Verantwortlich für das Programm zeichneten die beiden Tagungspräsidenten PD Dr. Knuth Rass, Chefarzt im Zentrum für Venen und periphere Arterien an der Eifelklinik St. Brigida in Simmerath, sowie PD Dr. Houman Jalaie, Leiter des Europäischen Venenzentrums Aachen-Maastricht und Leiter der Kommission Phlebologie der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum der RWTH Aachen. Im Gespräch mit der Redaktion erklärt PD Dr. Rass, welche vielversprechenden Möglichkeiten die Digitalisierung für das Fachgebiet eröffnet und warum mehr Evidenz nötig ist.
OT: Wie ist Ihr Konzept bei Referent:innen und Teilnehmer:innen vor Ort sowie im Netz angekommen?
Knuth Rass: Wir hatten das Glück, mit dem Eurocongress einen wunderbaren Veranstaltungsort gefunden zu haben. Die relativ liberale Corona-Schutzverordnung in Aachen hat es uns zusätzlich erleichtert, 860 Teilnehmer:innen vor Ort begrüßen zu können. Zusätzlich nutzten 180 Teilnehmer:innen unseren Stream, in dem die Veranstaltungen aus zwei Sälen live übertragen wurden. Die Resonanz, die uns erreicht hat, war durchweg positiv – egal, ob seitens der Referent:innen, Teilnehmer:innen oder der Industrie.
OT: Nach welchen Kriterien haben Sie die Themen für die Live-Streams ausgewählt?
Rass: Technisch waren nur Übertragungen aus zwei Sälen möglich. Daher haben wir uns für einen Live-Stream der vier Plenarsitzungen mit internationalen Gästen zu den ganz großen Themen Thrombose, Postthrombotisches Syndrom, Varikose und Ästhetik entschieden. In einem zweiten Strang haben wir wissenschaftliche Sitzungen mit Partnerfachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e. V. (DGG) oder der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie e. V. (DGL) übertragen lassen. Teilnehmer:innen stehen die Videos auch nach dem Ende unserer Jahrestagung noch für drei Monate zur Verfügung.
OT: Sie haben in diesem Jahr zwei neue Formate angeboten. Wie war die Resonanz auf die Neuheiten?
Rass: Hier geht es um die zielgruppengenaue Ansprache. Für jüngere Kolleg:innen strukturierte der „Weiterbildungspfad“ erstmals alle Kongressthemen von der Diagnostik bis zur endovenösen Therapie. Immerhin 16 Teilnehmer:innen nutzten dieses Angebot. Neu war auch der Aufbaukurs Sonografie Haut, Subcutis und Lymphknoten der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM) mit 23 Teilnehmer:innen. Diese Kurse sind z. T. rar gesät. Sie richten sich an Dermatologen. Phlebologie gehört ebenfalls zu ihrer Ausbildung und mit dem neuen Format möchten wir die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken und weitere Dermatologen auch für die Phlebologie gewinnen.
Digitale Tools als Ergänzung
OT: Wie schätzen Sie den Digitalisierungstrend auf dem Gebiet der Phlebologie ein?
Rass: Von dieser Entwicklung verspreche ich mir einiges. Prof. Dr. Joachim Dissemond vom Universitätsklinikum Essen sprach in seinem Vortrag über Sensorik in Wundauflagen. Diese kann einen Beitrag bei der Überwachung des Wundverbandes leisten, indem sie die Temperatur oder den PH-Wert misst und kommuniziert oder einen Verbandswechsel anmahnt, um etwaige Infektionen zu verhindern. Prof. Dr. Michael Jünger von der Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten der Universitätsmedizin Greifswald stellte auf der Jahrestagung eine dermatologische App vor, mit der er Patient:innen telemedizinisch in deren häuslicher Umgebung betreut – in Zusammenarbeit mit den Pflegediensten und Hausärzt:innen vor Ort. Zukünftig soll es auch möglich sein, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder Rezepte über die App zu schicken. Auch das ist ein guter Ansatz. Denn die meisten betroffenen Patient:innen mit chronischen Wunden sind wenig mobil. Ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern müssen sie auch bei uns in der Eifel weite Wege hinter sich bringen, um sich bei Expert:innen vorzustellen. Insofern ist eine App sicher nicht schlecht, um sich im Team von Fach- und Hausärzt:innen sowie Wundtherapeut:innen auszutauschen. Dennoch gilt hier ebenfalls: Wir brauchen mehr Versorgungsstudien.
OT: Können smarte oder digitale Techniken dem Fachärztemangel entgegenwirken?
Rass: Die Telemedizin ist mehr und mehr im Kommen. Sie bietet aber keine umfassende Lösung für den Mangel an Fachärzt:innen und Wundtherapeut:innen.
