Einleitung
Das Rollstuhl-Sitzzentrum Nottwil (RSZ) besteht aus einem interprofessionellen Team: 3–4 Ergotherapeut:innen, 3–4 Physiotherapeut:innen sowie 4 Orthopädietechniker:innen/Rehatechnikerin. Es ist spezialisiert auf die Behandlung von ambulanten und stationären Patient:innen mit einer komplexen Sitzproblematik. Diese kann z. B. sein: wiederkehrende Dekubitus, Fehlhaltung im Sitzen, Schmerzen, Fehlfunktion innerer Organe und verminderte Sitzstabilität.
Das Ziel der Neuversorgung ist das Erlangen einer physiologischen und an die Bedürfnisse der Patienten angepassten Sitzposition und somit einer Verbesserung der Lebensqualität.
Dies bedeutet:
- höchstmögliche Funktionalität im Alltag
- höchstmögliche Stabilität im Sitzen
- geringster Kraftaufwand beim Antreiben des Rollstuhls
- Prävention von Komplikationen und Langzeitschäden
- eine der Lähmung entsprechend bestmögliche physiologische Stellung der Wirbelsäule
- Ergonomie sowohl im Alltag und am Arbeitsplatz als auch in Bezug auf die Körperstrukturen, z. B. Schultergelenk
Aus dem interprofessionellen Team sind bei diesem Patientenbeispiel folgende Personen in der Behandlung involviert: Gabriela Odermatt, Therapiespezialistin RSZ und Physiotherapeutin, Antje Giger, Rehatechnikerin Orthotec Nottwil, Ilena Bachmann, Lernende Orthopädietechnik Orthotec Nottwil, Saskia Risch, Ergotherapeutin Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil. Für die Darstellung eines Behandlungsverlaufs erteilten der Patient und seine Familie die Genehmigung.
Rollstuhl-Sitzbefund nach ICF (RSZ-Befund)
Dauer 90 Minuten, davon 60 Minuten mit Ergo- und Physiotherapeutin und im Anschluss 30 Minuten mit der Orthopädietechnik.
Vorbereitend
- Studium bestehender Informationen wie ergo- und physiotherapeutische sowie ärztliche Berichte, Assessments, Röntgenbilder
RSZ-Befund/Durchführung anhand des Clinical Reasonings
- Informationen zum Patienten
- Aktuelle Rollstuhlversorgung
- RSZ-spezifische Anamnese
- Physical Examination
— Fotodokumentation der aktuellen Sitzposition
— Inspektion des Patienten im Rollstuhl
— Inspektion des Rollstuhls im Bezug zum Patienten
— Beweglichkeitstestung der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten (falls nötig auch der oberen Extremitäten)
— Assessments im Bezug zur Muskulatur (Muskelstatus, Tonus, Muskellängen, Atrophien …) - Evaluation/Diskussion aller erhobenen Assessments im interprofessionellen Team
- Formulieren einer Hypothese im Bezug zum Hauptproblem
- Definieren des weiteren Procederes
Unser Patient namens Joel ist im SPZ bereits bekannt und kommt in Begleitung seiner Mutter.
Die Ärztin Frau Dr. Inge Eriks Hoogland hat ihn in der Jahreskontrolle gesehen und eine Neubeurteilung der Sitzposition verordnet. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde übernimmt die Mutter von Joel die Kommunikation für ihren Sohn. Joel wird im folgenden Gespräch aber immer miteinbezogen, denn er kann aktiv mit „Ja“ und „Nein“ kommunizieren.
Outcome
Aktuelle Rollstuhlversorgung
Pro Active Buddy 2014, Sitzkissen Stimulite, individuell angepasste Rückenschale, Nackenstütze, 4‑Punkte-Gurt, Beckengurt
Hauptprobleme des Patienten
- Schluckprobleme aufgrund zunehmender Überstreckung der Halswirbelsäule
- Oberschenkel links zieht Richtung Adduktion
Objektive Befunde
- Es bestehen Limiten in Bezug auf die Beweglichkeit der Wirbelsäule
- Es bestehen keine artikulären Einschränkungen der unteren Extremitäten im Bezug zur Sitzposition
- Es besteht ein erhöhter Tonus des Rumpfs und Richtung Extension und der unteren Extremität links Richtung Adduktion
- Es gibt zu wenig Auflagefläche für die stabile Positionierung des Beckens, der Oberschenkel und des Rumpfs
- Kopfstütze ist nicht individuell positionierbar
- Rollstuhl ist abgenutzt, die Einstellung mit angehängtem Rucksack zu kippig
Wir stellen die Erkenntnisse der Orthopädietechnikerin vor. Gemeinsam wird das weitere Procedere diskutiert und definiert.
