Ver­sor­gung abseits des Standards

Antrag abgelehnt. So simpel diese zwei Worte klingen, so komplex und langwierig können die Prozesse sein, die davor und dahinter stehen. Während manche Kostenvoranschläge schnell bewilligt sind, brauchen Orthopädietechniker:innen für andere einen längeren Atem. Insbesondere dann, wenn die Versorgung über den Standard hinausgeht. Innovationen – und die sind gerne mal kostspielig – müssen bei den Kostenträgern gut begründet und manchmal auch erst einmal erklärt werden. Die Erfahrung macht Michael Stolle, Orthopädietechniker beim Essener Sanitätshaus Luttermann, täglich. Als „Koordinator Kostenträger Technische Orthopädie“ unterstützt er die Kolleg:innen bei der Antragsstellung und steht im ständigen Austausch mit den Krankenkassen. Vor welche Herausforderungen stellt ihn das? Und wie beugt man Diskussionen und Ablehnungen erfolgreich vor? Das und mehr erläutert Stolle am Beispiel der myoelektrischen Armorthese MyoPro, die Menschen dabei unterstützt, die Funktionen der gelähmten oder geschwächten oberen Extremitäten wiederherzu­stellen.

„Die Orthe­se hilft. Ich habe schon fan­tas­ti­sche Din­ge gese­hen“, betont er. „Aber es han­delt sich eben um eine High­tech-Ver­sor­gung für einen fünftstel­li­gen Euro-Betrag. Ich kann ver­ste­hen, wenn die Kran­ken­kas­sen erst ein­mal schlu­cken und hin­ter­fra­gen, ob das Pro­dukt bedarfs­ge­recht ist.“ Und ist es das? Dafür gilt es erst ein­mal, gemein­sam mit den Patient:innen das Ver­sor­gungs­ziel zu klä­ren, Kon­tra­in­di­ka­tio­nen und – nicht zuletzt durchs Pro­be­tra­gen – alter­na­ti­ve Hilfs­mit­tel aus­zu­schlie­ßen. Hier zeigt sich auch, ob die not­wen­di­ge Com­pli­ance der Patient:innen gege­ben ist. Wie bei jedem ande­ren Hilfs­mit­tel müs­sen sich die Techniker:innen beim Erstel­len des Antrags auf Kos­ten­über­nah­me an die jewei­li­gen ver­trag­li­chen Gege­ben­hei­ten hal­ten. „Die Unter­la­gen müs­sen voll­stän­dig sein“, nennt Stol­le den viel­leicht nächst­lie­gen­den, aber eben­so wich­tigs­ten Fak­tor. Und leser­lich sowie – für einen guten Ein­druck – am bes­ten am PC aus­ge­füllt. „Je mehr Infor­ma­tio­nen man den Kran­ken­kas­sen lie­fert, des­to grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass das Hilfs­mit­tel auch geneh­migt wird“, ergänzt er. Dazu gehö­ren sowohl der Pro­fil­erhe­bungs­bo­gen als auch die Begleit­un­ter­la­gen. Hier muss deut­lich gemacht wer­den, was das Ver­sor­gungs­ziel ist und war­um es mit genau die­sem Hilfs­mit­tel erreicht wer­den kann. Im Fall der Myo­Pro zieht das Dis­kus­sio­nen nach sich. „Die Kos­ten­trä­ger ver­glei­chen hier oft Äpfel mit Bir­nen.“ Sie sehen dar­in ein The­ra­pie­ge­rät, ein Gerät, das die Patient:innen pas­siv bewegt. „Aber das tut es eben nicht. Bei der Myo­Pro geht es um eine akti­ve, wil­lent­li­che Aus­übung der Funk­tio­nen. Das ist ein gro­ßer Unter­schied.“ Um den Mehr­wert der myo­elek­tri­schen Orthe­se auf­zu­zei­gen, sei es not­wen­dig, dem Kos­ten­trä­ger die Aus­wer­tung der Myo­si­gna­le vor­zu­le­gen. „So lässt sich auf­zei­gen, dass die Orthe­se genau das tut, was sie tun soll. Der Pati­ent kann das Signal frei­set­zen und die Orthe­se damit ansteu­ern.“ Durch die zurück­ge­won­ne­nen Funk­tio­nen schaf­fe er es, die Behin­de­rung auszugleichen.

