Doch Müll ist nicht gleich Müll. Viele ausgediente Produkte lassen sich dank Recycling wieder vollständig oder zumindest teilweise nutzbar machen. Schwalbe, Produzent von Fahrrad- und Rollstuhlreifen aus dem nordrhein-westfälischen Reichshof, sorgt als erster Reifenproduzent weltweit dafür, dass Reifen und Schläuche nicht einfach auf einer Mülldeponie, sondern am Ende wieder auf den Fahrrad- bzw. Rollstuhlfelgen landen. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt Steffen Jüngst, Public Relations Manager bei Schwalbe, wie das Verfahren abläuft und wie zukünftig Reifen aus 100 Prozent Recyclingmaterial hergestellt werden können.
OT: Schwalbe hat sich als Ziel gesetzt, bis 2026 14 Millionen Reifen und 13 Millionen Schläuche zu recyceln. Wie viele Reifen und Schläuche haben Sie bisher wieder in den Kreislauf zurückgebracht?
Steffen Jüngst: Im ersten halben Jahr nach dem offiziellen Start des Recyclingprogramms haben wir bereits 400.000 Reifen recycelt. Dazu kommen mehr als 8,5 Millionen recycelte Schläuche seit Beginn unseres Schlauchrecyclings im Januar 2015.
Rollstuhlreifen sind recycelbar
OT: Der Großteil der Reifen wird aus der Fahrradbranche kommen. Eignen sich auch Rollstuhlreifen zum recyceln?
Jüngst: Technisch gesehen eignet sich jeder Gummireifen für das Schwalbe-Recycling-System, auch entsprechende Rollstuhlreifen. Alle Reifen werden unserem Recyclingprozess zugeführt und bei unserem Partnerunternehmen Pyrum Innovations im Saarland zunächst zu Gummigranulat und anschließend zu rCB (recovered Carbon Black, Anm. d. Red.) verarbeitet, das für die Produktion neuer Schwalbe-Produkte genutzt wird.
OT: Gibt es Rollstuhlfahrer:innen oder Sanitätshäuser, die bereits ihre Reifen und Schläuche einschicken?
Jüngst: Da unser Reifenrecyclingprojekt über den Fahrradfachhandel läuft, können wir die Frage leider nicht mit Gewissheit beantworten. Es ist möglich, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer bereits Reifen im Fachhandel abgegeben haben. Unser Schlauchrecycling läuft autark davon – hier kann jeder Händler sein Rücksendeetikett ausdrucken und Schläuche einschicken.
OT: Können Sie bitte den Vorgang beschreiben, wie Reifen beziehungsweise Schläuche wieder nutzbar gemacht werden?
Jüngst: Das sind zwei Prozesse. Das Recycling der Schläuche beginnt mit einer mechanischen Aufbereitung. Um anschließend den Butylkautschuk zurückzugewinnen, haben wir ein eigenes Devulkanisationsverfahren entwickelt. Anschließend werden neue Schläuche produziert, die zu 20 Prozent aus recyceltem Material bestehen. Das Recycling der Reifen ist deutlich komplexer, weil ein Fahrradreifen aus verschiedenen Teilen besteht: der Karkasse aus Nylongewebe, dem Wulstkern in der Regel aus einem Drahtbündel, und der Gummimischung. Der Reifen wird zunächst in einem mehrstufigen Verfahren geschreddert, um die drei Hauptkomponenten, Gummi, Draht und Gewebe, voneinander zu trennen. Während Draht und Gewebe einem gesonderten Recyclingkreislauf zugeführt werden, wird das Gummigranulat in einen Reaktor gefüllt. Dort wird das Granulat unter Ausschluss von Sauerstoff bei ca. 700°C erhitzt und dadurch in wertvolle Sekundärrohstoffe umgewandelt. Dieser Vorgang wird Pyrolyse genannt. Heraus kommt ein Pyrolysegas, das zur Stromerzeugung für die Anlage genutzt wird. Sie läuft also komplett autark. Das zweite ist Pyrolyseöl, das an die chemische Industrie verkauft wird und dort als Substitutionsprodukt für Rohöl verwendet wird. Der dritte Stoff ist für uns der interessanteste: Das Pyrolysekoks, das sogenannte recovered Carbon Black (rCB). Dieser wird von Schwalbe für die Produktion neuer Produkte verwendet – als Ersatz für fossil hergestellten Industrieruß.
