OT: Frau Hobelsberger, was verbirgt sich hinter dem Forschungsprojekt?
Sandra Hobelsberger: Das Ziel des Projekts besteht dar- in, einen Kompressionsstrumpf mit integrierter Aktorik und Bewegungssensorik zu entwickeln, der die Vorteile eines herkömmlichen Kompressionsstrumpfes als passive, mechanische Entstauungstherapieform mit einer aktiven Entstauung durch elektrisch angeregte Muskelbewegung kombiniert und somit den venösen Rückstrom fördert. Denn mangelnde Bewegungen der unteren Extremitäten erhöhen die Gefahr bestimmter pflegerischer und medizinischer Komplikationen, insbesondere von tiefen Bein- venenthrombosen. In diesem Zusammenhang finden zur Vermeidung Kompressionsstrümpfe ihre Anwendung. Durch einen Kompressionsstrumpf wird der Druck auf die Gefäße der unteren Extremitäten erhöht, was generell den Blutfluss erleichtert. Da aber bei mobilitätseingeschränkten Patienten besonders die Muskelbewegung verringert ist, ist auch die Stimulierung und Förderung des venösen Rückstroms aus den tiefen Beinvenen zurück in Richtung Herz eingeschränkt. Mit Blick auf die Funktion des Kompressionsstrumpfes, welcher erst bei Bewegung seine volle Wirkung entfalten kann, soll durch sensorgesteuerte Muskelstimulation die Bewegungseinschränkung kompensiert werden.
OT: Wie sieht das Gesamtkonstrukt der Neuentwicklung aus?
Hobelsberger: Das zu entwickelnde System soll als aktivierender Kompressionsstrumpf durch transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) die Mobilitätseinschränkung ausgleichen und somit einer Beinvenenthrombose vorbeugen sowie den venösen Rückstrom aus den tiefen Beinvenen zurück in Richtung Herz fördern beziehungs- weise gewährleisten. Durch eine zusätzlich integrierte Bewegungsmessung und deren Dokumentation kann der zu entwickelnde intelligente Strumpf darüber hinaus wichtige Informationen für die medizinisch pflegerische Versorgung der Patienten bereitstellen, etwa für die Dekubitus- und Sturzprophylaxe.
OT: Welche Vorteile sehen Sie in der Innovation?
Hobelsberger: Wenn im Rahmen einer notwendigen Kompressionstherapie bei Chronischer Venöser Insuffizienz (CVI) das Anlegen eines Kompressionsstrumpfes verordnet wird, ist das bislang zur Verfügung stehende Gerät für eine TENS ungünstig zu tragen. Das Band mit integriertem Sensor kann nicht über dem Strumpf getragen werden, da dann kein unmittelbarer Hautkontakt mehr besteht. Somit kann kein elektrischer Impuls auf die neuralen Empfangsstellen am Bein abgegeben werden. Wird das Band unter dem Strumpf angelegt, führt es aufgrund der kontinuierlichen Kompressionswirkung des Strumpfes zu Druckstellen so- wie zum Komprimieren von Blutgefäßen und das Nervensystem betreffender Strukturen bis hin zum Entstehen von Druckgeschwüren. Die Neuheit unseres Lösungsansatzes zur Thromboseprävention besteht in der Kombination der Vorteile von klassischer mechanischer Entstauungstherapie und transkutaner elektrischer Nervenstimulation, verbunden mit einem kontinuierlichen Mobilitätsmonitoring. Mit Blick auf die Dekubitusprophylaxe kann durch das Mobilitätsmonitoring der Umfang der Bewegungen des Patienten kontinuierlich gemessen werden und so beispiels- weise eine Über- als auch Unterversorgung durch zu wenig oder zu häufig stattfindende Lagerungs- beziehungsweise Positionswechsel verhindert werden. Erkennen die Sensoren über einen vom pflegerischen oder ärztlichen Behandlungsteam individuell festgelegten Zeitraum eine Inaktivität des Patienten, werden die stimulierenden, elektrisch leitfähigen Kontaktpunkte zugeschaltet, welche die TENS erlauben. Darüber hinaus lässt sich sehr gut ein Bewegungsprofil bestimmen und der Erfolg der TENS-Behandlung daraus ableiten. Eine Überstimulation wird aufgrund der Kontrolle der Eigenbewegung des Patienten durch die Sensorik ausgeschlossen.