„Die Myo­Pro war die ers­te myo­elek­tri­sche Armor­the­se am Markt. Aber auch die wird irgend­wann Stan­dard wer­den. Die Tech­nik ent­wi­ckelt sich immer wei­ter“, ist Stol­le über­zeugt. „Ich wür­de mir wün­schen, dass die Kranken­kassen dafür mehr Ver­ständ­nis ent­wi­ckeln.“ Wie in jeder ande­ren Bran­che unter­schei­den sich auch die Arbeits­wei­sen der ein­zel­nen Kran­ken­kas­sen. Und die Sachbearbeiter:innen sind mal mehr, mal weni­ger fach­lich geschult, zei­gen mal mehr, mal weni­ger Inter­es­se, so Stol­les Erfah­rung. Aus dem Gespräch wird im Ver­lauf dann schon mal ein Auf­klä­rungs­ge­spräch: „Ach, so etwas gibt es? Das ist ja span­nend“, wird Stol­le anschlie­ßend dar­um gebe­ten, die Pro­dukt­un­ter­la­gen zuzu­schi­cken. Die Nach­fra­ge sieht der Ortho­pä­die­tech­ni­ker aber nicht zwangs­läu­fig als kri­tisch an, son­dern als not­wen­dig und för­der­lich für fol­gen­de Ver­sor­gun­gen. Wer noch kei­ne Kennt­nis hat, wird so in Kennt­nis gesetzt. Zeit­auf­wen­dig und manch­mal müßig blei­be das Dran­blei­ben und Nach­ha­ken dennoch.

Was hilf­reich bei der Antrags­stel­lung sein kann und teil­wei­se von den Kos­ten­trä­gern ein­ge­for­dert wird, ist, zusätz­lich Video­do­ku­men­ta­tio­nen ein­zu­rei­chen. Denn so wird genau sicht­bar, was die Orthe­se kann und wie die Patient:innen damit umge­hen. Das Pro­blem: „Man­che Sach­be­ar­bei­ter kön­nen die Vide­os nicht anse­hen, ande­re dür­fen es nicht“, berich­tet Stol­le mit Blick auf Daten­schutz­richt­li­ni­en und feh­len­de tech­ni­sche Vor­aus­set­zun­gen. Aus der Cloud dür­fen kei­ne Datei­en geöff­net wer­den, statt digi­ta­ler Über­mitt­lung soll eine CD gebrannt wer­den, nennt er eini­ge Bei­spie­le. „Das erschwert den Prozess.“

Kom­mu­ni­ka­ti­on ist für Stol­le das A und O. Obwohl er viel zum Tele­fon­hö­rer greift, zeigt sich, dass der schrift­liche Aus­tausch bei kom­ple­xen The­men doch ziel­füh­ren­der ist. „Anru­fe schei­nen plau­si­bel, sind aber oft nicht gewünscht“, so sei­ne Erfah­rung. Ein Fall wird aus­führ­lich erläu­tert, aber letzt­lich endet das Gespräch mit der Bit­te, das Gesag­te in einer Mail zusam­men­zu­fas­sen. Also lie­ber direkt zur Tas­ta­tur grei­fen. Arbeits­schritt gespart. „Frü­her war der kur­ze Arbeits­weg der bes­te. Das ist aber auf­ge­bro­chen.“ Heu­te gebe es deut­lich weni­ger Kas­sen, die die Ver­si­cher­ten unter sich auf­tei­len – dafür aber antei­lig mit mehr Sachbearbeiter:innen. Per­sön­li­che Kon­tak­te exis­tier­ten nach wie vor, wür­den aber spür­bar weni­ger. Aber egal, ob schrift­lich oder münd­lich: Stol­le fin­det es wich­tig, im Aus­tausch stets sach­lich und ruhig zu blei­ben. Auch wenn das bedeu­tet, immer und immer wie­der das Glei­che erklä­ren zu müs­sen – selbst dem oder der 13. Sachbearbeiter:in. „Wenn damals jemand sei­nen Unmut an mir aus­ge­las­sen hat, hat das nichts mit mir gemacht“, denkt der Ortho­pä­die­tech­ni­ker an die Zeit zurück, als er am ande­ren Ende der Lei­tung saß und als Fach­be­ra­ter für Kran­ken­kas­sen gear­bei­tet hat. Die­ser Per­spek­tiv­wech­sel ist ihm heu­te eine Hil­fe bei der Arbeit im OT-Betrieb. Er weiß, wie die Sachbearbeiter:innen den­ken, sagt er und ist sich bewusst, dass sie nur das Bes­te für die Patient:innen wol­len, dabei aber immer das Preis­schild im Hin­ter­kopf haben (müs­sen). „Ich wür­de mir von­sei­ten der Kos­ten­trä­ger wün­schen, dass sie mehr Ver­ständ­nis dafür ent­wi­ckeln, mit wem wir arbei­ten. Das sind Men­schen. Sie ver­än­dern sich. Wir betreu­en die Pati­en­ten lang­fris­tig und eng­ma­schig und tref­fen sie nicht nur ein­mal zur Auslieferung.“

