Daniel Behm, MBA Gesundheitsmanagement, Orthopädietechniker und stellvertretender Geschäftsleiter des Sanitätshauses Gäher aus Münster, hat in seiner Masterthesis mehrere Handlungsempfehlungen für Betriebsinhaber:innen und Entscheidungsträger:innen erarbeitet, die er in einer mehrteiligen Serie in der OT vorstellt. Um die Handlungsfelder Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit geht es nun im zweiten Teil der Serie (Teil 1: Innovationsmanagement auf Unternehmensebene).
Handlungsempfehlung 4:
Bildung und Wissen – interdisziplinär!
Aufgrund der kontinuierlichen medizinischen Entwicklung ist es erforderlich, dass die Unternehmen auf dem aktuellen Wissensstand bleiben. Dies kann auf der einen Seite durch regelmäßige Fortbildungen, Schulungen und Kongresse sowie auf der anderen Seite durch den Einsatz moderner Technologien gewährleistet werden. Investitionen in die Erforschung und Umsetzung neuer medizinischer Verfahren und Geräte sind ratsam, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Eine Handlungsempfehlung für Unternehmen ist, sich verstärkt mit Themen des medizinischen Fortschritts auseinanderzusetzen und eng mit Medizinern, medizinischen Fachkräften und Therapeuten zusammenzuarbeiten und auszutauschen.
Waren (Medizin-)Produkte in der Vergangenheit ausschließlich aus mechanischen und elektronischen Komponenten zusammengesetzt, so sind sie heute immer häufiger eine Kombination aus digitaler Hardware und Software. Dies gilt für zahlreiche Produkte und Dienstleistungen sowohl im Gesundheitssektor als auch in der klassischen Industrie und im Einzelhandel. Wenn jemand eine Kreuzbandverletzung hat, erfolgt die Versorgung zum Beispiel mit einer Knieorthese und Physiotherapie gemäß der S1-Leitlinie1. Ärzte können zusätzlich zur bisherigen Therapie eine Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) per Rezept verordnen. Diese DiGA ist ein digitaler Trainingsassistent, der zusammen mit der Knieorthese vom Sanitätshaus versorgt wird und separat abgerechnet werden kann.
Handlungsempfehlung 5:
Telematikinfrastruktur – Wissenslücken schließen
Insbesondere bei der konkreten Thematik des elektronischen Rezepts (E‑Rezepts), der „Kommunikation im Medizinwesen“ (KIM), der DiGA und anderer digitaler Entwicklungen ist der Kenntnisstand nach den Aussagen der Expert:innen in den Einzelinterviews der Masterthesis sehr gering und die Wissenslücken riesig. Die Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kriegsereignisse in der Ukraine haben möglicherweise dazu geführt, dass das Thema in den Hintergrund gerückt ist. Es könnte möglicherweise auch an der mangelnden Bereitstellung von personellen Ressourcen durch das Management liegen. Fachzeitschriften und Verbände leisten seit Monaten Aufklärungsarbeit, aber es scheint, dass diese nicht die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen erlangt und nicht als dringlich angesehen wird. Deshalb empfiehlt es sich, eine verantwortliche Person oder einen Personenkreis mit dem Themenkomplex Telematikinfrastruktur (TI) zu betrauen und entsprechend neue Märkte zu erschließen und bestehende Versorgungsbereiche zu sichern.
Handlungsempfehlung 6:
Innovative Fachkräftebildung
Die Orthopädie-Technik bietet alles, was junge Menschen wollen: Arbeit am, mit und für Menschen in Kombination mit digitalen Elementen und Abläufen. So beschreiben es die Expert:innen der Einzelinterviews nahezu übereinstimmend. Neben der klassischen handwerklichen Ausbildung muss auch ein Grundverständnis für digitale Fertigungstechniken vermittelt werden. Nur durch eine Verknüpfung der verschiedenen Fertigungstechniken kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Eine Beteiligung der Betriebe und ihrer Mitarbeiter:innen u. a. in Prüfungsausschüssen und Verbänden ist hierfür essenziell. Im Berufsschulkontext gilt es ebenfalls, diese Fertigungstechniken und ein technisches Grundverständnis zu vermitteln. Die Expert:innen sprechen sich dafür aus, dass Fortbildungen in den Betrieben angeboten werden, um die Möglichkeiten der digitalen Versorgung aufzuzeigen.
Jede Position im Unternehmen erfordert spezifische Kompetenzen und Fähigkeiten. Es ist wichtig, diese entsprechend den Anforderungen im betrieblichen Umfeld zu definieren und die Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen aufeinander abzustimmen. Aufgrund veränderter digitaler Prozesse und Transformationen ist es unabdingbar, Arbeitsbereiche, Funktionen und Tätigkeiten in Unternehmen neu zu gestalten und zu definieren. Bei Veränderungsprozessen müssen alle Mitarbeiter:innen mitgenommen und an den unterschiedlichen Stellen abgeholt werden.