Hypothese
Wir stellen fest, dass die aktuelle Sitzversorgung – insbesondere des Rückensystems – zu wenig Auflagefläche bietet. Speziell die Höhe der Rückenversorgung und die seitliche Kontur ist zu wenig ausgebaut. Zurzeit benutzt Joel die Nackenstütze zum Stabilisieren des Rumpfs, so kommt es zur Brückenaktivität zwischen Becken und Hinterkopf. Dies führt zur Erhöhung des Extensionstonus des Rumpfs, was wiederum die Hyperextension der Halswirbelsäule und daraus resultierende Schluckbeschwerden begünstigt.
Ziel
- Positionieren und Stabilisieren des Beckens und Rumpfs im Alignement soweit möglich
- Tonusregulation der Rumpfextensoren, Nackenextensoren
- Verbessern der Positionierung des Kopfs
- Vermindern der Schluckbeschwerden
Weiteres Procedere
Geplante Maßnahmen
Es wird beschlossen, dass Joel einen neuen manuellen Rollstuhl mit einer Sitz- und Rückenbettung mit Beckengurt sowie einer individuell anpassbaren Nackenstütze bekommen soll. Das Ziel ist, dass Joel eine größere Unterstützungsfläche über das Sitz- und Rückensystem bekommt, welche es ihm ermöglicht, den Tonus zu senken. Die Nackenstütze wird an die neue Sitzposition angepasst. Die Orthopädietechnikerin wird eine Beinführung für das linke Bein über die Sitzbettung erarbeiten. Ein Vorspannrad und eine zusätzliche Schiebehilfe werden vom alten Rollstuhl übernommen.
Abdruck
Für die Neuversorgung braucht es einen neuen Sitzabdruck der anzustrebenden Sitzposition. Dieser wird zusammen mit der Therapiespezialistin RSZ und der Orthopädietechnikerin durchgeführt. Der Sitzabdruck erfolgt mit Hilfe eines Vakuumabdrucksystems, in dem die korrigierte Sitzposition simuliert und bei Bedarf angepasst werden kann. Die Form des Abdrucks wird eingescannt und das digitale Modell kann am PC weiterbearbeitet werden. Eine Computerfräse fertigt daraus die Polsterrohlinge, die später in den Rollstuhl eingebaut werden.
Entscheid über den stationären Aufenthalt
Da Joel einen Anfahrtsweg von ca. 90 Minuten hat, ist es nötig, dass er die Anpassung und Abgabe der Sitz- und Rückenbettung stationär durchführen lässt. Hautkontrolle, Schluckverhalten und Tonussituation können dabei optimal dokumentiert und kontrolliert werden. Dieser zweiwöchige Aufenthalt im Schweizer Paraplegiker-Zentrum muss gut geplant sein, denn Joel ist in vielen Alltagsaktivitäten auf Unterstützung angewiesen.
Rollstuhlabklärung
Die Neuabklärung des manuellen Rollstuhls wird bei der Firma Orthotec in Zusammenarbeit mit dem Patienten, einem Rollstuhlberater und der Ergotherapeutin evaluiert und ausgewählt.
Kostengutsprachen
Die Offerten für den Rollstuhl Pro Activ Buddy 4all und die Sitz- und Rückenbettung sowie der Antrag auf Kostenübernahme des stationären Aufenthalts werden dem zuständigen Kostenträger zugestellt. Nach Eingang der Kostengutsprachen wird der zweiwöchige stationäre Aufenthalt durch das Team geplant.
Durchführung der Anpassung ca. 6 Monate nach dem RSZ-Befund.
Anpassung und Abgabe
Vorwoche des stationärenEintritts/Einbau der Sitzversorgung in den neuen Rollstuhl Pro Activ Buddy 4all
Der neue Rollstuhl wird in der Rollstuhlmechanik der Firma Orthotec von einem Rollstuhlmechaniker zusammengebaut und eingestellt. Danach wird der Rollstuhl den Orthopädietechnikern zum Einbau der Sitz- und Rückenbettung übergeben. Die lernende Orthopädietechnikerin bereitet eine Einbauplatte aus Holz für die Rückenbettung vor und baut diese ein. Die Sitz- und Rückenbettung, die sich in der Rohfassung befindet, wird in den Rollstuhl eingepasst und mit Velcro provisorisch auf den Einbauplatten befestigt.
