duchen­ne, spi­na­le Mus­kel­atro­phie (SMA), AFO/KAFO/modulare KAFO oder neu­ro­ge­ne Sko­lio­sen lau­te­ten die Stich­wor­te in die­sem Zusam­men­hang. Nach­rich­ten, die Betrof­fe­ne und ihre Fami­li­en in die­sem Zusam­men­hang erhal­ten, sind oft nicht leicht zu akzep­tie­ren. Umso posi­ti­ver wur­de es auf­ge­nom­men, dass Dr. Andre­as Zieg­ler vom UKHD aus­ge­spro­chen gute Nach­rich­ten für den Bereich der spi­na­len Mus­kel­atro­phien zu ver­mel­den hat­te: Die phar­ma­ko­lo­gi­sche SMA-The­ra­pie ste­he aktu­ell vor einem Quan­ten­sprung. Zwar dämpf­te Zieg­ler die Hoff­nun­gen inso­fern, als nicht alle SMA-asso­zi­ier­ten Pro­ble­me durch eine sol­che Gen­er­satz­the­ra­pie gelöst wer­den könn­ten, aber Lebens­er­war­tung und Pro­gno­se ver­bes­ser­ten sich für die Betrof­fe­nen in Zukunft deutlich.

Dipl.-Ing. Julia Block vom UKHD berich­te­te anschlie­ßend über eine von ihr selbst durch­ge­führ­te Stu­die zur Lebens­qua­li­tät von Orthe­sen­pa­ti­en­ten, und auch sie konn­te Über­ra­schen­des berich­ten: Die von ihr befrag­ten KAFO-Pati­en­ten beur­teil­ten ihre Lebens­qua­li­tät mit dem Hilfs­mit­tel im Durch­schnitt bes­ser als AFO-Pati­en­ten. Block räum­te zwar ein, dass sta­tis­ti­sche Effek­te bei die­sem Ergeb­nis eine Rol­le gespielt haben könn­ten, gleich­wohl gaben ihre Aus­sa­gen Anlass zu Dis­kus­si­on und Interpretation.

Der nächs­te The­men­schwer­punkt behan­del­te Dys­me­lie, Ampu­ta­ti­on und die damit ein­her­ge­hen­den pro­the­ti­schen bezie­hungs­wei­se orthop­ro­the­ti­schen Ver­sor­gun­gen. Soll man Dys­me­lie-Pati­en­ten eine Ampu­ta­ti­on anbie­ten oder nicht? Dr. M. Göt­ze (UKHD) war es wich­tig dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die­se Fra­ge weder abschlie­ßend noch in allen Fäl­len gleich beant­wor­tet wer­den kön­ne. Mer­kur Ali­mus­aj stell­te in die­sem Zusam­men­hang für aus­ge­wähl­te Fäl­le einen soge­nann­ten Trak­ti­ons­li­ner zur Dis­kus­si­on – ein Stich­wort, das Pro­the­ti­kern zunächst Sor­gen­fal­ten auf die Stirn treibt. Ali­mus­aj mach­te jedoch deut­lich, dass er im begrün­de­ten Ein­zel­fall auch den Mut hat, unor­tho­do­xe Wege zu gehen.

Boris Bert­ram (UKHD) hol­te die Ortho­pä­die-Tech­nik anschlie­ßend wie­der auf den „Boden der Tat­sa­chen“ zurück. Der tech­ni­sche Fort­schritt in der Arm­pro­the­tik galop­pie­re gera­de­zu und befeue­re die Fan­ta­sie in und außer­halb des Faches. Trotz­dem sei, so stell­te Bert­ram fest, „die natür­li­che Hand tech­nisch noch nicht reproduzierbar“.

Dr. Cor­ne­lia Putz (UKHD) griff in ihrem Bei­trag den Tenor von Bern­hard Grei­temann auf und ging eben­falls mit ihren ärzt­li­chen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ins Gericht: Wenn es um Ampu­ta­tio­nen gehe, fehl­ten in Deutsch­land Stan­dards, ärzt­li­che Spe­zia­li­sie­run­gen und Pro­blem­be­wusst­sein, beklag­te Putz und reg­te damit eine inten­si­ve Dis­kus­si­on an. Das Publi­kum ani­mie­rend refe­rier­te auch PD Dr. med. Burk­hard Leh­ner in sei­nem Vor­trag zum The­ma „Ampu­ta­ti­on ver­sus extre­mi­tä­ten­er­hal­ten­de Ope­ra­tio­nen bei Tumo­ren“. Die­se Alter­na­ti­ve sei mitt­ler­wei­le mit deut­li­cher Mehr­heit für den Extre­mi­tä­ten­er­halt ent­schie­den wor­den – trotz häu­fi­ge­rer Revi­sio­nen bei den erhal­ten­den Ope­ra­tio­nen. Dass Leh­ner die Mög­lich­keit von Umkehr­plas­ti­ken ledig­lich als Aus­nah­me­op­ti­on dar­stell­te, ergab neu­en Diskussionsstoff.

Prof. Dr. Sieg­mar Blu­men­tritt von der PFH Göt­tin­gen stell­te in sei­nem Bei­trag die Bedeu­tung der Bio­me­cha­nik als Grund­la­ge für ortho­pä­die­tech­ni­sches Han­deln her­aus und illus­trier­te sei­ne The­sen mit einem Ver­gleich zwi­schen knö­chel­frei­er und sprung­ge­len­küber­grei­fen­der Fuß­pro­the­tik. Der Pro­the­ti­ker Frank Rating vom UKHD sah das nicht anders und beton­te in sei­nem anschlie­ßen­den Vor­trag die Not­wen­dig­keit eines bio­me­cha­ni­schen Ver­ständ­nis­ses, um aktu­el­le Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten in der Bein­pro­the­tik umset­zen zu kön­nen. Eine Pro­the­se ledig­lich bereit­zu­stel­len ist jedoch nicht der abschlie­ßen­de Ver­sor­gungs­schritt, und so zeig­te T. Lem­lein (UKHD) den Weg des Pati­en­ten durch die Pro­the­sen­ge­brauchs­schu­le auf.

Aus der Per­spek­ti­ve der Betrof­fe­nen resü­mier­te schließ­lich Sabi­ne Mees (Hei­del­berg) das Vor­ge­tra­ge­ne. Mees ist aktiv in der Grup­pe „Bein­am­pu­tiert-was-geht“ und berich­te­te ein­drück­lich von ihrer Arbeit als „Peer im Krankenhaus“.

Work­shops für alle

Der abschlie­ßen­de Nach­mit­tag gab dem Fach­pu­bli­kum und auch der inter­es­sier­ten Öffent­lich­keit die Mög­lich­keit, in ver­schie­de­nen Werk­stät­ten und Labo­ren die Tech­ni­sche Ortho­pä­die und das Spek­trum ihrer Mög­lich­kei­ten live zu erle­ben. Aus dra­ma­tur­gi­scher Sicht setz­te der Ver­an­stal­ter mit die­sem Schluss­pro­gramm das Tüp­fel­chen aufs „i“.

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