Erste kleine Erfolge konnten rasch verzeichnet werden, das gemeinsame Lernen und Erfahren erforderte jedoch auch im weiteren Verlauf kontinuierliche Verbesserungsprozesse bis hin zur erwünschten Funktion, mit gelähmten Händen wieder zum selbstständigen Fliegenfischen zu gelangen. Der Betroffene hat während dieser Entstehungsphase gemeinsam mit einem befreundeten Profi-Filmer ein frei finanziertes Filmprojekt initiiert und im Internet veröffentlicht: das Projekt „30 Reasons“1. Dieses Filmprojekt soll den Fliegenfischer bei seiner Leidenschaft begleiten. „30 Reasons“ beschreibt das Projektziel, 30 Fischarten – für die man um den gesamten Globus reisen muss – zu fangen und dabei zu zeigen, wie die Hürden einer Tetraplegie überwunden werden können, wie Grenzen überschritten und scheinbar Unmögliches möglich gemacht werden kann. Es soll in erster Linie ähnlich betroffene Mitmenschen dazu motivieren, ihre Träume und Ziele zu verfolgen, und ihnen Mut machen, dass ein entsprechender Weg real werden kann, sofern der Wille dazu vorhanden ist.
Vorgeschichte
Nach der Kontaktaufnahme per E‑Mail konnte Ende 2014 ein erstes Treffen realisiert werden, bei dem sowohl die klinische Anamnese mit dem Ist-Zustand als auch das Anforderungsprofil an die technische Hilfsmittelversorgung abgeklärt werden konnten. Nach einem Seeunfall ist der Patient Martin C. vom 6. Halswirbel abwärts gelähmt. Die untere Extremität ist vollständig schlaff gelähmt; im Bereich der oberen Extremität liegt ein inkomplettes Lähmungsbild vor: Der Patient hat keine Greiffunktion in den Fingern und Händen, hingegen noch eine aktive Handflexion/-extension (Abb. 1) sowie eine gute Motorik und Bewegungskoordination im Ellenbogen- und Schultergelenk. Begleitende Störungen an den inneren Organen und eine fehlende Regulation der Körpertemperatur erschweren die gesamtkörperliche Situation. Die Fortbewegung erfolgt über diverse Rollstuhl-Varianten, abhängig von den zurückzulegenden Strecken. Im normalen Alltag nutzt der Patient einen Aktiv-Rollstuhl, wobei die Handballen das kurzstreckige Antreiben über die Greifreifen erfüllen können. Ein umgebauter Pkw ermöglicht ein weitgehend selbstständiges Handling der Mobilität.
Das Fliegenfischen ist die große Leidenschaft des Patienten, die er seit seiner Jugend mit Begeisterung verfolgt und für die er seit seinem Unfall vor knapp 20 Jahren unterstützende Hilfsmittellösungen sucht. Allen Beteiligten wurde schnell klar, dass eine Realisation der formulierten Anforderungen und Wünsche nicht im Rahmen einer alltäglichen Orthesenversorgung erreicht werden können: Zu komplex sind die motorischen Wünsche an die gelähmten Hände (Angelrute halten und führen, Angelschnur „strippen“ und gezielt nachlassen etc.), zumal es im Vorfeld bereits Erfahrungen mit gescheiterten orthetischen Vorversorgungen gab.
Methode
Im Projekt galt es beide obere Extremitäten orthetisch so zu unterstützen, dass der querschnittgelähmte Anwender möglichst selbstständig dem Fliegenfischen nachgehen kann. Dazu mussten zunächst die konkreten Anforderungen formuliert werden:
- Die rechte Hand muss in der Lage sein, eine Angelrute zu halten, zu führen, auszuwerfen und zu manövrieren.
- Die linke Hand hingegen benötigt eine schnell ansteuerbare Greifbewegung, sodass das Einholen und Nachlassen der Schnur realisiert werden kann, Köder müssen befestigt und letztendlich auch die Fische eingeholt werden können.