OT: Welche Partner sind mit im Boot?
Hobelsberger: Wir sind insgesamt sechs Partner: C&S Computer und Software GmbH, Augsburg; Fein-Elast Umspinnwerk GmbH, Zeulenroda; Interactive Wear AG, Starnberg; Charité Universitätsmedizin, Berlin; Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hof, mit dem Institut für Materialwissenschaften (IFM) und dem Institut für Informationssysteme (IISYS); sowie als assoziierter Partner Medi, Bayreuth.
OT: Wie ist die Aufgabenverteilung untereinander?
Hobelsberger: C&S ist mit der Umsetzung des Monitoringsystems betraut, welches therapierelevante Signale aus der textilintegrierten Sensorik erhebt sowie verarbeitet und die erhobenen Patientendaten und Behandlungsabfolgen in eine Pflegedokumentation integriert. Zunächst wird das Gesamtkonzept mit den entsprechenden Kommunikationsmodulen und erforderlicher Datenerfassung, Datentransfer, Schnittstellen, Datenauswertung und ‑dokumentation geplant. Im Anschluss erfolgt die Erstellung der entsprechenden Software unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Nutzerperspektiven. Wir sind im Projekt zudem als Projektkoordinator tätig. Fein-Elast ist verantwortlich für die Entwicklung und Herstellung der elastischen, leitfähigen Garne, welche die Signale der in den Strumpf zu integrierenden Sensoren zu den Auswerteeinheiten und zu den zu integrierenden Aktoren übertragen. Die Garne müssen zum einen im Strickprozess der hochelastischen Kompressionstextilien verarbeitbar sein, zum anderen den haptischen sowie hygienischen Anforderungen entsprechen. Interactive Wear entwickelt und produziert die Vorstufe eines Prototypen der eingebetteten Systeme für die Sensordatenerfassung und Steuerung der Aktoren, die die elektrischen Signale in mechanische Bewegung umsetzen. Die analogen Sensordaten werden erfasst, digitalisiert und mittels der von der Charité bereitgestellten Algorithmen werden dann die Elektroden bestromt. Die Ergebnisse werden unter Berücksichtigung der Datenschutzvorgaben von IISYS über Funk an das Monitoringsystem von C&S übermittelt. Ferner unterstützt Interactive Wear die mechanische Integration in das Gesamtsystem. Die Charité wirkt an der Konzeption der zu entwickelnden Prototypen mittels Patiententests mit und erfüllt dabei die notwendige Vermittlerrolle zwischen Technik und Patient. In unterschiedlichen Nutzergruppen werden dazu Anforderungen erfasst. Aus den bereitgestellten Daten werden Algorithmen entwickelt und mit den pflegerischen Anforderungsprofilen verglichen. Außerdem wird ein Schulungskonzept für Patienten, Pflegekräfte sowie pflegende Angehörige erarbeitet. Im Anschluss erfolgt im Rahmen einer Pilotstudie die Testung des Prototyps. Die Ergebnisse der Testung werden ausgewertet und an die Bedürfnisse des Einsatzes in der klinischen Praxis angepasst. In einer abschließenden Evaluation werden die entwickelten Demons-tratoren auf Akzeptanz und Wirksamkeit hin überprüft. Das IFM führt die Strickversuche zur Herstellung der Kompressionstextilien durch, testet die Verarbeitbarkeit der durch die Fein-Elast entwickelten leitfähigen Garne und bestimmt das textil-physikalische Leistungsprofil der neu entwickelten, textilen Flächen. Außerdem untersucht und evaluiert es die Waschbarkeit der sensorintegrierten Kompressionstextilien. Die primäre Aufgabe der Forschungsgruppe „Recht in Nachhaltigkeit, Compliance und IT“ des IISYS ist die neutrale Rechtsbegleitung über die gesamte Projektlaufzeit. Sie wird die Zulässigkeit der Datennutzung analysieren und bewerten, rechtmäßige Prozesse zur Implementierung der Konzepte definieren und so die rechtssichere Verwendbarkeit der Projektergebnisse gewährleisten.
