7. DGIHV-Fach­ta­gung: Ver­än­de­run­gen sind nötig

Auf geschichtsträchtigem Boden traf sich die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) zu ihrer mittlerweile siebten Fachtagung.

Im Alfred-Hes­sel-Saal des His­to­ri­schen Gebäu­des der Nie­der­säch­si­schen Staats- und Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Göt­tin­gen kamen DGIHV-Mit­glie­der und Fach­pu­bli­kum zusam­men, um über die Zukunft der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zu spre­chen und auch zu strei­ten. Die Dis­kus­sio­nen waren aber stets von gegen­sei­ti­gem Respekt geprägt und offen­bar­ten viel­mehr eine frucht­ba­re Debat­ten­kul­tur, die dar­auf abzielt, die inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung für die Patient:innen zu verbessern.

Nach der Begrü­ßung und ein­lei­ten­den Wor­ten von Prof. Dr. Metin Tolan, Prä­si­dent der Georg-August-Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen, und Dr. Andre­as Phil­ip­pi, nie­der­säch­si­scher Minis­ter für Sozia­les, Arbeit, Gesund­heit und Gleich­stel­lung, über­nah­men die Exper­ten das Podi­um und gaben mit ihren rund 15-minü­ti­gen Vor­trä­gen Impul­se aus ihrer Pro­fes­si­on für die Hilfsmittelversorgung.

Den Anfang mach­te Alf Reu­ter, Prä­si­dent des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), mit sei­nem Bei­trag „Jedes Hilfs­mit­tel braucht ein Ver­sor­gungs­kon­zept“. War­um braucht man ein Ver­sor­gungs­kon­zept? Die­se grund­le­gen­de Fra­ge beant­wor­te­te Reu­ter auf ver­schie­de­nen Ebe­nen, aber sehr pra­xis­nah. Ein Ver­sor­gungs­kon­zept sei not­wen­dig, um inter­dis­zi­pli­när zu arbei­ten. Denn in der Flä­che wür­de die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den ein­zel­nen an der Ver­sor­gung Betei­lig­ten nicht aus­rei­chend gut funk­tio­nie­ren und dadurch das Ver­sor­gungs­ziel gefähr­det wer­den. Gera­de jenes Ver­sor­gungs­ziel ste­he am Anfang des Kon­zepts, der Weg dahin sei aber nicht immer gerad­li­nig. „In der Kli­nik ist es manch­mal wie in Dis­ney­land. Da fin­den wir Bedin­gun­gen vor, die nichts mit dem All­tag der Pati­en­ten zu tun haben“, erklär­te Reu­ter. Daher sei es wich­tig, das Ver­sor­gungs­ziel zu defi­nie­ren, aber das eige­ne Kon­zept zu hin­ter­fra­gen und nach der Beur­tei­lung des Umfelds des Pati­en­ten anzu­pas­sen. „Eine ewi­ge Bau­stel­le“, kom­men­tier­te Reu­ter die­sen Zustand. Außer­dem sei das Ver­sor­gungs­ziel noch wich­tig für die Qua­li­täts­kon­trol­le. „Ich kann Qua­li­tät nur mes­sen, wenn ein Ziel defi­niert wur­de“, so Reu­ter wei­ter. Ziel und Kon­zept sei­en außer­dem wich­ti­ge Bestand­tei­le, um kos­ten­ef­fi­zi­ent arbei­ten zu kön­nen, dabei aber nicht die Leis­tung für die Patient:innen ein­schrän­ken zu müs­sen. „Wir wol­len nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig ver­sor­gen“, wies Reu­ter dar­auf hin, dass die Versorger:innen auch ihre eige­nen Gren­zen ken­nen müssen.

Kos­ten­trä­ger sind aus Reu­ters Sicht ein limi­tie­ren­der Fak­tor im Rah­men des Ver­sor­gungs­kon­zepts. Einer­seits haben sie Ein­fluss auf die finan­zi­el­le Aus­ge­stal­tung der Ver­sor­gung, ande­rer­seits kann eine Ver­zö­ge­rung der Geneh­mi­gung dazu füh­ren, dass Zie­le und Kon­zep­te obso­let wer­den, weil sich die Rah­men­be­din­gun­gen bei den Patient:innen ver­än­dert haben. „Es ist ein Sys­tem­ver­sa­gen“, kom­men­tier­te Reu­ter die­sen Umstand.

