Einleitung
Hilfsmittelversorgung für Kinder ist ein wichtiges Thema im Leben von Familien mit einem Kind mit Behinderung. Verschiedene Personen sind daran beteiligt, die mit ihren speziellen Interessen und Blickwinkeln berücksichtigt werden wollen und müssen. Daher ist es von großer Bedeutung, dass dieser Prozess strukturiert abläuft und sich an einem gemeinsamen Bezugsrahmen orientiert. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten zu Wort kommen: Anwender (z. B. das Kind, das im Rollstuhl sitzt), Nutzer (z. B. die Mutter, die den Rollstuhl schiebt), Mediziner, Orthopädie- oder Reha-Techniker, Therapeuten und Pädagogen.
Der Versorgungsprozess muss in allen Schritten und für alle Beteiligten transparent und nachvollziehbar sein. Ein für alle gut verständlicher Bezugsrahmen ist das bio-psychosoziale Modell der ICF, das den Professionen im Gesundheitswesen eine gemeinsame Begrifflichkeit anbietet, alle Bereiche, in denen Hilfsmittel zum Einsatz kommen, berücksichtigt und die Philosophie der Inklusion fördert. Zugrunde liegt dabei die Gewissheit, dass das gemeinsame Leben von Kindern mit und ohne Behinderung kein Luxus, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung ist 1.
Das bio-psycho-soziale Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) zeigt die Zusammenhänge zwischen Störungen der Körperstrukturen und ‑funktionen, Störungen der Aktivitäten und Störungen der Teilhabe einer Person mit einem Gesundheitsproblem auf. Deutlich wird, dass diese Bereiche (in der ICF als „Domänen” bezeichnet) sich gegenseitig beeinflussen und auch von Faktoren, die in der Umwelt oder der Person selbst liegen (z. B. Alter oder Geschlecht), beeinflusst werden. Auf diesem Modell basiert ein Klassifikationssystem, das zur Beschreibung von Befund, Behandlungsplanung und Evaluation von Maßnahmen im Gesundheitssystem genutzt werden kann 2.
Zur Verdeutlichung des konkreten Vorgehens, das die Zusammenarbeit erleichtern und ein zielorientiertes und damit kosteneffektives Arbeiten fördern kann, wird im Folgenden das Fallbeispiel „Julia” (Name geändert) vorgestellt.
Julia braucht einen Stuhl für den Kindergarten
Julia ist vor Kurzem mit ihrer Mutter aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Ihr Vater lebt schon seit einem Jahr hier, jetzt ist die Familie wieder zusammen. Julia ist knapp vier Jahre alt und leidet an einer dystonen Cerebralparese (Tab. 1).
Julias Cerebralparese wurde vom Neuropädiater mit dem Schweregrad „GMFCS 5″ eingestuft. Beim Gross Motor Function Classification System (GMFCS, s. Abb. 2) handelt es sich um ein standardisiertes, gut validiertes und reliables System zur Klassifizierung der motorischen Beeinträchtigung auf einer 5‑Punkte-Ordinalskala von Patienten mit Cerebralparese [5].
Diese Einstufung besagt, dass Julia sich nicht allein fortbewegen kann, dass sie nur wenig Rumpfkontrolle hat und dass ihr das Halten des Kopfes schwerfällt. Dazu kommt, dass sie sich bei Aufregung streckt; die Extensoraktivität in Rumpf und Beinen kann so stark werden, dass sie sich unwillkürlich aufrichtet.
Der Grund für die Störung liegt in den Umständen der Geburt in Rumänien, die Berichte aus dem Heimatland über die Behandlung sind nur bedingt aussagekräftig. Es scheint so zu sein, dass das Therapievorgehen sich von dem in Deutschland unterscheidet. Eine Versorgung mit Hilfsmitteln hat bisher nicht stattgefunden.
Zum nächsten Kindergartenjahr hat Julia einen Platz in einer integrativen Kita, deshalb benötigt sie jetzt einen Stuhl, den sie dort benutzen kann.
Ablaufschema des HMV-Versorgungsprozesses
Der Prozess der Hilfsmittelversorgung verläuft idealerweise nach einem bestimmten Schema (s. Abb. 4): Der Prozess beginnt damit, dass der Hilfsmittelbedarf festgestellt wird.
