Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner kritisieren insbesondere die auf irreführenden Zahlen beruhende Argumentation der Krankenkassen und warnen vor massiven Qualitätseinbußen und langfristig steigenden Kosten in der Versorgung, sollten Ausschreibungen erneut eingeführt werden. Sie appellieren an den Bundesminister für Gesundheit, nachhaltige Reformen durchzuführen und sich für Entbürokratisierung, Digitalisierung und die Einführung eines vereinheitlichten, niedrigeren Mehrwertsteuersatzes auf Hilfsmittel einzusetzen, statt über gescheiterte Instrumente der Vergangenheit zu diskutieren. Die Erstunterzeichner sind: Wir versorgen Deutschland (WvD), Internationale Fördergemeinschaft Rehakind e. V., der Bundesverband für Menschen mit Arm- und Beinamputationen (BMAB) e. V., Spectaris – Deutscher Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik e. V., der Bundesverband spezielle Lebensmittel (Diätverband) e. V., Ottobock.care, die Lipödem Hilfe Deutschland e. V., der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) e. V. sowie die Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten (FGQ) e. V. in Deutschland.
Der Offene Brief im Wortlaut:
Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Hilfsmittelversorgung sichern – keine Rückkehr zur Ausschreibungspraxis!
Sehr geehrter Herr Bundesminister,
die Hilfsmittelversorger in unserem Land sichern Millionen von Menschen eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe und individuelle Versorgung mit passenden Hilfsmitteln. Sie ermöglichen damit gerade Menschen mit Behinderungen sowie Seniorinnen und Senioren die Verbesserung ihrer Lebensqualität, gesellschaftliche Teilhabe und in vielen Fällen eine sichere Versorgung in den eigenen vier Wänden. Damit leistet die Hilfsmittelversorgung zugleich einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung der ambulanten Versorgung und zur Entlastung von Pflegeanbietern und Krankenhäusern in Deutschland. Zugleich vermeidet eine hochwertige und individuelle Hilfsmittelversorgung teure Folgekosten in der Gesundheitsversorgung und entlastet somit auch langfristig die Kostenträger und damit die Beitragszahlerinnen und ‑zahler.
Keine Rückkehr zum gescheiterten Instrument der Ausschreibungen!
Gerade angesichts dieses wichtigen Beitrages zur Gesundheitsversorgung sehen wir mit großer Sorge die aktuell von Seiten der Krankenkassen massiv forcierte Diskussion über eine Rückkehr zum bereits in der Vergangenheit eklatant gescheiterten Instrument der Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung. Mit irreführenden Zahlen über angebliche hohe Kostensteigerungen im Hilfsmittelbereich seit Ende der Ausschreibungspraxis wird eine Angstdebatte geschürt, die sowohl an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten sowie an der wirtschaftlichen Realität völlig vorbeigeht.
Ausschreibungen gefährden massiv die Versorgungsqualität
Die Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt: Ausschreibungen führen zu einer reinen Billigversorgung und gefährden massiv die Patientenversorgung! Der Gesetzgeber selbst hat 2019 die Abschaffung von Ausschreibungen sowie damit verbundener Instrumente wie Open House Verträge und Festpreise mit der Gefährdung der Versorgungsqualität begründet. Alle vorherigen Versuche, über angebliche Qualitätskriterien bei der Ausschreibungspraxis und die Aufsichtsbehörden die Versorgungsqualität zu sichern, waren krachend gescheitert. Vor diesem Hintergrund erscheint es zynisch, dass der GKV-SV in der Wiedereinführung von Ausschreibungen nun ein Instrument für den Qualitätswettbewerb sehen will. Klar ist: Ausschreibungen werden (wieder) zu einem Billigwettbewerb auf Kosten der Rechte und Teilhabe der betroffenen Patientinnen und Patienten führen. Wir appellieren an Sie, lassen Sie es nicht dazu kommen!
