Der Gesetzgeber hat mit dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), welches zum 01.03.2025 in Kraft getreten ist, in § 33 Absatz 5c SGB V eine Neuregelung geschaffen, die der Beschleunigung von Bewilligungsverfahren im Hilfsmittelbereich in besonders gelagerten Fällen dienen soll. Die gesetzliche Neuregelung entlastet die Beteiligten und reduziert bürokratische Aufwände. Es wurde erkannt, dass zur Sicherung der Teilhabe sowie einer möglichst selbstständigen Lebensführung und einer damit einhergehenden Lebensqualität sowie zur Vermeidung von Begleit- und Folgeerkrankungen eine zeitnahe Versorgung der Betroffenen mit medizinischen Hilfsmitteln von großer Wichtigkeit ist.
Insbesondere ist bei noch im Wachstum befindlichen Kindern oder jungen Erwachsenen eine gleichmäßige hilfsmittelgestützte Förderung der kognitiven und motorischen Entwicklung sowie eine frühzeitige und kontinuierliche Mobilisation ein positiver Aspekt, der Beeinträchtigungen im täglichen Leben stark beeinflussen kann. Bei der Beantragung von medizinischen Hilfsmitteln werden nach der gesetzgeberischen Grundausrichtung Leistungsanträge durch die Krankenkassen selbst oder durch den medizinischen Dienst (MD) geprüft. Eine zentrale Rolle bei der Prüfung gestellter Anträge spielt die Frage, ob das beantragte Hilfsmittel im Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen ist, um dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot der gesetzlichen Krankenversicherung zu genügen.
Die Frage der Geeignetheit beurteilt sich danach, ob das beantragte Hilfsmittel aufgrund seiner technischen Konfiguration die Eignung aufweist, den vorhandenen Funktionsverlust beim Versicherten auszugleichen. Die Frage der Angemessenheit beurteilt die Kosten-Nutzen-Relationen der angestrebten Versorgung. Hierbei sind die spezifischen Besonderheiten des Einzelfalls im Hinblick auf die zu befriedigenden Grundbedürfnisse zu beachten.
Hauptaugenmerk in der Prüfung liegt regelmäßig auf der Erforderlichkeit des Hilfsmittels. Häufig werden Leistungsanträge an den MD überstellt, wodurch es zu enormen Verzögerungen in der Bewilligungspraxis kommt. Für die Frage der Erforderlichkeit ist es maßgebend, ob das Hilfsmittel nach dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft („evidence based“) zur Erreichung der in § 33 Abs. 1 SGB V genannten Versorgungsziele objektiv erforderlich ist. Dabei ist auch zu prüfen, inwieweit bereits eine Ausstattung mit entsprechenden oder ähnlichen Hilfsmitteln vorliegt und gegebenenfalls das beantragte Hilfsmittel eine Überversorgung darstellt.
Mit der Neuregelung des § 33 Abs. 5c SGB V setzt der Gesetzgeber für bestimmte Versorgungkonstellationen an der hoch umkämpften Diskussionszone der Erforderlichkeit an, indem er einen gesetzlichen Vermutungstatbestand schafft. So wird nach der geschaffenen Neuregelung die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels vermutet, wenn das Hilfsmittel durch behandelnde Vertragsärzte eines sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) oder eines medizinischen Behandlungszentrums für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) empfohlen wird.
Eine regelhafte gesonderte Prüfung der medizinischen Erforderlichkeit durch Krankenkasse oder MD soll angesichts der besonderen Eilbedürftigkeit bei der Versorgung und der notwendigen Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhabe der betroffenen Versicherten nicht mehr notwendig sein. Die Krankenkassen haben in den vorgenannten Fällen von einer medizinischen Erforderlichkeit auszugehen, soweit nicht offenkundig ist, dass eine medizinische Erforderlichkeit der beantragten Hilfsmittelversorgung nicht vorliegt, etwa im Fall von offensichtlich nicht gerechtfertigten, unwirtschaftlichen Mehrfachversorgungen.
Mit der geschaffenen gesetzlichen Vermutung wird die Beweislast im Rahmen der Beantragung von Hilfsmitteln neu justiert. Durch die gesetzliche Vermutung wird bei der Rechtsanwendung das Vorliegen einer tatsachenbasierenden Rechtsvermutung (konkret: die Erforderlichkeit des Hilfsmittels) unterstellt. Im Streitfall hat ein Richter die gesetzliche Vermutung seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, sofern die Vermutung durch die Krankenkasse nicht widerlegt wird oder ihr der Beweis des Gegenteils gelingt.
Für die Versicherten wird damit die Position im leistungsrechtlichen Verfahren verbessert, und es ist anzunehmen, dass streitige Auseinandersetzungen durch Krankenkassen nur im Ausnahmefall geführt werden. Ein eigener Prüfraum steht Krankenkassen im Bereich der Erforderlichkeit lediglich bei der Frage der Beurteilung vorhandener Hilfsmittel oder bei der Frage von Mehrfachausstattungen zu. Die Schwelle für eine medizinische Gegenargumentation durch den MD ist durch die Aufwertung der Kompetenzen von SPZ und MZEB aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes deutlich erhöht.