OT: Wie hoch ist der Anteil an Recyclingmaterial in der aktuellen Produktion?
Jüngst: Jeder Schwalbe-Standardschlauch besteht bereits zu 20 Prozent aus recyceltem Material. Wir arbeiten stetig daran, diesen Anteil immer weiter zu erhöhen. Oberste Prämisse ist dabei natürlich, dass die Qualität der recycelten Materialien dem hochwertigen Niveau entspricht, mit dem wir wieder Schwalbe-Qualität produzieren können.
100 Prozent Recyclingreifen möglich
OT: Gibt es schon einen Reifen aus 100 Prozent Recyclingmaterial?
Jüngst: Die Produktion des ersten Fahrradreifens, der komplett auf rCB statt Industrieruß zurückgreift, läuft auf Hochtouren. Er wird im Juni vorgestellt und anschließend im Handel erhältlich sein. Es ist der weltweit erste Fahrradreifen, der unter anderem aus gebrauchten Reifen produziert wird. Eine echte Kreislaufwirtschaft.
OT: Wann ist ein Recyclingreifen für den Rollstuhl geplant?
Jüngst: Aktuell ist – wie beschrieben – der erste Fahrradreifen in Produktion. Der nächste Schritt ist es nun, weiter intensiv daran zu forschen, auch die Gummimischungen für weitere Reifenmodelle nach und nach so umstellen zu können, dass Industrieruß durch recycelten Ruß ersetzt werden kann.
OT: Wie wichtig ist es Schwalbe, nachhaltig zu produzieren?
Jüngst: Enorm wichtig. Das Thema der ökologischen und sozialen Verantwortung begleitet uns bei Schwalbe schon viele Jahrzehnte. Die ersten Versuche, gebrauchte Fahrradreifen zu recyceln, gab es bereits in den neunziger Jahren. Eine zentrale Rolle für uns spielt das Cradle-to-Cradle-Prinzip („Wiege zu Wiege“). Auf Abfall sollte idealerweise komplett verzichtet, die Kreislauffähigkeit der Produkte vorangetrieben werden. Daher entwickeln wir seit vielen Jahren Produkte aus recycelten oder nachwachsenden Rohstoffen. Beispiele sind das Green Compound – ein Laufflächen-Gummi, das ausschließlich aus nachwachsenden und recycelten Rohstoffen besteht – oder der GreenGuard, ein Pannenschutzgürtel, zu einem Drittel aus recycelten Latexprodukten. Das Schwalbe-Recycling-System für Schläuche und Reifen, bei dem wir als erster und einziger Hersteller weltweit eine Kreislaufwirtschaft etabliert haben, ist ein echter Meilenstein. Beide Verfahren sparen zudem 80 Prozent Energie (Schläuche) und 80 Prozent CO2 (Reifen) im Vergleich zur bisher üblichen Verbrennung ein.
OT: Können Sie das Cradle-to-Cradle-Prinzip einmal erläutern?
Jüngst: Beim Cradle-to-cradle-Prinzip wird in Kreisläufen gedacht. Dabei werden Produkte so konzipiert, dass sich alle Materialien nach ihrer Nutzung wiederverwerten lassen. Indem so eine Zirkulation von Materialien entsteht, kommt es gar nicht erst zu Abfall.
OT: An wen können sich Sanitätshäuser wenden, wenn sie ihre Reifen wieder in den Kreislauf zurückbringen wollen?
Jüngst: Jede Rollstuhlfahrerin und jeder Rollstuhlfahrer, ebenso Sanitätshäuser, können ihre alten Reifen bei teilnehmenden Fahrradfachhändlern abgeben.