Ausschreibungen führen zu steigenden Kosten
Ausschreibungen gefährden aber nicht nur die Qualität, sondern auch die Wirtschaftlichkeit in der Versorgung. Wird in der Folge von Billigausschreibungen zum Beispiel bei der Inkontinenzversorgung gespart, drohen Entzündungen, Wunden und damit zusätzliche Behandlungen und Belastungen für die Betroffenen sowie Mehraufwände in der Pflege. Mit entsprechenden Folgekosten für die Kostenträger und damit letztlich für die Beitragszahlerinnen und ‑zahler. Entgegen der verzerrenden Darstellung der Krankenkassen lassen sich zudem seit Jahren für die Gesamtausgaben im Hilfsmittelbereich keine überdurchschnittlichen Kostensteigerungen feststellen. Weder die Einführung der Ausschreibungen 2007 noch ihre Abschaffung 2019 hat zu besonderen Abweichungen in der Gesamtentwicklung der Ausgaben der Kassen für Hilfsmittel geführt. So beträgt die Abweichung bei den durchschnittlichen jährlichen Steigerungsraten der Hilfsmittelausgaben zwischen der Zeit vor (2007–2019) und den vier Jahren nach der Abschaffung von Ausschreibungen 2019 gerade mal etwa ein Prozent.
Ja zu nachhaltigen Reformen, Entbürokratisierung und Digitalisierung
Die Argumentation der Krankenkassen ignoriert die eigentlichen Gründe für Kostensteigerungen im Hilfsmittelbereich: Weder der steigende Hilfsmittelbedarf durch die Alterung der Bevölkerung noch die massiven Auswirkungen des Ukrainekrieges und der hohen Inflationsrate auf die Versorgungen werden erwähnt. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen werden sich jedoch nicht durch einen Abbau von Versorgungsstandards und Patientenrechten in Folge einer Wiedereinführung von Ausschreibungen lösen. Statt einer Rückkehr zu gescheiterten Experimenten bedarf es Reformen, welche die Hilfsmittelversorgung insbesondere von der seit Jahren ausufernden Bürokratie befreien. Die Einführung eines einheitlichen, ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Hilfsmittel, bürokratische Vereinfachungen bei Folgeverordnungen, Widerspruchsverfahren sowie im Vertragsgeschehen bei produktübergreifenden Verwaltungs- und Abrechnungsprozessen würden massiv Ressourcen bei Kostenträgern und Leistungserbringern freisetzen und somit Kosten deutlich reduzieren. Hier muss der Hebel für künftige Reformen angesetzt werden.
Gemeinsam für eine hochwertige, zukunftsfähige und wirtschaftliche Versorgung
Vertreterinnen und Vertreter von Patientenorganisationen, Leistungserbringern und Herstellern haben in den vergangenen Monaten konkrete Vorschläge für sinnvolle Reformen auf den Tisch gelegt und stehen für einen konstruktiven Austausch mit allen Beteiligten bereit. Leider erleben wir von Seiten des GKV-Spitzenverbandes bisher kein Interesse, in einen offenen und zielführenden Dialog im Sinne einer hochwertigen, zukunftsfähigen und wirtschaftlichen Versorgung einzutreten.
Wir appellieren an Sie, Herr Bundesminister, lehnen Sie im Sinne einer hochwertigen, individuellen und wohnortnahen Versorgung eine Rückkehr zur Ausschreibungspraxis in der Hilfsmittelversorgung ab! Lassen Sie uns stattdessen gemeinsam mit allen an der Versorgung beteiligten Akteuren über zukunftsfähige und nachhaltige Reformen sprechen und so weiterhin sicherstellen, dass die begrenzten Mittel im Gesundheitswesen optimal in die Versorgung der Patientinnen und Patienten fließen.
Mit freundlichen Grüßen
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner.
- Immer der Nase nach: Wie riecht die Orthopädie-Technik? — 22. November 2024
- Sani Aktuell: Offen für neue Möglichkeiten — 21. November 2024
- Petra Menkel will Branche zukunftsfähig machen — 20. November 2024