Nach einem Jahrzehnt fand der ISPO-Kongress erstmals wieder in Europa statt. Gastgeberländer waren neben Schweden auch Norwegen, Großbritannien und die Niederlande – ein Zusammenschluss, der sich nicht nur organisatorisch, sondern auch visuell im Kongresslogo widerspiegelte: Die Flaggen der vier Länder wurden durch ein verbindendes Symbol – einen Leuchtturm – vereint. Ein Zeichen für Orientierung, Zusammenhalt und Aufbruch.
Interdisziplinarität im Mittelpunkt
Unter dem Motto „Science in Practice, Practice in Science: Collaboration and innovation towards sustainable rehabilitation“ bot der Kongress eine Plattform, die Wissenschaft und Praxis konsequent miteinander verknüpfte. In zahlreichen Programmpunkten standen die aktuellen Entwicklungen in der Prothetik, Orthetik sowie der gesamten Hilfsmittelversorgung im Fokus – stets mit Blick auf Nachhaltigkeit und interdisziplinäre Versorgungskonzepte.
Vertreterinnen und Vertreter aus Orthopädie-Technik, Rehabilitationsmedizin, Physiotherapie, Ergotherapie, Biomechanik sowie Wissenschaft und Forschung kamen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen, Best-Practice-Beispiele zu diskutieren und gemeinsam Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Die wissenschaftlichen Sitzungen, praxisorientierten Workshops und der interaktive Austausch zeigten einmal mehr, wie wertvoll grenz- und fachübergreifende Zusammenarbeit ist.
Neue Formate für neue Generationen
Mit neuen Programmpunkten wie dem „Technical Track“ und der „3 Minute Thesis Student Competition“ setzte der Kongress gezielt Impulse für den Nachwuchs in der Branche. Ziel war es, junge Fachkräfte aktiv einzubinden und praxisnahe Inhalte zu vermitteln – ein Ansatz, der auf große Resonanz stieß. „Diese Formate haben es uns ermöglicht, frische Perspektiven einzubringen und gleichzeitig die Brücke zwischen Praxisalltag und Forschung zu schlagen“, betonte ISPO-Präsident David Constantine, der als erster Kongresspräsident selbst Rollstuhlnutzer ist – ein starkes Symbol für Inklusion und gelebte Vielfalt innerhalb der ISPO.
Spitzenforschung trifft auf persönliche Geschichten
Ein weiteres Highlight bildeten die Keynotes folgender international renommierter Fachleute, die aktuelle Forschungsergebnisse und Visionen vorstellten. Prof. Han Houdijk ist Professor für Klinische Bewegungswissenschaften am University Medical Center und an der Universität Groningen (Niederlande). In seiner wissenschaftlichen Arbeit befasst er sich vorrangig mit der Wiederherstellung der Gehfähigkeit bei unterschiedlichen Patientengruppen sowie mit dem gezielten Einsatz von Hilfsmitteln. Als ehemaliger Präsident der ISPO Niederlande und Initiator der Prothese Academie engagiert er sich seit Jahren für die praxisnahe Weiterentwicklung der Versorgung.
Chapal Khasnabis, Orthopädietechniker und Senior Advisor für Assistive Technology bei der Asiatischen Entwicklungsbank in Genf, prägte über zwei Jahrzehnte hinweg die globale Entwicklung im Bereich der Hilfsmittelversorgung. Während seiner langjährigen Tätigkeit bei der WHO (2003–2023) war er maßgeblich an der Entwicklung internationaler Richtlinien, Ausbildungsstandards sowie globaler Initiativen wie GATE (Global Cooperation on Assistive Technology) beteiligt. Heute setzt er sich insbesondere für den Ausbau der Hilfsmittelindustrie in Asien und darüber hinaus ein.
Prof. Silvestro Micera lehrt Bioelektronik an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa sowie an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, wo er den Bertarelli Foundation Chair in Translational Neuroengineering innehat. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Entwicklung moderner Neuroprothesen, mit dem Ziel, sensorische und motorische Funktionen bei Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wiederherzustellen.
Dr. Paula Rushton ist Associate Professor und Direktorin an der School of Occupational Therapy der Dalhousie University in Halifax (Kanada). Ihre Forschung konzentriert sich auf die Mobilitätsförderung von Rollstuhlnutzern. In Zusammenarbeit mit der International Society of Wheelchair Professionals (ISWP) setzt sie sich dafür ein, das Thema Rollstuhlversorgung nachhaltig in die Ausbildungsprogramme von Gesundheitsberufen weltweit zu integrieren.
Ein besonderer emotionaler Moment war die Inspirational Lecture der IC2A, gehalten vom schwedischen Unternehmer und ehemaligen Paralympioniken Christoffer Lindhe. Nach einem schweren Unfall verlor er beide Beine und einen Arm – und gründete später sein eigenes Prothesenunternehmen. Seine eindrucksvolle Lebensgeschichte berührte das Publikum tief und erinnerte daran, was Motivation, Technik und Mut gemeinsam bewirken können.

Ausstellung bietet globalen Überblick
Parallel zum Fachprogramm präsentierte die internationale Industrieausstellung rund 150 Unternehmen aus mehr als 15 Ländern, darunter sowohl Marktführer als auch Start-ups. Gezeigt wurde die ganze Bandbreite der modernen Hilfsmittelversorgung: von Prothesen und Orthesen über Rollstuhltechnik bis hin zu digitalen Tools und Additiver Fertigung. Die Ausstellung verdeutlichte eindrucksvoll, wie stark der technologische Fortschritt die Branche aktuell prägt, und wie wichtig es ist, diesen in Versorgungsprozesse und Alltagspraxis zu integrieren.
Nicht nur fachlich, auch atmosphärisch bot Stockholm den idealen Rahmen für diesen Jubiläumskongress. In der besonderen Stimmung der Mittsommernächte wurde die Veranstaltung zu einem unvergesslichen Erlebnis. Lange Tage, laue Nächte und eine inspirierende Atmosphäre begleiteten den intensiven Austausch der internationalen Community. „Der Kongress war nicht nur ein Ort des Wissensaustauschs, sondern auch ein Raum für echte Begegnung“, resümierte David Constantine. „Wir haben gezeigt, wie Innovation, Zusammenarbeit und Vielfalt die Zukunft der Hilfsmittelversorgung gestalten können.“
Nächster Halt: Bangkok
Mit dem erfolgreichen 20. ISPO-Weltkongress hat die internationale Gemeinschaft der Prothetik- und Orthetik-Fachwelt ein starkes Zeichen für globale Kooperation, interdisziplinäre Versorgung und eine nachhaltige Weiterentwicklung der Branche gesetzt. Der Blick ist nun nach vorn gerichtet: auf neue Forschungsprojekte, internationale Bildungsinitiativen und den nächsten ISPO-Weltkongress.
Sandra Ramdial, neu gewählte Präsidentin der ISPO, gab im Rahmen der Abschlussveranstaltung bekannt, dass der 21. ISPO-Weltkongress vom 22. bis 25. März 2027 in Bangkok, Thailand, stattfinden wird. Die südostasiatische Metropole wird damit Austragungsort für die nächste globale Zusammenkunft der Fachwelt – und verspricht schon jetzt, neue Impulse und Perspektiven für die Hilfsmittelversorgung in einer dynamisch wachsenden Region zu setzen.
Tino Sprekelmeyer
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