Auch bei der Myo­Pro ist es allein mit der Bereit­stel­lung nicht getan. Unver­zicht­bar ist laut Stol­le – und das schreibt eben­falls der Her­stel­ler Myo­mo vor – ein Trai­ning von 40 Stun­den durch Therapeut:innen bzw. Techniker:innen. So ler­nen die Anwender:innen mit der Orthe­se umzu­ge­hen und trai­nie­ren Bewe­gungs­ab­läu­fe. Der Her­stel­ler bie­tet zwar an, die Orthe­se zwecks Test­ver­sor­gung für sechs Mona­te zu lei­hen, aller­dings wol­len die Kas­sen in der Regel nur vier Wochen bezah­len. Die „Mehr­zeit“ durch­zu­be­kom­men, ist laut Stol­le ein Kampf, den er aber stets ver­sucht, für sich zu gewin­nen. Denn: „Die feh­len­den Funk­tio­nen in Arm und Hand erhal­ten die Pati­en­ten in vier Wochen nicht zurück. Das braucht Zeit. Das braucht Trai­ning“, sagt Stol­le. Wenn dann der Medi­zi­ni­sche Dienst zur Begut­ach­tung kommt, sei Ernüch­te­rung vor­pro­gram­miert. „Der Her­stel­ler ist bemüht, die Bedeu­tung des Trai­nings an die Kos­ten­trä­ger zu kom­mu­ni­zie­ren, aber noch scheint das nicht aus­rei­chend ange­kom­men zu sein.“

Außer­dem hat der OTler einen wei­te­ren Wunsch an die Mitarbeiter:innen des Medi­zi­ni­schen Diens­tes: „Es gibt im Krank­heits­ver­lauf ein Auf und Ab.“ Nur weil ein Pati­ent bzw. eine Pati­en­tin am Tag der Prü­fung nicht so gut mit der Orthe­se zurecht­zu­kom­men scheint, bedeu­te das nicht zwangs­läu­fig, dass das auch für alle ande­ren Tage gilt. Hier sieht Stol­le in der Video­do­ku­men­ta­ti­on eine gute Mög­lich­keit, Klar­heit zu schaffen.
Die Kom­pe­tenz liegt bei den Orthopädie­tech­ni­­ker:innen. Sie sind es, die das Hilfs­mit­tel aus­wäh­len. Braucht es da über­haupt eine Kran­ken­kas­se und einen ­Medi­zi­ni­schen Dienst, die die Hän­de dar­über­hal­ten und ein Veto ein­le­gen kön­nen? „Sind wir die Göt­ter in Weiß?“, gibt Stol­le zu beden­ken. „Es ist wich­tig, ein Organ zur Prü­fung zu haben“, betont er. Kon­trol­le sei not­wen­dig. Doch die Fra­ge sei: Wie viel?

Pia Engel­brecht

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