Im Alfred-Hessel-Saal des Historischen Gebäudes der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen kamen DGIHV-Mitglieder und Fachpublikum zusammen, um über die Zukunft der Hilfsmittelversorgung zu sprechen und auch zu streiten. Die Diskussionen waren aber stets von gegenseitigem Respekt geprägt und offenbarten vielmehr eine fruchtbare Debattenkultur, die darauf abzielt, die interprofessionelle Hilfsmittelversorgung für die Patient:innen zu verbessern.
Nach der Begrüßung und einleitenden Worten von Prof. Dr. Metin Tolan, Präsident der Georg-August-Universität Göttingen, und Dr. Andreas Philippi, niedersächsischer Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, übernahmen die Experten das Podium und gaben mit ihren rund 15-minütigen Vorträgen Impulse aus ihrer Profession für die Hilfsmittelversorgung.
Den Anfang machte Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), mit seinem Beitrag „Jedes Hilfsmittel braucht ein Versorgungskonzept“. Warum braucht man ein Versorgungskonzept? Diese grundlegende Frage beantwortete Reuter auf verschiedenen Ebenen, aber sehr praxisnah. Ein Versorgungskonzept sei notwendig, um interdisziplinär zu arbeiten. Denn in der Fläche würde die Kommunikation zwischen den einzelnen an der Versorgung Beteiligten nicht ausreichend gut funktionieren und dadurch das Versorgungsziel gefährdet werden. Gerade jenes Versorgungsziel stehe am Anfang des Konzepts, der Weg dahin sei aber nicht immer geradlinig. „In der Klinik ist es manchmal wie in Disneyland. Da finden wir Bedingungen vor, die nichts mit dem Alltag der Patienten zu tun haben“, erklärte Reuter. Daher sei es wichtig, das Versorgungsziel zu definieren, aber das eigene Konzept zu hinterfragen und nach der Beurteilung des Umfelds des Patienten anzupassen. „Eine ewige Baustelle“, kommentierte Reuter diesen Zustand. Außerdem sei das Versorgungsziel noch wichtig für die Qualitätskontrolle. „Ich kann Qualität nur messen, wenn ein Ziel definiert wurde“, so Reuter weiter. Ziel und Konzept seien außerdem wichtige Bestandteile, um kosteneffizient arbeiten zu können, dabei aber nicht die Leistung für die Patient:innen einschränken zu müssen. „Wir wollen nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig versorgen“, wies Reuter darauf hin, dass die Versorger:innen auch ihre eigenen Grenzen kennen müssen.
Kostenträger sind aus Reuters Sicht ein limitierender Faktor im Rahmen des Versorgungskonzepts. Einerseits haben sie Einfluss auf die finanzielle Ausgestaltung der Versorgung, andererseits kann eine Verzögerung der Genehmigung dazu führen, dass Ziele und Konzepte obsolet werden, weil sich die Rahmenbedingungen bei den Patient:innen verändert haben. „Es ist ein Systemversagen“, kommentierte Reuter diesen Umstand.
Mit Kritik sparte auch Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann nicht. „Dass die Politik sich ernsthaft mit der Hilfsmittelversorgung beschäftigt, ist neu“, erklärte der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und lieferte auch gleich die Begründung dafür: „Die Patientinnen und Patienten haben sich so massiv wie noch nie zu Wort gemeldet.“ In seinem Vortrag stellte er Ansätze zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung vor. Vor allem die ärztliche Verordnung sieht er als ein Instrument zur Verbesserung. Außerdem solle viel häufiger und stärker die Teilhabe in den Vordergrund gestellt werden, da Krankenkassen und der Medizinische Dienst Verordnungen systematisch infrage stellen würden.
