Der Begriff „Profi“ trifft bei den von André Stötzer trainierten Athleten zwar nicht zu, doch mit ihm als Bundestrainer qualifizierten sich erstmals drei deutsche Starter im Para-Snowboard für die Paralympischen Spiele in Peking. „Das größte Problem für uns ist das Fehlen von Passteilen“, erklärte der Orthopädietechniker die sportartspezifische Besonderheit der noch „jungen“ Disziplin im deutschen Behindertensport. Vor allem in der Prothetik der unteren Extremität gebe es aktuell weltweit nur zwei Hersteller, die entsprechende Teile für die Versorgung liefern könnten. „Für den Einstieg reicht aber auch eine Alltagsversorgung“, erklärte Stötzer die überraschend niedrige Einstiegshürde für den Wintersport. In Peking war allerdings Stötzers Können nicht nur als Bundestrainer, sondern auch als OTler gefragt. „Bei einem Sportler veränderte sich der Stumpf auf Grund des langen Flugs so sehr, dass wir vor Ort einen neuen Schaft bauen mussten.“ Da Stötzer und sein Co-Trainer „vom Fach“ sind, durften sie in den OT-Werkstätten selbst Hand anlegen und brachten ihren Sportler pünktlich und gut versorgt auf die Piste.
Beim Profisport gelernt und im Breitensport eingesetzt
Bei Schnee starten auch viele Kund:innen bzw. Patient:innen von Björn Schmidt, Stellvertretender Bereichsleiter bei Ortema. Vor allem die Versorgung mit Orthesen ist hier das Fachgebiet des Herstellers aus Markgröningen. „Grundsätzlich macht es für uns keinen Unterschied, ob jemand ein Profisportler oder Breitensportler ist“, lautet Schmidts Credo. Der eigene Anspruch, die Versorgung so zu gestalten, dass der Sporttreibende möglichst wenig beeinflusst wird, ist groß. Außerdem muss bei der Versorgung auch immer das Sportgerät mitgedacht werden. „Wenn wir eine Versorgung für Skifahrer:innen machen, dann scannen wir zum Beispiel einmal ‚normal‘ und einmal im Skischuh. Die Versorgung darf nicht in den Konflikt mit dem Material kommen“, so Schmidt. Dabei spiele vor allem die Erfahrung als Versorger eine große Rolle. „Je mehr Versorgungen man macht, desto besser werden sie“, erklärte er. Schmidt selbst hatte eigentlich nur vorgehabt, sich kurz mit dem Thema auseinanderzusetzen – das ist über 20 Jahre her. Wenn es jetzt um Versorgungen gehe, dann könne man laut Schmidt auch ein bisschen „tricksen“. „Was wir im Profisport gelernt haben, das können wir auch auf den Breitensport übertragen“, sagte Schmidt. Der Unterschied zwischen Profis und Nicht-Berufssportlern sei allerdings der Faktor Zeit. „Wenn ein Profi-Fußballer sich die Nase bricht, dann bekommt er eine Maske und kann drei Tage später schon wieder auf dem Feld stehen“, beschreibt Schmidt beispielhaft einen Prozess.
Ähnlich erlebt es auch Stefan Woltring, Orthopädieschuhmacher-Meister und Inhaber von Motioncheck. Als Experte seines Fachgebiets werden seine Dienste unter anderem in der 1. und 2. Fußball-Bundesliga in Anspruch genommen. Im Live-Talk berichtete er anschaulich von Versorgungsbeispielen aus der Praxis. „Bei Fußballschuhen ist – im Gegensatz zu Laufschuhen — vor allem der geringe Platz eine Herausforderung.“ So wurde beispielsweise einem Profi-Kicker nach einer Trittverletzung binnen kürzester Zeit ein Fußballschuh auf Maß geschneidert. „Da wurden Stollen abgesägt und die Plastikteile im Inneren entfernt, um Platz zu schaffen“, erinnert sich Woltring. Die Versorgung erfüllt ihren Zweck tadellos, der Leistungsträger konnte auflaufen.