Woche 1, Tag 1, 1. und 2. Sitzprobe
10 Uhr, 1. Sitzprobe: Das anwesende Team bestehend aus Therapiespezialistin RSZ und Orthopädietechnikerin bespricht die wichtigsten Assessments des RSZ-Befunds und die Ziele der Versorgung.
Joel und seine Mutter treffen ein; es erfolgt eine Kurzanamnese, mögliche aktuelle Themen und der Fahrplan der nächsten 2 Wochen werden kurz durchgegangen. Danach findet die erste Sitzprobe im neuen Rollstuhl Pro Activ Buddy 4 all statt. Den Transfer macht die Therapiespezialistin mit dem Patienten über den Stand.
Die Dimension des Rohlings ist noch viel zu groß und daher bedarf es einige Zeit, bis Joel an der richtigen Position sitzt. In einem ersten Schritt überprüft das Team die Position der Sitz- und Rückenbettung. Nachdem diese eingestellt ist, kann einiges an Material abgeschnitten und gekürzt werden. Die Orthopädietechnikerin definiert dazu gemeinsam mit der Therapiespezialistin die Stellen, die später in der Werkstatt abgeschnitten werden können und markiert diese mit einem Stift (Abb. 1).
Um den Prozess langsam in Gang zu bringen, schneidet die Orthopädietechnikerin in einer ersten Phase eher zurückhaltend ab. Nach der 60-minütigen Anprobe transferiert Joel wieder in seinen alten Rollstuhl.
Am Nachmittag trifft sich die Gruppe zur 2. Sitzprobe in den denselben Räumlichkeiten. Joels Mutter hat ihren Sohn begleitet und berichtet uns ihre Beobachtungen und gibt uns hilfreiche Hinweise zu Joels Alltag. Die Sitz- und Rückenbettung ist jetzt schon massiv zurückgeschnitten und so gelingt das Platzieren im Rollstuhl deutlich besser. Nachdem jetzt die Position des Beckens besser palpierbar ist, werden nochmals Änderungen eingezeichnet (Abb. 2).
Woche 1, Tag 2, 3. und 4. Sitzprobe
Die Sitz- und die Rückenbettung sind schon recht gut zurückgeschnitten und an die Anatomie von Joel angepasst. Jetzt drehen sich die Beobachtungen um die Beinführung des linken Oberschenkels. Wie soll der Abduktionsblock für das linke Bein angefertigt werden? Macht es Sinn, einen extra Abduktionsblock anzubringen, den man runterklappen oder herausziehen kann? Nach der Diskussion im interprofessionellen Team und mit der Mutter von Joel entscheiden wir uns, die Abduktionsführung direkt in die Sitzbettung einzubauen. Dies ist, falls es funktioniert, im Alltag besser zu handhaben, da diese Beinführung nicht ein- und ausgeklappt werden muss.
Wir haben im RSZ-Befund festgestellt, dass Joel sich nicht genügend am Rückensystem anlehnen kann, weil er sich mit dem Hinterkopf an der Kopfstütze abdrückt und sich dadurch in eine Hyperextension der Halswirbelsäule mobilisiert. Aktuell ist Joel immer noch im gleichen Muster. Wir planen deshalb folgende Maßnahme: Erhöhen der Sitzneigung um eine Position durch die Rollstuhlmechanik, damit Joel einen leichten Anlehndruck am Rücken erlebt. Zudem testen wir einen Brustgurt. Der Wiederbefund zeigt, dass Joel den Kopf besser einordnen und stabilisieren kann. Die noch provisorische Nackenstütze wird angepasst und tendenziell weiter vorne platziert. Wir diskutieren, wie man Joel dazu animieren könnte, den Blick mehr nach unten zu richten und nicht wie im alten Muster nach oben. Das bereits bestehende I‑Pad ist dafür ein guter Stimulus. Wir leiten den Auftrag an die stationär behandelnde Physiotherapeutin weiter, um so Joels Verhaltensmuster zu verbessern, weg von Extension der HWS hin zur Flexion.