Prof. Wolfram Mittelmeier – als 1. Vorsitzender der DGIHV sozusagen der Gastgeber der Fachtagung – stellte die Frage „Wer kann künftig noch verordnen?“ in den Fokus seines Vortrags. Die ärztliche Verordnung ist der Ausgangspunkt für eine Hilfsmittelversorgung, doch die Mediziner:innen seien bei der Fülle der Angebots an Hilfsmitteln nicht gut genug ausgebildet, um den Anforderungen einer individualisierten Versorgung bei komplexen Krankheitsbildern gerecht zu werden. „Wir leisten uns einen Systemfehler“, so Mittelmeier, der die fehlende Aus‑, Fort- und Weiterbildung sowie Angebote zu Praktika für Fachärzt:innen kritisierte. Die Anzahl der Ärzt:innen sei in den vergangenen drei Jahrzehnten verdoppelt worden, doch sei die Zahl der Stunden, die angehenden Ärzt:innen für praktische Erfahrungen zur Verfügung steht, reduziert worden. Als Gründe dafür nannte er Tarifverträge sowie den Wunsch nach mehr Work-Life-Balance.
Gesprächsbedarf bei allen Teilnehmenden machte Dr. Dietmar Rohland, MHA, Leiter Geschäftsbereich Consulting des Medizinischen Dienstes Niedersachsen, aus. „Am liebsten würde ich meinen Vortrag hier einfach mal beiseiteschieben und einfach reden“, erklärte er. Dennoch berichtete er über den Medizinischen Dienst im „Teilhabekonflikt“. Entscheidend für Rohland ist, ob der Medizinische Dienst (MD) an der richtigen Stelle seine Fragen stellt. Mit über drei Millionen Stellungnahmen – davon 242.000 im Bereich Hilfsmittel – sei der MD ein Massengeschäft. Allerdings, das stellte er nochmals heraus, gibt der MD nur eine sozialmedizinische Empfehlung ab, die Kostenträger fällen schlussendlich die Entscheidung.
Dr. phil. Christoph Egen, Klinikmanager und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin der Medizinischen Hochschule, stellte in seinem Beitrag die Ergebnisse seines Forschungsprojekts über die Versorgung von Menschen nach Beinamputation vor. Sein Urteil: Es bestehen erhebliche Lücken im Bereich der Rehabilitation – aus verschiedenen Gründen. Einerseits trifft der individuelle Bedarf der Patient:innen auf eine standardisierte Versorgungsstruktur, andererseits unterscheiden sich die Rehabilitationsmodelle regional. „Jedes Wald- und Wiesenkrankenhaus darf amputieren“, beklagte er. Durch die dezentrale Bearbeitung der Fälle würden große Versorgungsunterschiede nicht auffallen. Zum Beispiel gebe es unterschiedliche Startpunkte für die Rehabilitation, die je nach Krankenhaus variieren. Die Varianz ergibt sich aus historisch gewachsenem Verhalten der jeweiligen Klinik – und dadurch werden die Qualität der Versorgung und der Ausgang der Rehabilitation maßgeblich beeinflusst.
„Es muss eine ganzheitliche Betrachtung her“, forderte Olaf Gawron, stellvertretender Vorsitzender der DGIHV und Mitglied der Geschäftsleitung der Pohlig GmbH. Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist ausbaufähig, lautet das Urteil des Orthopädietechnik-Meisters. Ein Erfolgsfaktor wäre aus seiner Sicht, wenn die einzelnen Professionen sich auch örtlich vernetzen würden und so an einem Ort innerhalb kürzester Zeit die Versorgung besprechen und diskutieren könnten. „Wenn wir ein gemeinsames Behandlungszentrum hätten, könnten wie komplexe Fälle in wenigen Minuten miteinander klären“, ist Gawron überzeugt.
