„Die Orthese hilft. Ich habe schon fantastische Dinge gesehen“, betont er. „Aber es handelt sich eben um eine Hightech-Versorgung für einen fünftstelligen Euro-Betrag. Ich kann verstehen, wenn die Krankenkassen erst einmal schlucken und hinterfragen, ob das Produkt bedarfsgerecht ist.“ Und ist es das? Dafür gilt es erst einmal, gemeinsam mit den Patient:innen das Versorgungsziel zu klären, Kontraindikationen und – nicht zuletzt durchs Probetragen – alternative Hilfsmittel auszuschließen. Hier zeigt sich auch, ob die notwendige Compliance der Patient:innen gegeben ist. Wie bei jedem anderen Hilfsmittel müssen sich die Techniker:innen beim Erstellen des Antrags auf Kostenübernahme an die jeweiligen vertraglichen Gegebenheiten halten. „Die Unterlagen müssen vollständig sein“, nennt Stolle den vielleicht nächstliegenden, aber ebenso wichtigsten Faktor. Und leserlich sowie – für einen guten Eindruck – am besten am PC ausgefüllt. „Je mehr Informationen man den Krankenkassen liefert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Hilfsmittel auch genehmigt wird“, ergänzt er. Dazu gehören sowohl der Profilerhebungsbogen als auch die Begleitunterlagen. Hier muss deutlich gemacht werden, was das Versorgungsziel ist und warum es mit genau diesem Hilfsmittel erreicht werden kann. Im Fall der MyoPro zieht das Diskussionen nach sich. „Die Kostenträger vergleichen hier oft Äpfel mit Birnen.“ Sie sehen darin ein Therapiegerät, ein Gerät, das die Patient:innen passiv bewegt. „Aber das tut es eben nicht. Bei der MyoPro geht es um eine aktive, willentliche Ausübung der Funktionen. Das ist ein großer Unterschied.“ Um den Mehrwert der myoelektrischen Orthese aufzuzeigen, sei es notwendig, dem Kostenträger die Auswertung der Myosignale vorzulegen. „So lässt sich aufzeigen, dass die Orthese genau das tut, was sie tun soll. Der Patient kann das Signal freisetzen und die Orthese damit ansteuern.“ Durch die zurückgewonnenen Funktionen schaffe er es, die Behinderung auszugleichen.
„Die MyoPro war die erste myoelektrische Armorthese am Markt. Aber auch die wird irgendwann Standard werden. Die Technik entwickelt sich immer weiter“, ist Stolle überzeugt. „Ich würde mir wünschen, dass die Krankenkassen dafür mehr Verständnis entwickeln.“ Wie in jeder anderen Branche unterscheiden sich auch die Arbeitsweisen der einzelnen Krankenkassen. Und die Sachbearbeiter:innen sind mal mehr, mal weniger fachlich geschult, zeigen mal mehr, mal weniger Interesse, so Stolles Erfahrung. Aus dem Gespräch wird im Verlauf dann schon mal ein Aufklärungsgespräch: „Ach, so etwas gibt es? Das ist ja spannend“, wird Stolle anschließend darum gebeten, die Produktunterlagen zuzuschicken. Die Nachfrage sieht der Orthopädietechniker aber nicht zwangsläufig als kritisch an, sondern als notwendig und förderlich für folgende Versorgungen. Wer noch keine Kenntnis hat, wird so in Kenntnis gesetzt. Zeitaufwendig und manchmal müßig bleibe das Dranbleiben und Nachhaken dennoch.