Eine weitere Beobachtung führt uns zu einer wichtigen Schlüsselerkenntnis hinsichtlich Joels Verhaltensmuster. Joel hält seine Ellbogen sehr häufig in flektierter Stellung und die Hände in der Luft. Dies fällt erst jetzt auf, nachdem wir ihn über eine längere Zeit an verschiedenen Tagen beobachten konnten. Die Position der Arme zieht den Schultergürtel und Rumpf nach vorne, weg vom Rückensystem. Zudem bedeutet dies, dass sich die Nackenmuskulatur sowie der Muskel des M. Bizeps im Dauerstress befinden. Die Orthopädietechnikerin schlägt eine individuelle Lösung in Form eines extra angefertigten Tischs vor. Das von ihr zu Testung aus dem Fundus der Werkstatt hervorgeholte Demomodell passt nur bedingt, erfüllt aber seinen Zweck: Der Wiederbefund zeigt, dass die Gewichtsübernahme der Arme auf dem Tisch eine Tonusreduktion bewirkt. Das Team entscheidet, dass dieser Tisch zusätzlich neu angefertigt werden muss. Die Befestigung des Tischs muss individuell gelöst werden.
Woche 1, Tag 3, 5. und 6. Sitzprobe
Während den jeweils 60-minütigen Sitzproben wird davor und danach eine Beurteilung der Haut am Gesäß und am Rücken durch das Behandlungsteam vorgenommen. So können gefährdete Zonen für Druckstellen schnell erkannt und Maßnahmen ergriffen werden. Bisher haben sich kleinere Rötungen am Sitzbein links und am seitlichen Rumpf gezeigt. Diese Stellen werden von den Orthopädietechnikerinnen eingezeichnet und bis zum nächsten Morgen angepasst.
Woche 1, Tag 4, 7. und 8. Sitzprobe
Nachdem am 3. Tag die Einstellung des Rollstuhls eine Erhöhung der Sitzneigung durch die Rollstuhlmechanik um eine Position mit sich gebracht hat, evaluieren wir erneut die Tonussituation des Rumpfs und das Hyperextensionsmuster der Halswirbelsäule. Erfreulicherweise stellen wir fest, dass der Tonus der Rückenextensoren durch die größere Auflagefläche und Druckübernahme abgenommen hat. Der Hinterkopf berührt die Nackenstütze nur noch leicht, Joel kann den Kopf auf Auftrag weg von der Nackenstütze nehmen und der Rumpf bleibt stabil.
Wir haben den Brustgurt in einer ersten Phase mit einem verstärkenden Druckpunkt auf das Sternum versehen. Die Hautkontrolle hat jedoch gezeigt, dass Joel davon nach kurzer Zeit Druckstellen, resp. Rötungen bekommt. Daraus schließen wir, dass wir die Aufnahmefläche vergrößern und so den Druck besser verteilen müssen.
Der Tisch bekommt langsam seine Form. Der Rohling wird nach und nach den Bedürfnissen und der Anatomie von Joel angepasst. Die Palpation zeigt, dass der Tisch auf den Beckengurt drückt. Die Therapiespezialistin RSZ palpiert die Kontaktstellen und die Orthopädietechnikerin zeichnet laufend ein und passt an (Abb. 3).
Nach der 8. Sitzprobe am Nachmittag kann Joel den Rollstuhl und die Sitzversorgung das erste Mal bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr mit auf die Station nehmen. Es steht eine längere Testphase an. Die Pflege wird instruiert, die Haut an Gesäß, Oberschenkeln und Rücken spätestens nach 60 Minuten Sitzzeit zu kontrollieren und die Ergebnisse dem RSZ-Team am nächsten Morgen mitzuteilen. Der bestehende Rollstuhl bleibt im Zimmer und kann, falls es zu unerwarteten Rötungen kommen sollte, wieder eingesetzt werden.
Woche 1, Tag 5, 9. und 10. Sitzprobe
Erfreulicherweise berichtet die Pflege von keinen Druckstellen, weder am Gesäß noch am Rumpf oder Brustbein, und wir können die Zeit der Sitzprobe nutzen, um Joel in der neuen Sitzposition auf einem kleinen Rundgang im Haus zu folgenden Fragestellungen zu beobachten:
- Tonussituation des Rumpfs, der Arme und Schultergürtel im Bezug zu den Einstellungen am Rollstuhl, dem individuell angepassten Tisch sowie dem Sitz- und Rückensystem mit Brustgurt
- Positionierung des Patienten in der Sitzversorgung über eine längere Zeit
- Kopfkontrolle
Die bisher getroffenen Maßnahmen tragen wesentlich zur Detonisierung und Verbesserung einer stabilen Sitzposition bei. Das Kontrollieren der Kopfposition ist für Joel noch ungewohnt. Ein neues Bewegungsmuster, welches ihm ermöglicht, den Kopf ohne Abstützen an der Nackenstütze zu bewegen, muss noch weiter angebahnt werden.