Julia benötigt einen geeigneten Stuhl für den Kindergarten. Der nächste Schritt besteht in der Befunderhebung. Eltern, Kind, Mediziner, Therapeut, Techniker und die zukünftige Erzieherin sind eingeladen, gemeinsam Julia zu beobachten und zu beurteilen.
Das gemeinsame Vorgehen ist von großer Bedeutung, da nur so gewährleistet werden kann, dass alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden.
Auf das bio-psycho-soziale Modell bezogen bedeutet das, dass
- die für das Sitzen relevanten Körperfunktionen und ‑strukturen bewertet werden,
- die Aktivitäten bestimmt werden müssen, die Julia im Sitzen ermöglicht werden sollen, und
- die Aspekte der Teilhabe festgelegt werden, für die der Stuhl eingesetzt werden soll.
Bereits aus der Breite des Bewertungsspektrums ergibt sich, dass eine Person allein dies nicht überblicken wird. Falls nicht alle der oben aufgeführten Beteiligten die Möglichkeit haben, an einem Termin zusammenzukommen, können sie die von ihnen vertretenen Aspekte auf andere Weise (per Bericht, Telefonat usw.) einfließen lassen.
Ein geeignetes Instrument, um den gemeinsamen Befund rasch und übersichtlich zu erstellen, ist der RehaKIND-Statuserhebungsbogen (vgl. Abb. 5).
Dieser hat die drei Domänen der ICF übernommen und fordert vom Hilfsmittelteam eine Beurteilung der verschiedenen Items auf einer Skala von 0 bis 4. In diesem Fall stellen Julias Vater und die Ergotherapeutin gemeinsam fest, dass die Rumpfkontrolle mit 3 zu beurteilen ist, was bedeutet, dass Julia große Schwierigkeiten hat, sich stabil aufzurichten.
Bei der gemeinsamen Bearbeitung des Fragebogens kann es zu Unstimmigkeiten kommen, die dann im Austausch aufgehoben werden können. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Einschätzungen zu besprechen.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass am Ende alle Beteiligten in der Einschätzung der Fähigkeiten des Kindes übereinstimmen – und dementsprechend von derselben Basis ausgehen, um das Anforderungsprofil des Hilfsmittels festzulegen.
Ist dieser Schritt vollzogen, kommt es zu dem erfahrungsgemäß schwierigsten Teil des Hilfsmittelversorgungsprozesses: dem Formulieren von Zielen, die mit dem Hilfsmittel erreicht werden sollen. Dazu kann ein sogenannter Bedarfsermittlungsbogen (vgl. Ablaufdiagramm) genutzt werden. Hier werden die Ziele, die durch den Einsatz eines Hilfsmittels erreicht werden sollen, formuliert.
Bewährt hat sich dabei die Anwendung des sogenannten SMART-Prinzips (s. Abb. 6): Die Ziele sollen alltagsorientiert, konkret, verständlich und messbar sein.
Für Julia haben sich Vater, Therapeutin und Orthopädie- bzw. Reha-Techniker auf folgende Ziele geeinigt:
1. Körperfunktionen- und ‑strukturebene
Das Therapieziel ist, dass durch eine Sitzposition mit einem Hüftwinkel von 90° oder kleiner die Extensorspastizität verringert wird. Durch die geringeren Tonusschwankungen und die durch einen Brustschultergurt unterstützte symmetrische Aufrichtung des Thorax wird eine gezieltere Armmotorik ermöglicht. Dies ist einen Monat nach Auslieferung des Hilfsmittels erkennbar. Julia akzeptiert die Position im Stuhl für 30 Minuten.
2. Aktivitätsebene
Das Therapieziel ist, dass Julia drei Monate nach Auslieferung des Hilfsmittels ihren Kopf 10 Minuten lang halten und steuern kann. Es gelingt ihr dann, ihre Arme zielgerichtet zu bewegen und ihre Hände bewusst zu öffnen und zu schließen. Sie akzeptiert es, die Mahlzeiten in der Kita in ihrem Stuhl einzunehmen (Julia wird gefüttert).
3. Teilhabeebene
Das Therapieziel ist, dass Julia beim Frühstück in der Kindergartengruppe (ein halbes Jahr nach der Aufnahme) ihr Brötchen selbstständig aus der Hand isst. Das heißt, sie kann gezielt greifen, ihre Hände kontrolliert zum Mund bewegen und den Kopf aufrecht halten.
