OT: Welche aktuellen Innovationen in der Kinder-Reha gibt es aus Ihrer Sicht?
Norbert Stockmann: Innovationen – ein großes Wort. Glaubt man der Werbung, gibt es sie jeden Tag. In der Realität ist der Fortschritt langsamer – er zeigt sich vor allem in der kreati- ven Verbesserung von Details. So werden Hilfsmittel zuneh- mend zu einem Ganzen integriert und miteinander vernetzt – beispielsweise mit einem Rollstuhl als Basis, der weitere Einzelkomponenten wie Kommunikationshilfsmittel, Um- feldsteuerung oder Greifarm einbezieht. Diese Entwicklung muss sich fortsetzen. Es ist wenig komfortabel, wenn Eltern mit einem Rollstuhl und zusätzlich mit Absaug- und Sauer- stoffgeräten hantieren müssen – hier fehlt noch eine Zusam- menführung der Technologien.
OT: Abgesehen von den Produkten – was ist bei der Kinder-Reha in erster Linie zu beachten?
Stockmann: Kinder sind in erster Linie eigenständige Persön- lichkeiten mit einer eigenen Meinung, eigenen Zielen, einer eigenen Verletzlichkeit und eigener Stärke. Dies zu betonen liegt mir besonders am Herzen. Denn ein Kind darf nicht als Objekt betrachtet werden, an dem gearbeitet wird. Dies gilt genauso und besonders dann, wenn Befugnisse und Ziele der Erziehungsberechtigten, Ärzte und Therapeuten beachtet werden müssen. Bei der rehatechnischen Versorgung über den Kopf des Kindes hinweg zu entscheiden ist der schlech- teste Weg, den man einschlagen kann.
OT: Es geht also in erster Linie darum, mit dem Kind zu sprechen?
Stockmann: Ja, das Gespräch ist von grundlegender Bedeu- tung – soweit dies möglich ist. Aber natürlich ist für eine optimale Versorgung auch die Kommunikation mit der Familie nötig, also mit Eltern und Geschwisterkindern. Sie können helfen herauszufi nden, welche Neigungen und Interessen das Kind hat. Dafür muss sich der Orthopädie-Techniker Zeit nehmen.
OT: Worauf legen Sie in der Kommunikation mit den kleinen Patienten besonderen Wert?
Stockmann: Ich glaube nicht an Kommunikationstricks, sondern denke, dass Respekt und Authentizität die besten Voraussetzungen für gelungene Kommunikation sind. Über jemanden hinwegzureden ist die größte Respektlosigkeit – egal, ob derjenige ein Kind oder ein Erwachsener ist. Das passiert leider ganz schnell, deshalb sollte man sich in Ge- sprächssituationen immer wieder selbst beobachten.
OT: Letztlich gibt es also – im Hinblick auf die Kommuni kation – bei der rehatechnischen Versorgung von Kindern gar keine grundsätzlichen Unterschiede gegenüber der Versorgung Er wachsener?
Stockmann: Nein, tatsächlich nicht. Der Erwachsene ent- scheidet als selbstständiges Individuum und ebenso das Kind. Trotzdem will ich den wesentlichen Unterschied nicht kleinreden: Die Versorgung läuft hier immer auf die Dreieckssituation Kind – Orthopädie-Techniker – Eltern hinaus. Der eingeschlagene Weg muss vom Kind und seitens der Eltern gleichermaßen akzeptiert werden. Dies macht die Situation manchmal schwierig – gerade wenn die Eltern be- stimmte Vorstellungen haben, die mit den Möglichkeiten und Zielen des Kindes nicht übereinstimmen. Nicht zuletzt bringt das Wachstum Veränderungen mit sich.
OT: Welcher Art?