Die Sitz- und Rückenbettung mit dem individuell angepassten Tisch und der Nackenstütze ist zwar noch nicht fertig, aber zum Testen für das Wochenende gepolstert und provisorisch mit Stoff überzogen. Das Wichtigste hierbei ist wieder die regelmäßige Hautkontrolle und das gezielte Feedback zu den neu gemachten Erfahrungen (Abb. 4 und 5).
Woche 2, Tag 6, 11. und 12. Sitzprobe
Die 11. Sitzprobe in der 2. Woche beginnt mit einem Erlebnisbericht der Mutter vom vergangenen Wochenende. Joel habe Besuch von seinen Brüdern gehabt und man habe Salzstangen gegessen. Es seien keine Schluckbeschwerden aufgetreten. Der Anschlag, den wir zur leichten Führung des Ellbogens rechts auf dem Tisch angefertigt haben, schränke jedoch die nötige Bewegungsfreiheit ein. Die Sitzzeit in der Neuversorgung war ebenfalls lange. Joel habe nur im neuen Rollstuhl gesessen und abends dann doch eine leichte wegdrückbare Rötung unter dem Gesäß links gehabt.
Die anschließende Hautkontrolle des Gesäßes durch die Therapiespezialistin auf der Therapiebank zeigt die Lokalisation der Rötung des vorangegangenen Abends. Um die Ursache dafür zu evaluieren, transferiert Joel zurück in den neuen Rollstuhl, wo die Therapiespezialistin eine Palpation der Sitzbeinhöcker auf der Sitzbettung vornimmt. Die Orthopädietechnikerin passt die Sitzbettung an der besagten Stelle erneut an (Abb. 6).
Eine sehr positive Rückmeldung leitet der Vater von Joel an uns weiter. Er ist erfreut, wie gut der Rollstuhl über die winkelverstellbaren Schiebegriff an seine Körpergröße angepasst werden kann. An die Sitzprobe vom Nachmittag bringt die Mutter Salzstangen mit und nach einer kurzen Vorführung entscheiden wir uns, dass der Anschlag auf dem Tisch abgeschnitten werden muss. Die Anpassungen werden am Nachmittag in der 12. Sitzprobe erneut getestet und für gut befunden.
Der ICF-Eintrag für die Visite des kommenden Tags informiert den behandelnden Arzt und das Pflegeteam über den Stand der Anpassung.
Woche 2, Tag 7, 13. und 14. Sitzprobe
Besprechung des weiteren Vorgehens der kommenden 4 Tage:
- 2 Tage Anpassung/Austesten des neuen Rollstuhls mit Sitz- und Rückenbettung, Brustgurt, Nackenstütze und Tisch
— Sitzbettung: Die Beinführung in der Sitzbettung führt den linken Oberschenkel gut, es bestehen keine Druckstellen, Joel kann gut und einfach positioniert werden.
— Rückenbettung: Die Rückenbettung ist gut an den Rücken angeformt und gibt eine leichte seitliche Führung. Zudem ist sie höher als die alte Rückenlehne und bietet mehr Auflagefläche. Die Region der Schulterblätter ist leicht ausgeschliffen. Es besteht kein Hypertonus der Rückenextensoren.
— Brustgurt: Der Brustgurt ist passend, es gibt keine Rötungen mehr; der Gurt muss noch fertiggestellt werden.
— Tisch: Joel kann die Arme immer besser ablegen und der Tonus in Schultergürtel und Nacken wird weniger. Es besteht kein Berührungspunkt mehr zwischen Tisch und Beckengurt oder Oberschenkel. Wir haben eine Lösung für die Befestigung des Tisches gefunden.
— Kopfstütze: Die ideale Position der Nackenstütze wird noch leicht angepasst.
- 1 Tag vor Austritt: Beziehen der Sitz- und Rückenbettung sowie des Tisches durch die Bandagie
- Anpassen des bestehenden Vorspannrads durch die Rollstuhlmechanik
- Anpassen der bestehenden Schiebehilfe durch die Rollstuhlmechanik
- Abreisetag (Ende des stationären Aufenthalts):
— Abgabe und Instruktion der neuen Rollstuhl-Sitzversorgung durch die Orthopädietechnik und Rollstuhlmechanik
— Dokumentation der Sitzposition/Rollstuhlversorgung mit Fotos durch die Therapiespezialistin
— Vereinbaren einer 3‑Monats-Kontrolle und Einholen der dafür notwendigen Verordnung
Weiterer Verlauf
Aufgrund der intensiven und zeitnahen Anpassungen der 1. Woche, dem Feedback der Mutter zum Wochenende, der regelmäßigen Kontrolle der Haut und der interprofessionellen Zusammenarbeit sind in der 15./16. Anprobe nur noch kleine Anpassungen nötig, da das Ziel, eine passende Sitzposition für Joel zu finden, erreicht ist. Die Anpassung der Rollstuhl-Sitzversorgung ist damit abgeschlossen.
