Einleitung
Im Versorgungsbereich der Halswirbelsäule kommen überwiegend konfektionierte Zervikalorthesen in verschiedenen Ausführungen zum Einsatz. Hauptsächlich geht es dabei um posttraumatische Versorgungen, die zeitlich limitiert eingesetzt werden, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Wenn es sich allerdings um chronische Beschwerden infolge von strukturellen, funktionellen oder neurologischen Schädigungen bzw. Abweichungen handelt, ist eine adäquate individuelle Versorgung der Halswirbelsäule unabdingbar. In der Chirurgischen Klinik des Virchow-Klinikums der Charité in Berlin wurde unter der Leitung von Dr. med. Oliver Dobrindt eine individuelle Zervikalorthese entwickelt, um schwerpunktmäßig Patienten mit Spinalkanalstenosen zu behandeln. Für die Umsetzung dieses Konzepts zeichnet das Gesundheitshaus Seeger in Berlin verantwortlich.
Der Artikel zeigt auf, inwiefern Patienten von individuellen Hilfsmitteln aus einer modernen digitalen Prozesskette profitieren und eventuell sogar adäquater versorgt werden können als mit konventionell hergestellten Orthesen.
Problemstellung und Vorüberlegungen
Bei den meisten Patienten, die sich im Virchow-Klinikum mit chronischen Beschwerden im Halswirbelbereich vorstellen, liegt eine Spinalkanalstenose vor. Dabei wird der Rückenmarkskanal durch dislozierte, deformierte oder bereits defekte Bandscheiben verengt, sodass das Rückenmark gequetscht wird. Auslöser von Stenosen können Traumata, strukturelle Knochendefekte in Form von Osteolysen oder auch Erkrankungen des Nervensystems wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) sein. Oft resultiert daraus eine muskuläre Dysbalance, die sich wiederum in Fehl- und Schonhaltungen niederschlägt und die Spinalnerven auf lange Sicht durch die damit einhergehende abnorme Position der Bandscheiben beeinträchtigt. Eine unsichere Kopfhaltung bei schnellen und abrupten Bewegungen sowie einschießende Schmerzen bis ins Hinterhaupt sind alltägliche Beschwerden, von denen Betroffene berichten. Die letztendliche Diagnose einer Spinalkanalstenose kann durch bildgebende Verfahren mittels Röntgenaufnahmen oder durch ein CT gestellt werden. Dabei wird auch deutlich, ob die Stenose ventral, dorsal oder beidseitig vorliegt 1. Um einen operativen Eingriff zu vermeiden, muss die Halswirbelsäule mittels einer konservativen Orthesenversorgung vor allem im Sagittalprofil stabilisiert werden. Anhand der Anamnese und einer bildgebenden Diagnose wird festgelegt, welche Bewegungslimitierung notwendig ist, um eine Entlastung der Spinalnerven zu gewährleisten.
Erstellungsprozess der Zervikalorthese
Maßnehmen
Da Verletzungen der Halswirbelsäule sehr unangenehm und schmerzhaft sind, sollte die Orthesenversorgung für den Patienten möglichst angenehm gestaltet werden. Aus diesem Grund wird zur Erstellung des notwendigen individuellen Abdrucks des Kopf-Hals-Bereichs der mittlerweile branchenbekannte Handscanner „Artec Eva“ (Artec Europe, Luxemburg) verwendet. Dieser kann mit einer Erfassungsgenauigkeit von 0,1 mm berührungslos ein akkurates Abbild des Patienten erstellen und in ein digitales 3D-Modell überführen 2. Das digitale Maßnehmen ist für den Kunden bei dieser Versorgungsart deutlich schneller, sauberer und angenehmer als eine herkömmliche Gipsmaßnahme. Direkt vor dem Maßnehmen bringt der Orthopäde den Kopf-Hals-Bereich des Patienten in die beabsichtigte Position, die später von der Zervikalorthese erzielt werden soll. Zur Unterstützung der Haltung während des Scan-Abdrucks wird eine Cast-Binde dorsal an Nacken und Kopf angeformt und fixiert (Abb. 1). Die Cast-Binde wird später digital vom gescannten Modell wieder entfernt, um die korrekte Anatomie zu erhalten.
