Michael Rössler, Stellvertretender Leiter von Handwerk International Baden-Württemberg und dort für den Bereich der Außenwirtschaftsberatung zuständig, erklärt die wichtigsten Fakten.
OT: Herr Rössler, der Brexit ist vollzogen, jedoch konnten sich die Verhandlungsführer der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs (VK) quasi in letzter Minute auf ein gemeinsames Abkommen einigen, welches die Handelsbedingungen zwischen der EU und dem VK regelt. Was sind die maßgeblichen Eckpfeiler dieser Einigung?
Michael Rössler: Mit der Einigung konnte ein harter Brexit abgewendet werden. Auf im Vereinigten Königreich tätige Betriebe kommen jedoch dennoch zusätzliche Herausforderungen zu. Für Lieferungen gilt jetzt ein Freihandelsabkommen, d. h. für EU-Waren fallen meist keine Zölle an. Die Ware muss aber dennoch durch den Zoll mit allen damit notwendigen Anmeldungen. Die Betriebe müssen sich zudem mit den jetzt geltenden Ursprungsregeln und verlangten Ursprungsnachweisen beschäftigten, da das Freihandelsabkommen z. B. nicht für aus Nicht-EU-Ländern zugekaufte Waren gilt. Auch bei der Mitarbeiterentsendung wird es schwieriger. Zwar gibt es bei Geschäftsreisen bis zu 90 Tagen in einem 6‑Monatszeitraum keine Visapflicht. Für Arbeiten, die im Vereinigten Königreich durchgeführt werden und mit keiner eigenen Warenlieferung verbunden sind, ist in Zukunft aber ein Visum erforderlich. Die Abgrenzung zwischen beiden Verfahren ist in vielen Bereichen noch nicht klar.
Es fallen höhere Kosten an
OT: Wie bewerten Sie diese Regelungen aus Sicht des Handwerks?
Rössler: Das Abkommen ist aus Handwerkssicht sicher besser als ein harter Brexit ohne Vereinbarung. Für Betriebe, die bereits in Nicht-EU-Länder (wie z. B. die Schweiz) liefern, sind die zusätzlichen bürokratischen Hürden sicher zu bewältigen. Es fallen aber höhere Kosten an, die am Markt erst durchgesetzt werden müssen. Für Handwerksbetriebe, die Mitarbeiter entsenden wollen oder die bisher keine Erfahrungen mit dem Zoll haben, sind die Regelungen jedoch eine Herausforderung. Das kann dazu führen, dass einige Geschäfte nicht zustande kommen. Bei vielen Punkten muss sicher auch noch abgewartet werden, wie die neuen Regelungen in der Praxis konkret umgesetzt werden.
OT: Was müssen Betriebe in Zukunft im wirtschaftlichen Austausch mit dem Vereinigten Königreich beachten?
Rössler: Bei Lieferungen muss die Ware durch den Zoll. Entsendungen sind nur noch eingeschränkt ohne Visum möglich. Bei der Produktzertifizierung gibt es ebenfalls keine automatische Anerkennung der EU-Standards mehr. Betriebe sollten sich daher frühzeitig darüber informieren, welche Änderungen für sie relevant sind, welche zusätzlichen Kosten entstehen und ob bestimmte Dienstleistungen nicht mehr oder nur noch mit sehr großem Aufwand möglich sind. Die daraus entstehenden Kosten und der zusätzliche Aufwand sollten den Betrieben bekannt sein, bevor sie ihre Produkte und Dienstleistungen in Großbritannien anbieten. Wenn der so zustande kommende Preis für Kunden akzeptiert wird, können auch Handwerksbetriebe in Zukunft erfolgreich im Vereinigten Königreich tätig sein, wie das ja auch in anderen Nicht-EU-Ländern bisher bereits möglich ist.
Gute Perspektiven durch das Abkommen
OT: Welche Folgen hat der Brexit für den europäischen Binnenmarkt?
Rössler: Das Vereinigte Königreich ist nach wie vor ein interessanter und dynamischer Markt. Daher ist es grundsätzlich zu bedauern, dass Großbritannien nicht mehr zum Binnenmarkt gehört. Das Abkommen gibt aber zumindest gute Perspektiven, dass die engen Wirtschaftsbeziehungen trotz einiger neuer Hürden weitergeführt werden können. Wie gut das gelingt, hängt sicher auch von der weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung im Vereinigten Königreich in den nächsten Jahren ab. Viele wichtige Details sind auch mit dem mit heißer Nadel gestrickten Abkommen noch unklar. Vieles kann für Handwerksbetriebe negativ oder positiv weiterentwickelt werden. Die langfristige Entwicklung mit anderen Nicht-EU-Staaten wie der Schweiz zeigen aber, dass letztlich die gegenseitigen Wirtschaftsinteressen doch eher zu einer weiteren Annäherung führen könnten, die auch Handwerksbetrieben gute Geschäftschancen eröffnet.
OT: Wie sieht es mit der Anerkennung der beruflichen Ausbildungsabschlüsse aus? Was erwartet Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Großbritannien arbeiten wollen?
Rössler: Ausbildungsabschlüsse sind leider nicht Teil des Abkommens. Großbritannien wird sich bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zudem tendenziell die Personen mit Berufen heraussuchen, die in Großbritannien zu den Mangelberufen gehören. Ob eine Arbeitsaufnahme in Großbritannien möglich ist, wird daher sehr stark von der Entwicklung des Arbeitsmarkts in Großbritannien abhängen. Einen Rechtsanspruch, dort arbeiten zu können, gibt es nun leider nicht mehr.
OT: Wo können sich Handwerksbetriebe zukünftig über die weiteren Entwicklungen der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien informieren?
Rössler: In allen Bundesländern gibt es entsprechende Beratungsangebote der Handwerksorganisationen, wie wir das in Baden-Württemberg bei Handwerk International anbieten. Unsere Berater sind gut vernetzt und kennen auch die anderen relevanten Beratungsangebote, die bei speziellen Fragen weiterhelfen.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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