OT: Wie hoch ist der finanzielle Aufwand des Projekts und wer trägt die Kosten dafür?
Hobelsberger: Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 1,5 Millionen Euro für die Dauer von drei Jahren gefördert. Die wirtschaftlichen Projektpartner leisten zusätzlich zur jeweiligen Fördersumme einen Eigenanteil von 40 Prozent. Damit soll neben der wissenschaftlichen Verwertung auch das Interesse an einer wirtschaftlichen Verwertung angestrebt werden.
OT: Können Sie nach dem ersten von drei Projektjahren schon eine vorläufige Bilanz ziehen?
Hobelsberger: Zum Ende des ersten Jahres freue ich mich, dass wir gut im Zeitplan liegen. Die notwendigen Vorarbeiten konnten durch alle Projektpartner erfolgreich abgeschlossen werden. Aktuell wird bereits ein rudimentärer Prototyp des intelligenten Kompressionsstrumpfes in der Charité Berlin von Anwendern getestet, um ein Modell zur Bestimmung des Bewegungsprofils zu generieren. Dazu erhebt die Firma Interactive Wear Daten mithilfe eines Bewegungssensors und trainiert das Modell darauf, den individuellen Datensatz eines Anwenders in die vier verschiedenen Kategorien „Sitzen“, „Stehen“, „Liegen“ und „Laufen“ zu unterteilen. Dies dient dazu, im späteren Verlauf die Aktivierung der TENS-Einheit über das Bewegungsprofil steuern zu können. Beispielweise kann die TENS-Einheit dann, geregelt über das System, zugeschaltet werden, wenn ein Anwender über mehrere Stunden sitzt und keine Bewegung stattfindet.
OT: Wie sehen Ihre weiteren Schritte aus?
Hobelsberger: Als nächsten Arbeitsschritt planen wir die Herstellung der textilen Versuchsmuster im Labormaßstab. Es gilt, eine geeignete Technologie zur Umsetzung der notwendigen Leitfähigkeit unter Berücksichtigung der erforderlichen Hygieneanforderungen zu planen. Des Weiteren ist die Positionierung der Sensorik korrekt zu bestimmen, um die gewünschte Muskelstimulation zu gewährleisten, aber auch um zum Beispiel Druckgeschwüre zu vermeiden. Gleichzeitig wurde bereits mit Arbeiten an der Software zur Verarbeitung der Bewegungsdaten und zur Darstellung des Mobilitätsmonitorings begonnen. Wichtig ist dabei, die Ansprüche und Rechte der unterschiedlichen Anwendergruppen zu beachten. Denn der Patient hat andere Rechte als die Pflegefachkraft. Der Patient kann beispielweise die TENS-Einheit über ein User-Interface starten oder regulieren, diese Funktion wird allerdings nur ihm zur Verfügung gestellt. Keine Pflegefachkraft hat die Möglichkeit, die TENS-Einheit etwa aus der Ferne zu aktivieren oder die Stärke des elektrischen Impulses zu erhöhen. Die Hoheit über das System muss beim Patienten liegen. All dies muss präzise und exakt geplant werden, bevor der intelligente Kompressionsstrumpf im dritten Projektjahr innerhalb einer empirischen Studie an der Charité inmitten laufender Bedingungen einer geriatrischen Klinik zum Einsatz kommt.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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