Mehr Studien – mehr Evidenz
OT: Dr. Arina Ten Cate vom Universitätsklinikum Maastricht präsentierte eine Studie, nach der die Compliance – die Einhaltung der verschriebenen Tragezeiten – bei Kompressionstherapie mit niedrigerem Druck höher ist. Was bedeutet das für Deutschland?
Rass: Das ist tatsächlich die erste klinische Studie zum Thema. Sie bestätigt unsere Erfahrungen aus der Praxis, dass es besser ist, eine geringere Kompressionsklasse zu verschreiben, welche die Patient:innen dann auch wirklich tragen. Die Studie gibt den Fachärzt:innen mehr Sicherheit bei der Verschreibung der Kompressionsklassen und zeigt, wie wichtig Studien sind.
OT: Mehrfach wurde angesprochen, dass es noch immer zu wenig Evidenz gebe. Wie lässt sich das ändern?
Rass: In der Tat ist vieles mit zu wenig Evidenz auf dem Markt. Die Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation – MDR) der Europäischen Union für alle Medizinprodukte, die seit diesem Mai verbindlich in Deutschland gilt, ist sicher ein guter Ansatz. Dennoch – wir brauchen mehr Studien, mehr Evidenz. Das würde helfen, die Therapie unserer Patient:innen zu optimieren und stärker am individuellen Befund auszurichten. Um dies zu realisieren, wäre in vielen Bereichen eine bessere Forschungsförderung notwendig.
Klarheit schaffen – individuelle Befunde beachten
OT: Seit September 2020 ist die neue Leitlinie „Lipödem“ in Arbeit. Welche Fortschritte erwarten Sie in diesem Bereich?
Rass: Die Leitlinie sollte in erster Linie für mehr Klarheit sorgen bei den Fragen: Wann wird die Diagnose Lipödem gestellt? Bei welchen Indikationen ist die Lymphdrainage angezeigt? Wann ist eine Liposuktion indiziert? Wie beeinflussen Ernährung und Gewicht die Erkrankung? Bei letzter Frage zeigt die Praxis beispielsweise deutlich, dass die Beschwerden mit der Gewichtsreduktion nachlassen.
OT: Welche neuen Erkenntnisse zu den weiteren klassischen Phlebologie-Themen nehmen Sie aus dem diesjährigen Kongress mit?
Rass: Auf dem Kongress wurde von Prof. Dr. Achim Mumme über eine randomisierte Langzeitstudie mit einer Nachbeobachtung der Patient:innen über zehn Jahre und eine aktuelle Meta-Analyse zum Thema Operation oder endovenöse Therapie der Stammvarikose der V. saphena magna berichtet. Diese zeigen im Langzeitverlauf eine gewisse Überlegenheit der operativen Vorgehensweise gegenüber der endovenösen Therapie. Das Ergebnis täuscht aber darüber hinweg, dass bei den teilnehmenden Patient:innen unterschiedliche Befunde vorlagen. Wir brauchen Studien, die beide Therapieformen bei Patientengruppen mit gleichen anatomischen Gegebenheiten vergleichen. Dann kommen wir vielleicht zu einem anderen Ergebnis. Denn ich bin aus meiner eigenen Erfahrung heraus überzeugt, dass die endovenöse Therapie ihren Stellenwert bei ganz bestimmten Indikationen hat. Hierbei spielen die Funktion der Schleusenklappe und der maximale Gefäßdurchmesser eine wichtige Rolle. Wir müssen mehr und mehr anhand der individuellen Befunde die Therapie festlegen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Die 64. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie findet vom 28.9. bis 1.10.2022 in Hannover statt.
Im Rahmen der 63. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie (DGP) wurde im Anschluss an die Session „Lipödem“ die Arbeitsgemeinschaft „AG Lipödem“ gegründet. Die Mitglieder wählten Dr. Gabriele Faerber und Dr. Stefan Rapprich als Vorstand der AG sowie weitere vier Beiratsmitglieder. „Die AG Lipödem wurde gegründet, weil wir uns als DGP zuständig für die ganzheitliche Behandlung dieses Krankheitsbilds fühlen“, erklärte Dr. Gabriele Faerber gegenüber der OT-Redaktion. „Denn die meisten Lipödempatient:innen stellen sich in phlebologischen Praxen vor, dort wird die Diagnose gestellt und die Therapie eingeleitet.“ Der Gründung vorausgegangen war der auf der 62. Jahrestagung in Leipzig 2021 ergangene Beschluss, eine solche AG ins Leben zu rufen. Etwa 70 Mitglieder der DGP hatten sich daraufhin gemeldet und ihre Bereitschaft bekundet, an der AG teilzunehmen.
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