Ingo Pfefferkorn, Geschäftsleitung bei Orthopädie-Technik Scharpenberg und Mitglied im Programmkomitee der OTWorld, berichtete aus seinem Unternehmen vom Schicksal einer Sportlerin, die von den Ereignissen der Weltpolitik quasi in seine Geschäftsräume „gespült“ wurde. Die junge Ukrainerin, die bei den Paralympischen Spielen in Tokio im vergangenen Jahr die Silbermedaille im Rollstuhlfechten erringen konnte, floh nach dem Angriff Russlands bis nach Rostock. Dort erhielt sie eine gewünschte orthetische Versorgung und eine – temporäre – sportliche Heimat. „Wir haben in Rostock einen Verein für Rollstuhlfechten, so dass die junge Frau wenigstens dort ihrem Sport nachgehen kann“, berichtete Pfefferkorn.
Hilfsmittel können bewiesenermaßen helfen
Vom OP-Tisch direkt an den Bildschirm eilte Dr. Thilo Hotfiel vom Zentrum für Muskuloskelettale Chirurgie (OZMC) des Klinikums Osnabrück. Der Verbandsarzt der Deutschen Triathlon Union (DTU) stieg aber ohne Umschweife in die Talkrunde ein und bereicherte diese vor allem durch die medizinische Perspektive. Bezogen auf die Versorgung mit Hilfsmitteln sagte Hotfiel: „Es gibt nicht das eine Hilfsmittel für Sportlerinnen und Sportler.“ Vielmehr müsse zunächst herausgefunden werden, was der Sporttreibende wirklich braucht. Wenn es beispielsweise um Verletzungsprävention geht, dann könne man – je nach Sportart – dank Studien schon ziemlich genau sagen, dass zum Beispiel das Tragen einer Orthese das Verletzungsrisiko minimiert. Leistungssteigerung, bessere Bewegungsökonomie oder Regeneration sind weitere Felder, in denen Hilfsmittel eine Rolle spielen können. Wichtig sei, dass der Athlet bzw. die Athletin im Mittelpunkt stehe, damit – so Hotfiel – die Therapietreue auch eingehalten werden kann. Dem stimmte Stefan Woltring zu: „Der Mensch gehört in den Mittelpunkt. Was kann er und was braucht er? Und: Er muss eine Begründung bekommen.“
Mit dem Mediziner in der Runde wurde auch kurz die Welt des Sports verlassen und über die Technische Orthopädie gesprochen. „In der Facharztausbildung muss die Technische Orthopädie Teil werden“, warb Hotfiel für eine Veränderung der Rahmenbedingungen zugunsten der TO. André Stötzer, in St. Gallen tätig, berichtigte von der gelebten Praxis in der Schweiz. „Bei uns müssen die Mediziner in der Facharztausbildung eine Woche lang in die Werkstatt.“ Das frühe Kennenlernen von Ärzt:innen und Techniker:innen sei nur einer der vielen Vorteile dieses Vorgehens. Vor allem das bessere Verständnis für die technische Arbeit hinter der Versorgung sorge für eine bessere Zusammenarbeit. „Wir haben einen extrem großen Bedarf, deshalb darf es nicht den Interessierten überlassen werden“, unterstrich Hotfiel seine These nochmals und berichtete aus seiner beruflichen „Heimat“ im Klinikum in Osnabrück, in dem es jede Woche eine Frühweiterbildung für Ärzte gebe – auch zu den Themen der Technischen Orthopädie.
Der Ort, an dem Mediziner:innen, Orthopädietechniker:innen, Orthopädieschuhtechniker:innen oder auch beispielsweise Physiotherapeut:innen im Mai zusammenkommen werden, ist die OTWorld. Alle Mitglieder der Talkrunde werden in der einen oder anderen Funktion im Rahmen von Kongress und Messe vor Ort sein. Auf die Frage von Michael Blatt, wie sich Dr. Hotfiel als Mediziner auf einem Technikerkongress als „Gast“ fühle, antwortete dieser: „Ich bin vielleicht als Mediziner ‚Gast‘, aber ich fühle mich heimisch. Ich bin in einem OST-Betrieb aufgewachsen, ich kenne also die Gerüche, Handgriffe und Materialien.“
Definitiv kein Gast, sondern mittendrin im Geschehen wird auch Ingo Pfefferkorn sein. Der Vorsitzende der Fortbildungsvereinigung für Orthopädietechnik (FOT) lenkte noch einmal den Fokus auf die Sportversorgung im Rahmen der OTWorld. Es wird 33 Themen zum Sport rund um Orthetik, Prothetik, Medizin, Einlagen und Schuhversorgung geben. „Es ist einiges dabei, was sehr spannend wird“, macht Pfefferkorn Lust auf Sport im Rahmen der OTWorld.
Heiko Cordes
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