Mit Kri­tik spar­te auch Dr. Mat­thi­as Schmidt-Ohle­mann nicht. „Dass die Poli­tik sich ernst­haft mit der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung beschäf­tigt, ist neu“, erklär­te der Vor­sit­zen­de der Deut­schen Ver­ei­ni­gung für Reha­bi­li­ta­ti­on (DVfR) und lie­fer­te auch gleich die Begrün­dung dafür: „Die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten haben sich so mas­siv wie noch nie zu Wort gemel­det.“ In sei­nem Vor­trag stell­te er Ansät­ze zur Ver­bes­se­rung der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung vor. Vor allem die ärzt­li­che Ver­ord­nung sieht er als ein Instru­ment zur Ver­bes­se­rung. Außer­dem sol­le viel häu­fi­ger und stär­ker die Teil­ha­be in den Vor­der­grund gestellt wer­den, da Kran­ken­kas­sen und der Medi­zi­ni­sche Dienst Ver­ord­nun­gen sys­te­ma­tisch infra­ge stel­len würden.

Prof. Wolf­ram Mit­tel­mei­er – als 1. Vor­sit­zen­der der DGIHV sozu­sa­gen der Gast­ge­ber der Fach­ta­gung – stell­te die Fra­ge „Wer kann künf­tig noch ver­ord­nen?“ in den Fokus sei­nes Vor­trags. Die ärzt­li­che Ver­ord­nung ist der Aus­gangs­punkt für eine Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, doch die Mediziner:innen sei­en bei der Fül­le der Ange­bots an Hilfs­mit­teln nicht gut genug aus­ge­bil­det, um den Anfor­de­run­gen einer indi­vi­dua­li­sier­ten Ver­sor­gung bei kom­ple­xen Krank­heits­bil­dern gerecht zu wer­den. „Wir leis­ten uns einen Sys­tem­feh­ler“, so Mit­tel­mei­er, der die feh­len­de Aus‑, Fort- und Wei­ter­bil­dung sowie Ange­bo­te zu Prak­ti­ka für Fachärzt:innen kri­ti­sier­te. Die Anzahl der Ärzt:innen sei in den ver­gan­ge­nen drei Jahr­zehn­ten ver­dop­pelt wor­den, doch sei die Zahl der Stun­den, die ange­hen­den Ärzt:innen für prak­ti­sche Erfah­run­gen zur Ver­fü­gung steht, redu­ziert wor­den. Als Grün­de dafür nann­te er Tarif­ver­trä­ge sowie den Wunsch nach mehr Work-Life-Balance.

Gesprächs­be­darf bei allen Teil­neh­men­den mach­te Dr. Diet­mar Roh­land, MHA, Lei­ter Geschäfts­be­reich Con­sul­ting des Medi­zi­ni­schen Diens­tes Nie­der­sach­sen, aus. „Am liebs­ten wür­de ich mei­nen Vor­trag hier ein­fach mal bei­sei­te­schie­ben und ein­fach reden“, erklär­te er. Den­noch berich­te­te er über den Medi­zi­ni­schen Dienst im „Teil­ha­be­kon­flikt“. Ent­schei­dend für Roh­land ist, ob der Medi­zi­ni­sche Dienst (MD) an der rich­ti­gen Stel­le sei­ne Fra­gen stellt. Mit über drei Mil­lio­nen Stel­lung­nah­men – davon 242.000 im Bereich Hilfs­mit­tel – sei der MD ein Mas­sen­ge­schäft. Aller­dings, das stell­te er noch­mals her­aus, gibt der MD nur eine sozi­al­me­di­zi­ni­sche Emp­feh­lung ab, die Kos­ten­trä­ger fäl­len schluss­end­lich die Entscheidung.