Handlungsempfehlung 7:
Arbeitgeberattraktivität und Nachhaltigkeit
Die Arbeitgeberattraktivität wird nach Meinung der Expert:innen auch durch das Image des Unternehmens geprägt, welches im Kontext einer nachhaltigen Unternehmensstrategie eine immer wichtigere Rolle einnimmt. Dabei stehen die Bereiche E‑Mobilität mit E‑Bikes, E‑Lastenräder und E‑Autos für die Versorgung in Innenstädten, nachhaltige Energieversorgung sowie ressourcenorientierte Materialverarbeitung im Vordergrund. Viele Unternehmen nehmen das Thema Nachhaltigkeit ernst und betrachten es nicht mehr als Trend oder Modewort. Insbesondere die Industrie nimmt derzeit eine Vorreiterrolle ein. Hier spiegelt sich Nachhaltigkeit unter anderem in den Produktionsprozessen wider, beispielsweise durch neue Fertigungstechnologien in der Einlagen- und Orthesenfertigung. Nachhaltig produzierte Bandagen und Orthesen werden immer wichtiger. Sie bestehen zum Teil aus recycelten, nachwachsenden oder abbaubaren Materialien. Außerdem werden die Lieferketten transparent. Auch der Zuschnitt und die Verarbeitung der Materialien sowie der Umstieg auf neue Fertigungstechniken, die keine oder nur sehr geringe Abfallmengen erzeugen, beispielsweise beim Schleifen von Einlagen oder anderen Hilfsmitteln, sind Themen, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. Der Themenkomplex „Green IT“ mit Schwerpunkt auf effizienter Datenspeicherung ist ebenfalls von großer Bedeutung. Dabei ist es jedoch wichtig, ein echtes Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu haben und nicht in ein Greenwashing zu verfallen.
Innovationen und Kooperationen
Innovationskooperationen erfordern Mut und eine Öffnung des Unternehmens nach außen. Sie ermöglichen die Bündelung vorhandener und begrenzter eigener Ressourcen durch Zusammenschlüsse und das Eingehen neuer externer Partnerschaften. Dadurch wird der erste Schritt in eine Innovationskooperation getan.
Kooperationen erfordern Arbeit und Investitionen aus verschiedenen finanziellen, personellen oder materiellen Ressourcen. Der Mehrwert, der durch neue Produkte, Technologien, Verfahren oder Dienstleistungen entsteht, muss durch Arbeitsteilung definiert und koordiniert werden. Eine erfolgreiche Kommunikation erfordert ein Innovationsmarketing, das die Kundenwünsche, die Bedürfnisse der Partner und der eigenen Mitarbeiter im Kontext einer Innovationsstrategie kontinuierlich kommuniziert, an diese anpasst und Bedürfnisse identifiziert2.
Im Gesundheitswesen sind Innovationen immer im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit, ihren Nutzen und ihre Auswirkungen auf die Versorgung zu bewerten. Dabei ist es wichtig, den Versorgungsauftrag aus gesundheits- und patientenorientierter Perspektive zu erfüllen und gleichzeitig die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens zu berücksichtigen.
Bachfischer (Abb. 1)3 beschreibt zeitliche Dimensionen, die den Markt, die Nutzer:innen, die Technologie und das Produkt in Abhängigkeit voneinander setzen. Neue Produkte, Dienstleistungen und Verfahren werden in Märkten betrachtet, in denen das Unternehmen noch nicht tätig ist, ausgehend von bereits erschlossenen, etablierten Märkten und den derzeit eingesetzten Technologien. Auch die Erschließung neuer Märkte durch den Einsatz neuer Technologien wird berücksichtigt. Der 70–20-10-Ansatz und eine optimale Ressourcenverteilung im Innovationsportfolio stellen dies dar. Dabei werden die Faktoren Ressourcenverteilung, strategische Zielsetzung, Art der Innovation, Enabler (Möglichmacher) und Treiber berücksichtigt.
Das Portfolio dient zur Orientierung und groben Einordnung bei begrenzten Ressourcen. Es ist nicht immer möglich, klare Trennlinien zwischen verschiedenen Innovationshorizonten zu ziehen, da dies je nach Betrachtungsweise des Anwenders oft in unterschiedlichen Bereichen liegt. Festzuhalten ist jedoch, dass inkrementelle Innovationen einen geringen Unsicherheitsfaktor aufweisen. Die Voraussetzungen hinsichtlich Markt, Kunden, Produkten und Vertriebswegen sind in der Regel bekannt. Risiken und Chancen lassen sich daher im Vorfeld gut abschätzen. Eine radikale Innovation dagegen erschwert die Prognose.
Daniel Behm, MBA
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