Joel darf noch das Bezugsmaterial und die Farbe für die Sitz- und Rückenbettung auswählen.
Die Therapiespezialistin schreibt einen Bericht zur stationären Anpassung Sitz- und Rückenversorgung in den neuen Rollstuhl.
Die Orthoädietechnikerinnen haben den individuell angepassten Tisch mit Leder bezogen und zur Befestigung am Radschutz mit Velcro versehen. Der Brustgurt sowie der Beckengurt sind richtig platziert und einsatzbereit. Die Orthopädietechnikerin verfasst eine schriftliche Anleitung zur Positionierung von Joel in der neuen Sitzversorgung, die den Betreuungspersonen bei der Abreise mitgegeben wird.
Woche 2, Abreisetag (Ende des stationären Aufenthalts)
Nachdem die bestehende Schiebehilfe und das Vorspannrad an den neuen Rollstuhl angepasst und die Sitz- und Rückenbettung am Vortag von den Bandagistinnen bezogen wurden, findet heute der Abschlusstermin für die Neuversorgung statt. Die Erhebung der Fotodokumentation ist ein wichtiges Verlaufsdokument. Nach 3 Monaten soll es eine Sitzkontrolle geben. Die Bewegungsfähigkeiten und ‑fertigkeiten des Patienten konnten wir nur im Klinikalltag und bei angepasster Umgebung beobachten. Die kommenden Monate werden zeigen, ob und wie sich die Sitzposition im Alltag bewährt. Die 3‑Monats-Kontrolle dient der Evaluation mit Alltagserfahrung und, falls nötig, weiteren Anpassungen (Abb. 7).
Fazit
Nach dem 2‑wöchigen stationären Aufenthalt zur Anpassung und Abgabe der neuen Sitz- und Rückenbettung für den neuen Rollstuhl konnten die gesetzten Ziele erreicht werden. Die Sitzversorgung wurde in einem intensiven Prozess täglich evaluiert und an die Bedürfnisse des jungen Klienten angepasst. Die effizienteste und bestmögliche Anpassung und Versorgung ist dank der engagierten interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Therapeut*innen und Orthopädietechniker*innen und unter Einbezug von weiteren Berufsgruppen wie der Pflege und den Rollstuhlmechanikern sowie den Bandagistinnen möglich.
Der stationäre Aufenthalt, und somit die Möglichkeit, den Patienten vor Ort intensiv behandeln zu können, hat neue Befunde hervorgebracht (Schlüsselerkenntnis Armlagerung). Diese Erkenntnis hat wesentlich zur Verbesserung von Joels Sitzposition beigetragen.
Folgende Rückmeldung gibt Joels Mutter zwei Monate nach Abreise per E‑Mail: „Die neue Sitzbettung bewirkt nicht nur eine deutlich entspanntere Körperhaltung, sondern führte zu einer signifikanten Verbesserung der Schluckfunktion von Joel. Das im alten Rollstuhl verstärkt aufgetretene Sich-Verschlucken tritt selbst nach mehreren Monaten nur noch selten auf. Zurückgeführt wird dies auf die aufrechte Kopfhaltung. Eine Überstreckung wird durch den Brustgurt verhindert. Die angepasste Kopfstütze hält den Kopf in Position, ohne dessen Beweglichkeit für seitliches Drehen einzuschränken. Die Möglichkeit, die Unterarme auf dem Tisch aufzulegen, trägt ebenfalls zur entspannten Sitzhaltung bei.“
Die Autorin:
Gabriela Odermatt-Furrer
Therapiespezialistin
Rollstuhl-Sitzzentrum
Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil
Guido A. Zäch Strasse 1
6207 Nottwil
Schweiz
therapien.spz@paraplegie.ch
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Odermatt-Furrer G. Stationen einer Neuversorgung mit einer Sitz- und Rückenbettung im interprofessionellen Team des Rollstuhl-Sitzzentrums im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Orthopädie Technik, 2023; 74 (9): 50–55
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