Dr. phil. Chris­toph Egen, Kli­nik­ma­na­ger und wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter in der Kli­nik für Reha­bi­li­ta­ti­ons- und Sport­me­di­zin der Medi­zi­ni­schen Hoch­schu­le, stell­te in sei­nem Bei­trag die Ergeb­nis­se sei­nes For­schungs­pro­jekts über die Ver­sor­gung von Men­schen nach Beinamputa­tion vor. Sein Urteil: Es bestehen erheb­li­che Lücken im Bereich der Reha­bi­li­ta­ti­on – aus ver­schie­de­nen Grün­den. Einer­seits trifft der indi­vi­du­el­le Bedarf der Patient:innen auf eine stan­dar­di­sier­te Ver­sor­gungs­struk­tur, ande­rer­seits unter­schei­den sich die Reha­bi­li­ta­ti­ons­mo­del­le regio­nal. „Jedes Wald- und Wie­sen­kran­ken­haus darf ampu­tie­ren“, beklag­te er. Durch die dezen­tra­le Bear­bei­tung der Fäl­le wür­den gro­ße Ver­sor­gungs­un­ter­schie­de nicht auf­fal­len. Zum Bei­spiel gebe es unter­schied­li­che Start­punk­te für die Reha­bi­li­ta­ti­on, die je nach Kran­ken­haus vari­ie­ren. Die Vari­anz ergibt sich aus his­to­risch gewach­se­nem Ver­hal­ten der jewei­li­gen Kli­nik – und dadurch wer­den die Qua­li­tät der Ver­sor­gung und der Aus­gang der Reha­bi­li­ta­ti­on maß­geb­lich beeinflusst.

„Es muss eine ganz­heit­li­che Betrach­tung her“, for­der­te Olaf Gaw­ron, stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der der DGIHV und Mit­glied der Geschäfts­lei­tung der Poh­lig GmbH. Die inter­pro­fes­sio­nel­le Zusam­men­ar­beit ist aus­bau­fä­hig, lau­tet das Urteil des Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ters. Ein Erfolgs­fak­tor wäre aus sei­ner Sicht, wenn die ein­zel­nen Pro­fes­sio­nen sich auch ört­lich ver­net­zen wür­den und so an einem Ort inner­halb kür­zes­ter Zeit die Ver­sor­gung bespre­chen und dis­ku­tie­ren könn­ten. „Wenn wir ein gemein­sa­mes Behand­lungs­zen­trum hät­ten, könn­ten wie kom­ple­xe Fäl­le in weni­gen Minu­ten mit­ein­an­der klä­ren“, ist Gaw­ron überzeugt.

Was moder­ne Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung leis­ten kann, dar­über berich­te­te Lokal­ma­ta­dor Prof. Dr.-Ing. Mal­te Bell­mann, Pro­fes­sor für Ortho­pä­die­tech­nik und Bio­me­cha­nik an der PFH Göt­tin­gen. Anhand von Vide­os gab er einen Ein­blick in pro­the­ti­sche und orthe­ti­sche Ver­sor­gung der Gegen­wart und sprach, auch mit Blick auf die anste­hen­den Para­lym­pi­schen Spie­le in Paris im kom­men­den Jahr, das The­ma Tech­nod­o­ping an. „Es gibt kei­ne Stu­di­en, die wis­sen­schaft­lich bele­gen, dass man mit Pro­the­sen einen Vor­teil hat“, so Bell­mann. Aller­dings gibt es auch Regeln und Vor­schrif­ten aus den Sport­ver­bän­den, die dort regu­lie­rend eingreifen.