Es bleibt abzuwarten, wie die Krankenkassen die gesetzliche Neuregelung ausfüllen werden. Leistungserbringer, die auf Versorgungen von Versicherten in SPZ und MZEB spezialisiert sind, sollten in Zukunft ihren Blick auf die Handhabung und Praxis der Krankenkassen richten und die Frage einer Regelpraxis oder Einzelfallhandhabung bei der Prüfung der Erforderlichkeit kritisch beleuchten. Bei einer offensichtlich fehlgeleiteten Handhabung, trotz gesetzlicher Vermutung, wäre hier die Rechtsaufsicht der Krankenkassen der erste Ansprechpartner. Zudem stellen sich Fragen zur Umsetzung in der Praxis: Wie lässt sich schnell erkennen, dass das Rezept aus einem SPZ oder MZEB stammt, wie werden entsprechende Kostenvoranschläge sichtbar übermittelt?
Diskutiert werden verschiedene Lösungsansätze, unter anderem der händische Vermerk auf der Verordnung, die Aufnahme eines Hinweises zu § 33 Abs. 5c SGB V im eKV, die Aufnahme eines Klammerzusatzes im Arztstempel zur Kennzeichnung eines SPZ/MZEB oder digitale Lösungen wie maschinenlesbare Zusätze auf der Verordnung selbst. Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen wird sich zukünftig in der praktischen Umsetzung zeigen.
Die Neuregelung im SGB V wurde zudem flankiert durch einen umfangreichen Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses (G–BA), durch den die Richtlinie über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Hilfsmittelrichtlinie) mit Wirkung zum 16.05.2025 grundlegend überarbeitet wurde.
Der G‑BA hatte bereits im Jahr 2023 mit einem Beratungsverfahren begonnen, um die Hilfsmittelrichtlinie mit Blickpunkt auf die Versorgung von Menschen mit komplexen Behinderungen zu überprüfen. Nach Darstellung des G‑BA gestaltete sich die Feststellung des genauen Bedarfs, die ärztliche Verordnung und auch der Genehmigungsprozess bei bestimmten Patientengruppen oft anspruchsvoll und zeitintensiv. Mit der Überarbeitung der Hilfsmittelrichtlinie stand das Ziel der Vereinfachung des komplizierten Prüf- und Genehmigungsprozesses sowie die Gewährleistung einer schnelleren Versorgung mit Hilfsmitteln.
Die neu gestaltete Hilfsmittelrichtlinie enthält unter § 3 erstmals die Formulierung eines sogenannten Versorgunganspruchs, der dann besteht, wenn eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen und dadurch auch die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern ist, soweit es sich nicht um Leistungen von anderen Leistungsträgern handelt.
Hierdurch wird die Teilhabe von schwer erkrankten und behinderten Menschen erheblich gestärkt. Weiterhin wird durch die neue Hilfsmittelrichtlinie das Ausstellen von vertragsärztlichen Verordnungen erleichtert. Zukünftig dürfen Hilfsmittelverordnungen auch per Videosprechstunde und in Ausnahmefällen sogar auf Basis lediglich eines telefonischen Kontaktes ausgestellt werden. Versicherte erhalten zudem einen besseren Informationszugang zur Hilfsmittelversorgung. Sie können unter bestimmten Voraussetzungen die Erstellung eines sogenannten Teilhabeplans gegenüber der Krankenkasse beanspruchen. Wesentlich und prägend ist die Erweiterung der inhaltlichen Ausgestaltung einer vertragsärztlichen Verordnung.
Hilfsmittelverordnungen können künftig durch weitere, die Verordnung konkretisierende Unterlagen ergänzt werden. So können nun auch Hinweise auf spezifische Bedarfe in der Verordnung gegeben werden. Dies sollen unter anderem die maßgeblichen Versorgungsziele, relevante Kontextfaktoren und Synergien sowie Ausführungen zu Funktionalitäten und wesentlichen Gebrauchsvorteilen und deren Auswirkungen auf die Versorgungsziele sein. Es können der Verordnung nunmehr auch gesonderte Anlagen beigefügt werden, die durch die Krankenkassen zu berücksichtigen sind.
Die Überarbeitung der Hilfsmittelrichtlinie stärkt deutlich die Bedeutung von medizinischen Hilfsmitteln im Versorgungssystem. Wie stark und in welcher konkreten Ausprägung Vertragsärzte zukünftig die Vorgaben der Richtlinie umsetzen werden, wird sich zeigen. Dies setzt allerdings voraus, dass den Vertragsärzten zukünftig wieder mehr Zeit verbleibt, um sich mit den spezifischen Belangen ihrer Patienten intensiver zu befassen.
Beide vorgestellten Initiativen und deren konkrete Umsetzung zeigen den richtigen Weg zu Aufwertung von medizinischen Hilfsmitteln im Versorgungalltag auf. Die Nutzung der neuen Möglichkeiten führt über Aufklärung und Wissen zur Anwendung und Wirkung der medizinischen Hilfsmittel, mithin zu einer Verbesserung der ärztlichen Ausbildung, insbesondere im Bereich der technischen Orthopädie. Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), die Initiative ‘93, die Vereinigung Technische Orthopädie (VTO) und die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) setzen sich seit Jahren nachhaltig für eine Verbesserung der entsprechenden Ausbildungsinhalte für die Ärzteschaft ein.
Nico Stephan
- G‑BA vereinfacht Zugang zu Hilfsmitteln — 27. Juni 2025
- Neue Wege in der Patientenversorgung — 26. Juni 2025
- 50 Jahre OTWorld — 25. Juni 2025