Der Scanvorgang erfolgt in der Weise, dass der Orthopädietechniker sich mit dem Handscanner einmal um den Patienten herumbewegt, um ein geschlossenes Modell zu erzeugen. Mit Hilfe der dazugehörigen Software „Artec Studio“ werden unzählige Punkte der Körperoberfläche aufgenommen und zu einem Mesh-Modell (Dreieckskörper) fusioniert 3. Eventuelle Artefakte oder irrelevante Teile können nachträglich entfernt werden. Das fertige Mesh-Modell wird sodann als STL- oder OBJ-Datei (Dreieckskörper mit zusätzlicher Farbtextur) für die Weiterbearbeitung exportiert.
Digitale Erstellung der Orthese
Das erzeugte 3D-Modell des Patienten dient als Grundlage zur Erstellung der Zervikalorthese. Im nächsten Prozessschritt wird das Mesh-Modell in die Software „Geomagic Freeform“ geladen und in ein sogenanntes Clay-Objekt umgewandelt, das virtuell wie ein Gipsmodell bearbeitet werden kann. Material für zu entlastende Prominenzen oder Platzhalter für Polsterungen können dabei in wenigen Arbeitsschritten auf- oder abgetragen werden. Bei Bedarf wird das digitale Modell im Halsbereich bis zu 5 mm gestreckt, um die Bandscheiben zusätzlich zu entlasten. Daraufhin legt man den vorgesehenen Randverlauf der Orthese fest und trägt die gewünschte Orthesenwandstärke (hier 2,0 bis 2,7 mm) auf die Zweckform auf. Außerdem können Aussparungen für den Kehlkopfbereich oder Perforationen zur besseren Ventilation eingefügt werden. Die Zervikalorthese wird zum Anlegen auf der linken oder der rechten Seite geschlitzt, und gegenüberliegend wird ein flexibler Bereich zur leichteren Öffnung eingearbeitet (Abb. 2a–c). Abschließend werden alle Kanten geglättet, um Verletzungen vorzubeugen. Wie in den Abbildungen zu erkennen ist, kann man die Passform anhand des 3D-Scans bereits in digitaler Form annähernd überprüfen. Das finale digitale Modell der Orthese wird zum Abschluss zurück in ein Mesh-Modell umgewandelt und schließlich per 3D-Druck ein greifbares Produkt daraus erstellt.
Die Gestaltung des letztendlichen Orthesendesigns entstand im Vorfeld in enger Zusammenarbeit zwischen dem behandelnden Arzt, dem Orthopädietechniker und den Patienten. Dabei wurden nach den ersten Erfahrungen schrittweise Verbesserungen vorgenommen und in Prototypen erprobt.
3D-Druck
Für die Erzeugung der Zervikalorthese dieses Projekts fiel die Wahl auf das pulverbasierte Druckverfahren „Multi Jet Fusion“ (MJF) der Firma HP mit dem Material Polyamid 12 (PA12). Es ähnelt dem bereits länger etablierten Selektiven Lasersintern (SLS) – allerdings werden die Pulverschichten beim MJF-Verfahren nicht durch einen Laser, sondern mittels wärmeleitender Flüssigkeiten und einer Infrarot-Energiequelle verschmolzen 4. Der E‑Modul von PA12 liegt mit durchschnittlich 1800 MPa über dem von PE-HD (1350 MPa) und PP (1450 MPa) und ist damit hinsichtlich elastischer Verformung mindestens ebenbürtig mit den im Orthesenbau oft genutzten Kunststoffen ohne Faserverstärkung 5. Hierbei entstehen also stabile isotrope Werkstücke, die richtungsunabhängig belastbar sind. Je nach Auftragslage wird die gedruckte Orthese innerhalb von drei bis sechs Tagen vom Druckdienstleister ins Sanitätshaus geschickt, und die Anprobe kann erfolgen.
Erste Anprobe
Auf die Produktion der Orthese mittels 3D-Druck folgt die erste Anprobe am Patienten. Dabei wird vorrangig überprüft, ob der Kopf mit Hilfe der Orthese sowohl im Liegen als auch im Stehen in der beabsichtigten Position gehalten wird (Abb. 3). Nach kurzer Eingewöhnung können eventuelle Druckstellen oder schmerzhafte Punkte gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten ermittelt werden. Leichte Korrekturen der Passform sind wie bei konventionellen Orthesen durch Polstermaterialien, thermische Verformung oder Beschleifen möglich. Das subjektive Patientenfeedback ist an dieser Stelle von großer Bedeutung, denn auf diese Weise kann eine individuelle Einschätzung abgegeben werden, inwiefern die Halswirbelsäule entlastet ist und die Beschwerden oder Schmerzen gelindert werden konnten.