Stockmann: Asymmetrien, Fehlstellungen und Kontraktu- ren ändern sich bei Kindern im Wachstum rapide; bei Er- wachsenen fi nden solche Veränderungen – außer infolge dramatischer Krankheitsverläufe – eher schleichend statt. Außerdem lernen Kinder extrem schnell und wollen ihren Aktionsradius vergrößern – und dazu ist ihnen jedes Mittel, auch jedes Hilfsmittel, recht. Das bedeutet, sie verwenden Hilfsmittel manchmal anders als gedacht und geplant. Bei Erwachsenen ist diese Energie im Allgemeinen nicht so aus- geprägt. Gerade bei Kindern sollte das gesamte Versorgungs- vorhaben regelmäßig auf den Prüfstand: Stimmen die Ziele noch? Haben sich Interessen verändert? Wie haben sich die körperlichen Voraussetzungen entwickelt? Weil Kinder sehr aktive Patienten sind, unterliegen ihre Hilfsmittel großem Verschleiß und müssen diesbezüglich regelmäßig überprüft werden. OT: Wie ist es um die Bereitschaft der Krankenkassen bestellt, Hilfsmittel für Kinder „außer der Reihe“ zu genehmigen? Stockmann: Der Umgang mit den Kassen ist sicherlich leich- ter, wenn es um Kinder geht. Trotzdem gibt es immer wieder Probleme bei den entsprechenden Genehmigungen. Daher kommt es vor allem auf eine genaue Begründung an: Wie bei erwachsenen Patienten gilt es, überzeugend zu argumentieren – zum Beispiel, warum sich die Pathologie derart verändert hat, dass die Versorgung angepasst werden muss, bzw. warum der Verschleiß stärker ist und ein neues Hilfsmittel benötigt wird.
OT: Worauf ist beim Design des Hilfsmittels Wert zu legen – Stichwort Akzeptanz durch das Kind?
Stockmann: Akzeptanz ist ein entscheidendes Kriterium; das Design ist nur ein Vehikel auf dem Weg dorthin. Dabei geht es aber nicht nur um Farben und Dekore– das Designverständnis des Orthopädie-Technikers muss viel tiefer gehen. So müssen alle Bedienelemente in ihrerFunktionalität primär für den eigentlichen Nutzer, also für das Kind, konzipiert sein. Ziel ist der selbstständige Transfer. Der Transport mit Hilfe einer Hilfsperson kann nur ein Umweg dorthin sein. So ist das selbstständige Fahren im Rollstuhl ein großer Erfolg, geschoben zu werden dagegen lediglich ein kleiner. Wichtig ist hierbei ein multidisziplinärer Ansatz, also das Bestreben, neben dem Kind und seiner Familie die Ärzte und Therapeuten mit ins Boot zu holen.
OT: In der Kinder-Reha spielen die Eltern eine maßgebliche Rolle. Versorgt der Orthopädie-Techniker die Eltern demnach in gewisser Weise mit?
Stockmann: Auf jeden Fall. Wer Kinder versorgt, betreut gleichzeitig die Eltern – und das muss auch so sein. Schließlich interessieren sich die Eltern dafür, ob es ihrem Kind gut geht. Außerdem gehen die Funktion und die Einweisung in die Handhabung der Hilfsmittel jeden Beteiligten etwas an – mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Alles Konkrete muss mit dem Kind besprochen werden, und die Eltern müssen dabei zuhören. Alles, was das formale Vorgehen betrifft, muss mit den Eltern besprochen werden, und das Kind darf zuhören. Im Übrigen habe ich keine unterschiedlichen Konzepte für die Kommunikation mit Eltern und mit Kindern oder mit beteiligten Kollegen – der momentane Gesprächspartner zählt, diesem wende ich mich ganz zu.
OT: Wo sehen Sie die größten Stolpersteine im Bereich Kinder-Reha?
Stockmann: Es gibt natürlich Stolpersteine im administrativen Bereich, wie schon erwähnt mit den Kostenträgern. Mir ist wichtig, dass wir selbst nicht unnötige Probleme in die Versorgungssituation hineintragen.
OT: Welche wären das?
Stockmann: Zum Beispiel Versprechen, die man nicht halten kann, Absprachen, die man platzen lässt, Maßnahmen, die man nicht ausreichend begründet hat. Schlussendlich sind alle Patienten, ob groß oder klein, Experten in eigener Sache. Eine Besserwisser-Attitüde gehört somit regelmäßig zu den größten Stolpersteinen, die eine Versorgung scheitern lassen können.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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