Alle Funktionalitäten sollen außerdem aus dem Rollstuhl in sitzender Position angesteuert werden können. Auf der Suche nach geeigneten orthopädietechnischen Lösungen besann man sich auf bewährte Konstruktions- und Funktionsprinzipien. Etliche Prototypen und Tests wurden im Vorfeld der eigentlichen Versorgung realisiert und getestet (Abb. 2). Nach diesen Versorgungserfahrungen und den qualifizierten Rückmeldungen des Anwenders konnten die benötigten Versorgungsprinzipien konkretisiert werden:
Rechte Hand („Rutenhand“)
- bestmögliche direkte Anbindung an die Angelrute mit teilflexibler Bettung des Handgelenks, sodass das Auswerfen der Rute durch das Handgelenk noch unterstützt werden kann
- reibungsarme Führung der Schnur in einem hierfür vorgesehenen Fach
- Option zur aktiven Funktionssteuerung (für positiv befunden, in der ersten Umsetzung jedoch noch nicht realisiert)
Linke Hand („Schnurhand“)
- aktives Greifen und Manövrieren der Schnur (Einholen und Nachlassen) im Lateralgriff durch Eigenkraftsteuerung; Kraftquelle: aktive Extension und Flexion des Handgelenkes
- Aufnahme der Kurbel zum Bedienen der Angelrolle
- Magnetverschlusstechnik zur eigenen Bedienung
Das Versorgungsziel für die rechte Hand konnte durch eine orthetische Silikon-Greifhilfe mit vollflächiger Bettung der Hand und direkter Anbindung an die Angelrute realisiert werden. Dazu wurde ein Silikonabdruck der um die Angelrute greifenden Hand angefertigt und die Handposition in einem vollflächigen Prinzip mit direktem Kontakt zur Angelrute positioniert (Abb. 3). Nach diversen Positionserprobungen und Passformoptimierungen an einer Testorthese wurde die Ausrichtung der Angelrute in der Hand verfeinert und festgelegt. Die definitive Orthesenvariante wurde dann aus einem kombinierten Aufbau hochtemperaturvernetzter Silikone der Shorehärten A35, A50 und A65 realisiert (Abb. 4). Die Gestaltung der verschleißarmen schnurführenden Fläche wurde aus hochpoliertem Edelstahl realisiert und erforderte eine exakte Lagedefinition. In weiterführenden Arbeiten wird aktuell auch hier der Versuch unternommen, durch eine ergänzende Eigenkraftsteuerung die einhändige Bedienung der Schnurfreigabe zu integrieren.
Die linksseitige Versorgung gestaltete sich dagegen deutlich aufwendiger, da die Realisierung einer möglichst effektiven Eigenkraftsteuerung berechnet und in der Praxis erprobt werden musste. Leider ist diese funktionell attraktive Methode der Bewegungssteuerung 2, die bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Versorgung sehr präsent war (Abb. 5), in Vergessenheit geraten und wird heutzutage aufgrund des hohen handwerklichen Aufwandes nur sehr selten realisiert.
Die technischen Herausforderungen bestehen insbesondere in der Integration eines möglichst verschleißarmen Eigenkraftmechanismus sowie einer selbstschließenden Verschlusstechnik. Nach ersten Passformoptimierungen – dabei ist eine möglichst vollkontaktige Passform der Orthese zur Vermeidung von Steuerungsverlusten notwendig – konnte die Ansteuerung erprobt sowie die Position und die Wegelängen des Eigenkraftmechanismus orientiert werden.
Die Innenbettung wurde in Teilbereichen der Hand ebenfalls durch dünnwandige Schichten hochtemperaturvernetzten Silikons der Shore-Härte 35 realisiert. Für die Anfertigung der Orthese mit Integration des Eigenkraftmechanismus wurde eine additive Fertigung im Selektiven Laser-Sinterdruck gewählt 3 4. In gemeinsamen Konstruktionsbesprechungen (Abb. 6) sowie bei den zwischenzeitigen Anproben des Hilfsmittels konnten die jeweiligen Konstruktionselemente erörtert und optimiert werden.
Als tragendes Material für den Orthesenrahmen wurde ein Polyamid (PA) 11 gewählt, das im Vergleich zu PA 12 deutlich bessere mechanische Werte erzielt. Die 3D– Konstruktion wurde nach den Belastungsanforderungen simuliert und in der Konstruktion optimiert (Abb. 7). Flächig orientierte Führungszonen wurden im Rahmenquerschnitt verstärkt und zur Erhöhung des Tragekomforts mit atmungsaktiven Zonen versehen. Die Zugsteuerung des Eigenkraftmechanismus konnte in den Orthesenrahmen integriert und mitgedruckt werden. Die Verschlusstechnik wurde mit Magnetverschlusselementen mit Positionssicherung konstruiert und kann vom Anwender selbstständig angezogen werden (Abb. 8).