Diese Ziele sind von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Hilfsmittelversorgung. Sie bestimmen das Anforderungsprofil an das Hilfsmittel und müssen gewährleisten, dass sowohl die körperlichen Bedürfnisse als auch die Ansprüche, die sich aus dem Ort und der Art der Anwendung ergeben, bei der Auswahl des Modells und der Ausstattung berücksichtigt werden.
Bei der Dokumentation dieser Merkmale bietet der Produktbogen des RehaKIND-Bedarfserfassungsbogens eine strukturierte Vorlage.
Innerhalb des Prozesses der Hilfsmittelversorgung erfolgt nun der Schritt „Erprobung und Verordnung”. Auch mit dem detaillierten Anforderungsprofil stehen mehrere Optionen zur Auswahl – und es ist von entscheidender Bedeutung für die Qualität der Hilfsmittelversorgung, dass diese praktisch erprobt werden können. Es müssen also konkrete Therapiestühle, Schalen und Positionierungshilfen beschafft werden, die von Julia erprobt werden können. Der Vater kann sich dabei mit dem Anlegen z. B. der Gurte vertraut machen und vor allem darin geschult werden, die Sitzposition seiner Tochter zu beurteilen.
Jeder erfahrene Hilfsmittelversorger weiß, dass Kinder wie Julia sicher spüren und zeigen, welche Sitzhilfen gut für sie sind und welche nicht. Auch ein Kind mit deutlichen Einschränkungen wird entsprechende Signale senden. Es kommt darauf an, diese Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Hierbei ist es von großem Vorteil, wenn Bezugspersonen und Therapeuten mit im Team sind.
In Julias Fall wird schnell deutlich, dass ihre Extensorspastizität durch einen engen Sitzwinkel (ca. 75°) zwar gut gehemmt werden kann. Sie scheint diese Position jedoch als beengend zu empfinden und fängt an zu weinen und sich zu wehren. Sie ist es gewohnt, auf dem Boden zu liegen oder auf dem Schoß zu sitzen, auch ihre Position im Kinderwagen ist eher liegend als sitzend. Im Autositz – der als Sitzprovisorium genutzt wurde – ist dies auch der Fall. Dies könnte eine Erklärung für ihr Missbehagen sein. Julia akzeptiert einen Stuhl, der ihre Strecktendenz zumindest begrenzt zulässt, viel besser als einen, der diese unterbindet. Dies ist sofort deutlich und muss unbedingt berücksichtigt werden. Wenn Julia sich an das Sitzen gewöhnt hat, wird dieser Aspekt wahrscheinlich nicht mehr so dominant sein, aber für die aktuelle Versorgung stellt er die zentrale Bedingung dar.
Anforderungsprofil an das Hilfsmittel
Das Anforderungsprofil für Julias Stuhl für die Kindertagesstätte ist demnach wie folgt beschaffen:
Ein Hilfsmittel zum Sitzen wird gesucht,
- das der Extensorspastizität des Kindes folgt und sie bei Nachlassen der Tonusschwankungen wieder in die ursprüngliche Sitzposition zurückführt,
- das den Thorax mit flächigen Pelotten in einer symmetrischen Position hält,
- das die Möglichkeit bietet, einen Vier-Punkt-Beckengurt an den richtigen Stellen zu befestigen, sodass die Züge in die korrekten Richtungen führen,
- das die Möglichkeit bietet, einen Brust-Schulter-Gurt zu befestigen,
- das über ein Untergestell verfügt, das kantelbar ist,
- das über ein Untergestell verfügt, das so tief abgesenkt werden kann, dass es unter die Tische des Kindergartens passt.
Durch diese Vorarbeit ergibt sich ein Anforderungsprofil für das zukünftige Hilfsmittel, das im Produktbogen (vgl. Ablaufdiagramm) festgehalten werden kann. Entsprechende Produkte werden dann erprobt. Hierbei ist die Marktübersicht des Orthopädie- bzw. Reha-Technikers besonders wichtig. Er kennt die Produkte, die sich eignen und die sich ggf. gut anpassen lassen.
An diese Erprobungsphase schließt sich die Verordnung des Hilfsmittels (vgl. Ablaufdiagramm) durch den Kinderarzt, das Erstellen des Kostenvoranschlags und dessen Einreichen bei der Krankenkasse an.