Was moderne Hilfsmittelversorgung leisten kann, darüber berichtete Lokalmatador Prof. Dr.-Ing. Malte Bellmann, Professor für Orthopädietechnik und Biomechanik an der PFH Göttingen. Anhand von Videos gab er einen Einblick in prothetische und orthetische Versorgung der Gegenwart und sprach, auch mit Blick auf die anstehenden Paralympischen Spiele in Paris im kommenden Jahr, das Thema Technodoping an. „Es gibt keine Studien, die wissenschaftlich belegen, dass man mit Prothesen einen Vorteil hat“, so Bellmann. Allerdings gibt es auch Regeln und Vorschriften aus den Sportverbänden, die dort regulierend eingreifen.
„Sportlich“ ging es auch in dem anschließenden Vortrag weiter, allerdings vollzog Paralympics-Sieger Felix Streng den Perspektivwechsel vom Versorger zum Anwender. Bevor Streng jedoch mit seinem Beitrag startete, nutzte Prof. Mittelmeier die Gelegenheit, um mit dem Athleten eine kleine Frage-Antwort-Runde durchzuführen. So verriet Streng, dass er aktuell mit drei Schäften seinen (sportlichen) Alltag bestreitet: eine Versorgung für den Alltag, eine für die sportlichen Wettkämpfe und eine für das Krafttraining. Dieses Set-up habe sich für ihn bewährt, so Streng. Außerdem sprach er sich dafür aus, dass Versorgungen, gerade für Kinder, eine Testphase benötigen und dass Kommunikation und Feedback zwischen Versorger und Versorgtem wichtig seien. „Der Körper findet eine Lösung“, lautet eine weitere Erfahrung des Para-Leichtathleten, der nichts davon hält, (Test-)Versorgungen häufig anzupassen und zu wechseln.
Über das „A und O“ in der Hilfsmittelversorgung berichtete Prof. Dr. med. oec. Bernhard Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am Rehaklinikum Bad Rothenfelde. Dabei bemängelte er, wie bereits einige seiner Vorredner, die Kommunikation zwischen den Versorgern, ging aber noch einen Schritt weiter und benannte die Kommunikationsstrukturen als Grund für diese Problematik. Zuviel Hierarchie, zu wenig Augenhöhe, so die Zusammenfassung. Dabei sei vor allem auf ärztlicher Seite ein Defizit im Bereich der Verordnungen zu beheben. Da gebe es mit den Vorstößen, beispielsweise durch Patientenverbände, mittlerweile positive Entwicklungen, die dringend fortgeführt werden müssten. Auch deshalb stellte Prof. Greitemann nochmals exemplarisch vor, was Ärzt:innen zu leisten haben. Ein neuer Verordnungsbogen allein sei nicht des Rätsels Lösung, doch ein Schritt in die richtige Richtung.
Zum Abschluss der Fachtagung versammelten sich alle anwesenden Referenten zu einer Podiumsdiskussion unter der Überschrift „Wie bauen wir Barrieren ab?“. Dabei bekannte vor allem Alf Reuter seinen Unmut über die Phase des Verharrens im Status-Quo. Alle Beteiligten würden die Probleme kennen und über sie reden, aber eine Verbesserung der Situation sei bisher nicht festzustellen, da waren sich alle Beteiligten einig. Prof. Greitemann verwies noch einmal darauf, dass die neue ärztliche Verordnung ein Schritt nach vorn sei, weitere Entwicklungen aber nicht sichtbar seien. Beim Thema Digitalisierung bescheinigten sich die Diskutierenden unterschiedliche gute Umsetzungen. Während die Ärzt:innen bereits an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sind, steht dieser Schritt für Sanitätshäuser und orthopädietechnische Werkstätten noch aus. „Ich erwarte von den Kostenträgern, dass die durch den Anschluss entstehenden Kosten, analog zu Apotheken und Arztpraxen, übernommen werden“, erklärte Reuter. Olaf Gawron ergänzte, dass er infolge der Digitalisierung einen besseren Informationsfluss erwarte. Insgesamt sahen sowohl Referenten als auch Teilnehmende der Fachtagung mehr Chancen als Risiken in dem weiten Feld der Digitalisierung.
Heiko Cordes
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