Ergebnisse
Die Rutenhand-Konstruktion aus hochtemperaturvernetztem Silikon ermöglicht dem Anwender eine direkte und mittelbare Anbindung an die Angelrute. Durch das elastische Verhalten des Werkstoffes beschreibt der Anwender im angezogenen Zustand des Hilfsmittels das Gefühl, dass er die Angelrute tatsächlich selbstbestimmt führen und manövrieren kann und nicht einfach – wie dies bei früheren Versorgungsvarianten der Fall war – mit der Rute „verbunden“ wird.
Sowohl die Auswurftechnik als auch die Steuerung der Rutenposition gelingen durch die enge Anbindung an den Körper nahezu ohne Steuerungsverluste. Für die linksseitige Schnurhand wurden alte Prinzipien einer eigenkraftgesteuerten Orthese wiederbelebt und führten dank modernster 3D-Druckverfahren im Selektiven Laser-Sinterdruckverfahren (SLS) zu einer leichtgewichtigen, hochfunktionalen Orthetikvariante aus Polyamid. Sowohl das selbstbestimmte willentliche Greifen im Lateralgriff der Hand als auch das Halten, Strippen und Manövrieren der Angelschnur ist möglich. Beide Orthesen können von ihrem Anwender selbstständig an- und abgelegt werden, was eine sehr wichtige Anforderung an die Versorgung darstellte. Ergänzend wurde für den Rollstuhl ein adaptierbares Schnurfach konstruiert, das in Gebrauchssituationen mit den Orthesen selbstständig aus- und eingeklappt werden kann (Abb. 9).
Schlussfolgerungen
Erste Stationen der weltweiten Angelreise konnten in der Karibik (Belize), in Kolumbien und in Island gemeistert werden (siehe die Berichte im Blog auf der Projektseite 5). Wenngleich die Erfolge auf der ersten Reise noch zu wünschen übrig ließen, gelang es schließlich dank des Ehrgeizes und der Ausdauer sowohl des Anwenders als auch der Projektbeteiligten, die Hilfsmittelversorgungen kontinuierlich weiterzuentwickeln und so zu verbessern, dass es sich für beide Seiten zwischenzeitlich zu einem Herzensprojekt mit achtbaren Fortschritten und Erfolgen entwickelt hat (Abb. 10). Die Einbindung innovativer Fertigungsverfahren, digitaler 3D-Konstruktionsmöglichkeiten und moderner Materialien erwies sich als spannend und bescherte den Beteiligten vielfältige Grenzerfahrungen und Neuland in der Umsetzung dieser neuartigen Orthesenkonstruktion – letztendlich stets mit dem Ziel vor Augen, dem Anwender einen hohen Funktionszugewinn für die Ausübung seiner Leidenschaft, des Fliegenfischens, zu ermöglichen. Besonders lehrreich waren dabei vor allem die vielen Erlebnisse aus den Anproben und Austestungen, die vielen konstruktiven Rückmeldungen und vor allem die hohe Motivation, die bei allen Projektbeteiligten in den kreativen Schaffensperioden entstand.
Danksagung
Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen Beteiligten dieser beiden Projekte – für das hohe Engagement, die Ausdauer und Geduld im kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Sie spenden allen Betroffenen Mut und zeigen zugleich, dass es auch in einer zunehmend vom Kostendruck gesteuerten Versorgungslandschaft noch Platz für ideelle Projekte und Grenzgänger gibt.
Der Autor:
Michael Schäfer, GF,
Diplom-Orthopädietechnik-Meister, Pohlig GmbH
Grabenstätter Straße 1, 83278 Traunstein
m.schaefer@pohlig.net
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- Baule B, Clemm M. 30 Reasons [Internetauftritt des Filmprojekts]. http://30reasonsmovie.com/deutsch/#intro-de (Zugriff am 01.02.2019)
- Anderson MH. Functional Bracing Of The Upper Extremities. Springfield: CC Thomas Books, 1958: 62–64
- Kienzle C, Schäfer M. Integration additiver Fertigungsverfahren (3D-Druck) in den orthopädietechnischen Versorgungsalltag. Orthopädie Technik, 2018; 69 (5): 48–57
- Schäfer M. 3D-Druck: Mehr gestalterische Freiheit. Interview. Orthopädie Technik, 2016; 67 (4): 18–19
- Baule B, Clemm M. 30 Reasons [Internetauftritt des Filmprojekts]. http://30reasonsmovie.com/deutsch/#intro-de (Zugriff am 01.02.2019)