Kreislauf kostet – auch die Händler
OT: Kostet die Betriebe die Rückgabe der Reifen etwas und wenn ja, wie hoch sind die Kosten?
Jüngst: Um die laufenden Kosten, die im Rahmen des Reifenrecyclings entstehen, vor allem im Bereich der Logistik, zumindest zu einem Teil zu decken, erheben wir für die Abholung der Reifenboxen eine Gebühr vom Fachhandel. Die Händlerinnen und Händler haben dann die Wahl, ob sie ihrerseits einen kleinen Unkostenbeitrag erheben – das ist in den meisten Fällen der Fall. Das Schlauchrecycling ist für die Händlerinnen und Händler kostenlos, die Versandkosten übernimmt Schwalbe.
OT: Warum erheben Sie Kosten für die Rücknahme?
Jüngst: Wie gerade erwähnt: Es fallen enorme Kosten im ganzheitlichen Recyclingprozess an – unter anderem werden eigens angefertigte Boxen zu den Händlerinnen und Händler transportiert und ausgetauscht, wenn sie voll sind. Um diese zumindest zu einem Teil zu decken, erheben wir eine Gebühr. Einen Gewinn machen wir damit nicht, ganz im Gegenteil.
OT: Nehmen Sie Reifen und Schläuche aller Hersteller entgegen?
Jüngst: Ja, wir nehmen alle Reifen und Schläuche von allen Herstellern entgegen.
OT: Wie groß ist die Rohstoff- und Energieeinsparung beim Recyclingreifen?
Jüngst: Als erster Fahrradreifenhersteller weltweit kümmern wir uns um die Rückführung und das Recycling von gebrauchten Fahrradreifen aller Marken. Das vollständig geschlossene Kreislaufsystem trägt proaktiv zur Energie- und Ressourcenschonung bei und spart 80 Prozent CO2 ein im Vergleich zur bisher üblichen Verbrennung.
OT: Arbeiten Sie aktuell an einer Weiterentwicklung des Recyclingprozesses?
Jüngst: Wir arbeiten kontinuierlich daran, das Recyclingsystem weiterzuentwickeln. So verfolgen wir beispielsweise mittel- bis langfristig das Ziel, das Reifenrecycling in weiteren Ländern anbieten zu können. Gleichzeitig forschen wir daran, unsere Gummimischungen bei weiteren Reifenmodellen so anzupassen, dass wir das rCB auch darin als Substitut für Industrieruß nutzen können. Zudem soll das Schlauchrecycling soll über die fünf Länder, in denen wir es bereits anbieten, weiter ausgerollt werden. Uns treibt nicht nur bei der Entwicklung unserer Reifen der Gedanke an, immer besser zu werden, sondern auch bei unserem Recyclingprozess.
OT: Wo erwarten Sie die größten Veränderungen in den kommenden Jahren?
Jüngst: Hoffentlich in Sachen Mobilitätswende. Daran führt kein Weg vorbei und wir hoffen, dass sich hier in den kommenden Jahren sehr viel weiterentwickeln wird. Zudem gehen wir als Pionier in Sachen ökologischer und sozialer Verantwortung voran. Das ist ebenfalls ein Thema, das aktuell in der Gesellschaft und auch in der Wirtschaft immer präsenter wird. So wird unser Recyclingprojekt bereits als Blaupause genutzt – es macht uns stolz, dass sich andere Unternehmen ein Beispiel daran nehmen.
OT: In der Anfangszeit der Corona-Pandemie haben viele Menschen das Fahrradfahren wieder für sich entdeckt. Dementsprechend groß war auch die Nachfrage nach Schläuchen und Reifen. Rollstuhlhersteller klagten deshalb über einen Engpass bei passenden Reifen. Passt das zu Ihrer Wahrnehmung und was können Sie den Rollstuhlherstellern sagen?
Jüngst: Der Boom hat leider tatsächlich dazu geführt, dass es in der Branche während der Pandemie an einigen Stellen Lieferengpässe gab – auch bei Reifen. Das ist heute aber überwunden.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.