Auch an dieser Stelle erweist sich der Bedarfsermittlungsbogen von RehaKIND als geeignete Unterstützung — die Versorgung ist durch die übersichtliche Dokumentation für den Kostenträger transparent, die Zielformulierung macht deutlich, dass die Ausstattungsmerkmale sinnvoll sind, und durch die Anwendung des Bogens wird klar, dass das Sanitätshaus für diesen Bereich qualifiziert ist.
Die umfangreiche Vorarbeit, die bisher geleistet wurde, beginnt sich nun auszuzahlen: Die adäquat dokumentierten und belegten Vorgänge werden von den Kostenträgern in der Regel zügig bearbeitet und häufig positiv beschieden. Dies entspricht dem nächsten Schritt („Genehmigung und Verordnung”) im Ablaufdiagramm.
Danach erfolgt die Auslieferung des Hilfsmittels, und auch hier rentiert sich die Vorarbeit. Es gibt keine bösen Überraschungen durch Abstimmungsfehler der Beteiligten, weil das Produkt gemeinsam erarbeitet wurde. Natürlich kann es zu Nachbesserungen kommen – z. B. weil das Kind gewachsen ist oder weil sich das Störungsbild verändert hat. Dies liegt in der Natur der Arbeit mit Kindern. Die handwerkliche Geschicklichkeit und die Expertise des Orthopädie- bzw. Reha-Technikers ist hierbei besonders gefragt. Entwicklung ist ein dynamischer Prozess, die Hilfsmittelversorgung muss dem folgen.
Evaluation
Auf die Auslieferung und Anpassung folgt die Anwendung im Alltag (vgl. Ablaufdiagramm), in der der Erfolg der Hilfsmittelversorgung evaluiert wird. Dazu werden die SMART-Ziele verwendet: Im Versorgerteam wurde die Aufgabe zugewiesen, wer zu dem beschriebenen Zeitpunkt überprüft, ob Julia die entsprechende Fähigkeit erworben hat. Die Evaluation (vgl. Ablaufdiagramm) erfolgt in diesem Fall in der Weise, dass der Vater nach einem Monat die Ergotherapeutin anruft, um zurückzumelden, ob Julia jetzt 30 Minuten in ihrem Stuhl sitzen kann (Abb. 7). Ist dies der Fall, wird in der Dokumentation vermerkt, dass das Ziel erreicht wurde (der RehaKIND-Bedarfsermittlungsbogen sieht dazu Spalten vor). Sollte dies nicht der Fall sein, muss ein Termin vereinbart werden, bei dem nach den Gründen gesucht und Verbesserungen angebahnt werden. Dazu kann es nötig sein, auch die anderen Mitglieder des Versorgerteams hinzuzuziehen.
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Fehler schnellstmöglich behoben werden und das Kind nicht in einer ungeeigneten Sitzversorgung sitzt oder die teure Sitzversorgung nicht benutzt wird und im Keller verschwindet.
Erst wenn das letzte Ziel erreicht ist, ist die Hilfsmittelversorgung abgeschlossen (vgl. Ablaufdiagramm). Im Falle Julias war es so, dass sie zum angestrebten Zeitpunkt noch nicht in der Lage war, ihr Brötchen selbstständig zum Mund zu führen. Bei der Analyse der Gründe stellte sich heraus, dass dies nicht am Hilfsmittel zum Sitzen lag, sondern dass ihre motorische Entwicklung langsamer verlief als zunächst angenommen. So musste das Ziel angepasst und die therapeutische Behandlung im Hinblick auf die Koordination von Hand und Mund intensiviert werden.
Fazit
Durch das beschriebene Vorgehen folgt der Prozess der Hilfsmittelversorgung einem strukturierten Ablauf, der sich an der ICF orientiert. Der Ablauf sieht vor, dass alle Beteiligten zu Wort kommen und Verantwortung übernehmen. Der Versorgungsprozess ist somit transparent und nachvollziehbar. Durch die Orientierung an den Alltagsbedürfnissen ist gewährleistet, dass die Hilfsmittelversorgung effizient verläuft und wirtschaftlich ist.
Die Autorin:
Andrea Espei
Ergotherapeutin b.sc.
Vechtastraße 11
48145 Münster
andrea.jaguschespei@googlemail.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Espei A. Die Anwendung der ICF-CY in der Hilfsmittelversorgung für Kinder. Orthopädie Technik, 2015; 66 (2): 46–51
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- Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. 15.06.2011. http://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/StdS/UN_BRK/NAP.html (Abruf am 05.01.2015)
- DIMDI. ICF. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm (Abruf am 05.01.2015)