„Sport­lich“ ging es auch in dem anschlie­ßen­den Vor­trag wei­ter, aller­dings voll­zog Para­lym­pics-Sie­ger Felix Streng den Per­spek­tiv­wech­sel vom Ver­sor­ger zum Anwen­der. Bevor Streng jedoch mit sei­nem Bei­trag star­te­te, nutz­te Prof. Mit­tel­mei­er die Gele­gen­heit, um mit dem Ath­le­ten eine klei­ne Fra­ge-Ant­wort-Run­de durch­zu­füh­ren. So ver­riet Streng, dass er aktu­ell mit drei Schäf­ten sei­nen (sport­lichen) All­tag bestrei­tet: eine Ver­sor­gung für den All­tag, eine für die sport­li­chen Wett­kämp­fe und eine für das Kraft­trai­ning. Die­ses Set-up habe sich für ihn bewährt, so Streng. Außer­dem sprach er sich dafür aus, dass Ver­sor­gun­gen, gera­de für Kin­der, eine Test­pha­se benö­ti­gen und dass Kom­mu­ni­ka­ti­on und Feed­back zwi­schen Ver­sor­ger und Ver­sorg­tem wich­tig sei­en. „Der Kör­per fin­det eine Lösung“, lau­tet eine wei­te­re Erfah­rung des Para-Leicht­ath­le­ten, der nichts davon hält, (Test-)Versorgungen häu­fig anzu­pas­sen und zu wechseln.

Über das „A und O“ in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung berich­te­te Prof. Dr. med. oec. Bern­hard Grei­temann, Ärzt­licher Direk­tor der Kli­nik Müns­ter­land am Reha­kli­ni­kum Bad Rothen­fel­de. Dabei bemän­gel­te er, wie bereits eini­ge sei­ner Vor­red­ner, die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Ver­sor­gern, ging aber noch einen Schritt wei­ter und benann­te die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren als Grund für die­se Pro­blema­tik. Zuviel Hier­ar­chie, zu wenig Augen­hö­he, so die Zusam­men­fas­sung. Dabei sei vor allem auf ärzt­li­cher Sei­te ein ­Defi­zit im Bereich der Ver­ord­nun­gen zu behe­ben. Da gebe es mit den Vor­stö­ßen, bei­spiels­wei­se durch Pati­en­ten­ver­bän­de, mitt­ler­wei­le posi­ti­ve Ent­wick­lun­gen, die drin­gend fort­geführt wer­den müss­ten. Auch des­halb stell­te Prof. Grei­temann noch­mals exem­pla­risch vor, was Ärzt:innen zu ­leis­ten haben. Ein neu­er Ver­ord­nungs­bo­gen allein sei nicht des Rät­sels Lösung, doch ein Schritt in die rich­ti­ge Richtung.

Zum Abschluss der Fach­ta­gung ver­sam­mel­ten sich alle anwe­sen­den Refe­ren­ten zu einer Podi­ums­dis­kus­si­on unter der Über­schrift „Wie bau­en wir Bar­rie­ren ab?“. Dabei bekann­te vor allem Alf Reu­ter sei­nen Unmut über die Pha­se des Ver­har­rens im Sta­tus-Quo. Alle Betei­lig­ten wür­den die Pro­ble­me ken­nen und über sie reden, aber eine Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on sei bis­her nicht fest­zu­stel­len, da waren sich alle Betei­lig­ten einig. Prof. Grei­temann ver­wies noch ein­mal dar­auf, dass die neue ärzt­li­che Ver­ord­nung ein Schritt nach vorn sei, wei­te­re Ent­wick­lun­gen aber nicht sicht­bar sei­en. Beim The­ma Digi­ta­li­sie­rung beschei­nig­ten sich die Dis­ku­tie­ren­den unter­schied­li­che gute Umset­zun­gen. Wäh­rend die Ärzt:innen bereits an die Telematik­infrastruktur ange­schlos­sen sind, steht die­ser Schritt für Sani­täts­häu­ser und ortho­pä­die­tech­ni­sche Werk­stät­ten noch aus. „Ich erwar­te von den Kos­ten­trä­gern, dass die durch den Anschluss ent­ste­hen­den Kos­ten, ana­log zu ­Apo­the­ken und Arzt­pra­xen, über­nom­men wer­den“, erklär­te Reu­ter. Olaf Gaw­ron ergänz­te, dass er infol­ge der Digi­ta­li­sie­rung einen bes­se­ren Infor­ma­ti­ons­fluss erwar­te. Ins­ge­samt sahen sowohl Refe­ren­ten als auch Teil­neh­men­de der Fach­ta­gung mehr Chan­cen als Risi­ken in dem ­wei­ten Feld der Digitalisierung.

Hei­ko Cordes

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