Patientenresonanz
Die Zervikalorthese wurde bereits bei einigen Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Indikationen erfolgreich erprobt. Darunter befand sich unter anderem eine Patientin mit Aplasie des Atlas-Wirbels, die sich in unsicherer Kopfhaltung bei abrupten Bewegungen äußerte; eine weitere Patientin litt nach einem traumatischen Ereignis an starken einschießenden Schmerzen im Nackenbereich, sodass sie ihren Kopf im normalen Alltag nicht schmerzfrei bewegen konnte.
Ursprünglich war die Orthese ausschließlich als Nachtlagerungsschiene geplant, um die Halswirbelsäule primär im Sagittalprofil auch bei erschlaffter Muskulatur während des Schlafs akkurat zu positionieren. Allerdings wurde die Versorgung von den Patientinnen und Patienten so positiv aufgenommen, dass sie diese aus eigenem Antrieb teilweise auch im Alltag tragen. Diese hohe Akzeptanz wird sicherlich durch das dezente Design begünstigt, da die Orthese problemlos unter der Kleidung getragen werden kann. In beiden exemplarisch dargestellten Fällen wurde den Patientinnen mit Hilfe der Zervikalorthese ermöglicht, ihren Alltag schmerzfreier zu bewältigen und teilweise sogar Sportübungen wie Sit-ups oder Nordic Walking auszuführen.
Quantitative Untersuchung der Wirkung der Zervikalorthese
Um die neuartig gefertigte Orthese nicht nur auf der Basis des subjektiven Feedbacks der versorgten Patienten bewerten zu können, wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit 6 eine Bewegungsmessung durchgeführt. Dabei sollte das Bewegungsausmaß der Halswirbelsäule („cervical range of motion“, CROM) mittels Instrumentierung des Kopfes und des oberen Brustwirbelbereiches näherungsweise ermittelt werden (Abb. 4) 6.
Dazu wurde ein Messsystem verwendet, das mit Inertialsensoren arbeitet. Solche Sensoren sind neben optischen Systemen bereits aus der Ganganalyse bekannt. Sie bieten vor allem den Vorteil einer kompakten Bauweise und einer nahezu laborunabhängigen Messumgebung. Dieses System stellt damit eine gute Grundlage dar, die Probanden so wenig wie möglich in ihren Bewegungsabläufen zu beeinflussen, um realistischere Messergebnisse zu erhalten.
An den Messungen partizipierten insgesamt vier Probandinnen und Probanden im Alter zwischen 35 und 64 Jahren – zwei davon hatten eine entsprechende Indikation für die Verwendung der Orthese, die anderen beiden Probanden wiesen keine entsprechende Indikation auf. Bestandteile der Messungen waren Alltagsbewegungen wie
- Schuhe binden,
- Treppen steigen,
- entspanntes Gehen sowie
- Gegenstände von einem Tisch aufnehmen.
Außerdem sollten die Probanden das maximal mögliche Bewegungsausmaß (max. CROM) in Sagittal- und Frontalebene isoliert aktiv ausüben. Diese Teilaufgaben wurden von allen Probanden jeweils mit einer maßgefertigten Zervikalorthese und ohne Orthese ausgeführt, um Vergleichswerte zu erhalten.
Die Ergebnisse (Tab. 1) belegen, dass die Orthese das maximale Bewegungsausmaß der HWS (max. CROM) sagittal durchschnittlich um 64 % und koronal um 52 % reduziert. Bei den Alltagsbewegungen liegt die Immobilisierung in der Sagittalebene zwischen 32 und 63 % sowie frontal zwischen 12 und 27 % (Tab. 1) 6.
Zur besseren Einschätzung dieser Ergebnisse lässt sich ein Review von Holla und Kollegen 7 heranziehen. Darin wurden konventionelle Zervikalorthesen nach ihrer Größe und der Immobilisierung des maximalen Bewegungsumfangs (max. CROM) klassifiziert und miteinander verglichen 7. Die Immobilisierungswerte der hier vorgestellten maßgefertigten Zervikalorthese sind mit den Werten der konventionellen Orthesen vergleichbar, wenn sie eine ähnliche Baugröße aufweisen. Teilweise liegen die Werte sogar im Bereich größerer Orthesen, die deutlich längere ventrale und dorsale Rumpfanlagen haben (Tab. 2) 6.