Was hilfreich bei der Antragsstellung sein kann und teilweise von den Kostenträgern eingefordert wird, ist, zusätzlich Videodokumentationen einzureichen. Denn so wird genau sichtbar, was die Orthese kann und wie die Patient:innen damit umgehen. Das Problem: „Manche Sachbearbeiter können die Videos nicht ansehen, andere dürfen es nicht“, berichtet Stolle mit Blick auf Datenschutzrichtlinien und fehlende technische Voraussetzungen. Aus der Cloud dürfen keine Dateien geöffnet werden, statt digitaler Übermittlung soll eine CD gebrannt werden, nennt er einige Beispiele. „Das erschwert den Prozess.“
Kommunikation ist für Stolle das A und O. Obwohl er viel zum Telefonhörer greift, zeigt sich, dass der schriftliche Austausch bei komplexen Themen doch zielführender ist. „Anrufe scheinen plausibel, sind aber oft nicht gewünscht“, so seine Erfahrung. Ein Fall wird ausführlich erläutert, aber letztlich endet das Gespräch mit der Bitte, das Gesagte in einer Mail zusammenzufassen. Also lieber direkt zur Tastatur greifen. Arbeitsschritt gespart. „Früher war der kurze Arbeitsweg der beste. Das ist aber aufgebrochen.“ Heute gebe es deutlich weniger Kassen, die die Versicherten unter sich aufteilen – dafür aber anteilig mit mehr Sachbearbeiter:innen. Persönliche Kontakte existierten nach wie vor, würden aber spürbar weniger. Aber egal, ob schriftlich oder mündlich: Stolle findet es wichtig, im Austausch stets sachlich und ruhig zu bleiben. Auch wenn das bedeutet, immer und immer wieder das Gleiche erklären zu müssen – selbst dem oder der 13. Sachbearbeiter:in. „Wenn damals jemand seinen Unmut an mir ausgelassen hat, hat das nichts mit mir gemacht“, denkt der Orthopädietechniker an die Zeit zurück, als er am anderen Ende der Leitung saß und als Fachberater für Krankenkassen gearbeitet hat. Dieser Perspektivwechsel ist ihm heute eine Hilfe bei der Arbeit im OT-Betrieb. Er weiß, wie die Sachbearbeiter:innen denken, sagt er und ist sich bewusst, dass sie nur das Beste für die Patient:innen wollen, dabei aber immer das Preisschild im Hinterkopf haben (müssen). „Ich würde mir vonseiten der Kostenträger wünschen, dass sie mehr Verständnis dafür entwickeln, mit wem wir arbeiten. Das sind Menschen. Sie verändern sich. Wir betreuen die Patienten langfristig und engmaschig und treffen sie nicht nur einmal zur Auslieferung.“
Auch bei der MyoPro ist es allein mit der Bereitstellung nicht getan. Unverzichtbar ist laut Stolle – und das schreibt ebenfalls der Hersteller Myomo vor – ein Training von 40 Stunden durch Therapeut:innen bzw. Techniker:innen. So lernen die Anwender:innen mit der Orthese umzugehen und trainieren Bewegungsabläufe. Der Hersteller bietet zwar an, die Orthese zwecks Testversorgung für sechs Monate zu leihen, allerdings wollen die Kassen in der Regel nur vier Wochen bezahlen. Die „Mehrzeit“ durchzubekommen, ist laut Stolle ein Kampf, den er aber stets versucht, für sich zu gewinnen. Denn: „Die fehlenden Funktionen in Arm und Hand erhalten die Patienten in vier Wochen nicht zurück. Das braucht Zeit. Das braucht Training“, sagt Stolle. Wenn dann der Medizinische Dienst zur Begutachtung kommt, sei Ernüchterung vorprogrammiert. „Der Hersteller ist bemüht, die Bedeutung des Trainings an die Kostenträger zu kommunizieren, aber noch scheint das nicht ausreichend angekommen zu sein.“
Außerdem hat der OTler einen weiteren Wunsch an die Mitarbeiter:innen des Medizinischen Dienstes: „Es gibt im Krankheitsverlauf ein Auf und Ab.“ Nur weil ein Patient bzw. eine Patientin am Tag der Prüfung nicht so gut mit der Orthese zurechtzukommen scheint, bedeute das nicht zwangsläufig, dass das auch für alle anderen Tage gilt. Hier sieht Stolle in der Videodokumentation eine gute Möglichkeit, Klarheit zu schaffen.
Die Kompetenz liegt bei den Orthopädietechniker:innen. Sie sind es, die das Hilfsmittel auswählen. Braucht es da überhaupt eine Krankenkasse und einen Medizinischen Dienst, die die Hände darüberhalten und ein Veto einlegen können? „Sind wir die Götter in Weiß?“, gibt Stolle zu bedenken. „Es ist wichtig, ein Organ zur Prüfung zu haben“, betont er. Kontrolle sei notwendig. Doch die Frage sei: Wie viel?
Pia Engelbrecht
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