Diskussion
Die im Rahmen des hier vorgestellten Projekts entwickelte Orthese erhielt bei den bisher versorgten Patienten eine gute Resonanz bezüglich des alltäglichen Tragekomforts sowie der Linderung im betroffenen Bereich. Die Bewegungsmessungen bestätigen zusätzlich die Immobilisierungswirkung der Orthese und spiegeln ebenfalls den Mehrwert der Versorgung wider. Bei der Herstellung der Orthese wurden die Möglichkeiten einer digitalen Prozesskette vom Maßnehmen bis zur Produktion abgewogen und erfolgreich angewandt:
- Zum einen wurde die digitale Scantechnik eingesetzt, um ein Abbild der Patienten zu erfassen, das sauberer, schneller und angenehmer erstellt werden kann als mit einer Gipsmaßnahme.
- Zum anderen wurde die Zweckform, also die Basis der Orthesenkonstruktion, digital mittels „Geomagic Freeform“ erarbeitet und das Design der Orthese direkt auf dieser Grundlage konstruiert, sodass es in den 3D-Druck überführt werden konnte.
Die Fertigungskosten für diese Versorgung fallen zwar deutlich höher aus als bei einer konfektionierten Halsorthese mit ähnlichem Anwendungsbereich. Durch die Sonderanfertigung wird aber jedem Patienten eine adäquate Versorgung geboten, die optisch unauffällig ist und somit für eine größere Compliance sorgt. Dies wäre mit Konfektionsware nicht möglich.
In diesem Projekt ging es nicht vorrangig um die Automatisierung und Standardisierung einer digitalen Prozesskette zur Herstellung einer individuellen Zervikalorthese. Vielmehr wurde versucht, bereits vorhandene digitale Möglichkeiten in den Herstellungsprozess der geplanten Versorgung einzubinden, um Arbeitsschritte einerseits angenehmer für die Patientinnen und Patienten und andererseits vorteilhafter und zielgerichteter für den Techniker zu gestalten. Da die Umsetzung für alle Beteiligten sehr positiv ausfiel, wäre eine Standardisierung der hier entstandenen Prozesskette in jedem Fall sinnvoll, um zukünftig effizienter zu arbeiten. Die Arbeitsschritte der „analogen“ Anprobe bleiben allerdings unabdingbar, um individuelle Anpassungen nach der Orthesenproduktion durchzuführen.
Für die Autoren:
Michael Gebauer, B. Eng.
Produkt- und Prozessentwicklung
Seeger Gesundheitshaus GmbH & Co. KG
Geneststraße 5–6, 10829 Berlin
m.gebauer@seeger-gesundheit.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Gebauer M, Popkes J, Dobrindt O. Entwicklung einer neuartigen 3D-gedruckten Zervikalorthese. Orthopädie Technik, 2021; 72 (7): 36–39
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
- Dobrindt O. Cervicale Repositionsorthese zur Behandlung von chronischen HWS-Beschwerden [unveröffentlichte Präsentation]. Berlin: Julius Wolff Institut, 2019
- Artec Europe. Artec Eva, Spezifika. https://www.artec3d.com/de/portable-3d-scanners/arteceva-v2#specifications (Zugriff am 22.04.2021)
- Artec Europe. Artec Eva, Übersicht. https://www.artec3d.com/de/portable-3d-scanners/arteceva-v2#overview (Zugriff am 22.04.2021)
- Sommer W, Schlenker A, Lange-Schönebeck C‑D. Faszination 3D-Druck. Alles zum Drucken, Scannen, Modellieren. 2., aktualisierte Auflage. Burgthann: Markt + Technik, 2018
- Kern GmbH. Material Selector. Die dynamische Richtwerttabelle. https://www.kern.de/de/richtwerttabelle (Zugriff am 02.06.2021)
- Gebauer M. Untersuchung der Funktionalität einer 3D-gedruckten maßgefertigten Zervikalorthese mithilfe von Inertialsensoren. Bachelorarbeit, FH Münster, 2020
- Holla M et al. The ability of external immobilizers to restrict movement of the cervical spine: a systematic review. Eur Spine J, 2016; 25 (7): 2023–2036. doi: 10.1007/s00586-016‑4379‑6