Wenig zum Besseren bewegt
OT: Frau Domscheit, im „Sonderbericht über die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung“, der 2022 erschienen ist, hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) große Defizite bei der Hilfsmittelversorgung für gesetzlich Versicherte festgestellt, die unter anderem auch durch fehlendes Controlling, fehlende Überprüfungen seitens der Krankenkassen begründet wurden. Hat sich seither aus Ihrer Sicht etwas zum Besseren bewegt?
Antje Domscheit: Die Auswertungen im Bericht bezogen sich auf den Stichtag 1. April 2022 und gingen auf ein Rundschreiben vom 17. Juni 2020 zurück. Inzwischen ist also mehr als ein Jahr vergangen. In der Datenauswertung zur Vertragsabdeckung sind wir ein kleines Stück weitergekommen, haben also etwas mehr Transparenz darüber, welche Verträge zwischen Leistungserbringenden und gesetzlichen Krankenkassen geschlossen wurden. Insgesamt bewegt es sich nur sehr langsam zum Besseren.
OT: Das Controlling der Versorgungsqualität findet nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt?
Domscheit: Wir sind immer noch auf dem Stand von 2020, dem Zeitpunkt unseres Rundschreibens. Unserer Einschätzung nach hat sich auch noch nicht viel getan. Die Krankenkassen haben uns in ihren Rückmeldungen zugesichert, dass sie an Konzepten arbeiten. Manche Krankenkassen sind der Meinung, dass es genügt, Beschwerden von Versicherten einfach individuell abzuarbeiten. Doch das genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Es muss eine strukturierte Prüfung der Qualität der Versorgung stattfinden. Damit schlechte Qualität vom Markt verschwindet, müssen Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen durchgeführt werden sowie Konsequenzen erfolgen.
OT: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat nun einen Reformprozess angestoßen, durch den die Hilfsmittelversorgung verbessert werden soll. Welche Punkte sehen Sie als die wichtigsten an, die durch eine Reform angegangen werden müssen?
Domscheit: Grundsätzlich muss ich sagen, dass nach unserer Analyse die vom Gesetzgeber vorgegebenen Ziele nicht erreicht wurden und deshalb das wettbewerbsbasierte Vertragsmodell auf dem Prüfstand steht. Wir haben in unserem Sonderbericht zusammengefasst, was wir für notwendig erachten, dass es besser wird. Dazu gehört, die flächendeckende wohnortnahe Versorgung durch genügend Verträge mit Leistungserbringenden abzusichern. Denn dies bedeutet, dass die Versicherten den direkten Zugang zur gesetzlich garantierten Versorgung nach dem Sachleistungsprinzip haben. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Transparenz: Welche Verträge existieren und was sind die wichtigsten Inhalte? Nur so haben die Versicherten Einblick, welche Verträge ihre Kasse abgeschlossen hat und was sie demzufolge von welchem Leistungserbringenden erwarten können. Damit können Versicherte qualifiziert entscheiden – und gegebenenfalls die Krankenkasse wechseln, wenn anderswo bessere Qualität bzw. Auswahl geboten werden.
Vertragsinhalte offenlegen
OT: Wie könnte Vertragstransparenz ausgestaltet werden?
Domscheit: Mittlerweile bieten viele Krankenkassen auf ihren Internetseiten Suchmaschinen für ihre Versicherten zu Leistungserbringenden an. Aber über die Inhalte der Verträge, die darin festgeschriebenen Leistungen, erfahren die Versicherten nach wie vor nichts. Doch dies wäre aus unserer Sicht ein ganz entscheidender Schritt zu Transparenz im System.
OT: Welche Vertragsinhalte sollten verpflichtend offengelegt werden?
Domscheit: Für eine qualifizierte Entscheidung ist Transparenz über wesentliche Vertragsinhalte notwendig. Die Vertragsinhalte sollten einfach abrufbar und barrierefrei erreichbar sein, damit die Versicherten die Angebote der verschiedenen Krankenkassen tatsächlich vergleichen können. Die veröffentlichten Informationen sollten ebenso Lieferfristen und die zwischen Krankenkasse und den Leistungserbringenden vereinbarten Preise für die Versorgung beinhalten. Nur mit Preistransparenz können sich Versicherte preisorientiert verhalten.
OT: Gibt es bisher einen Vorschlag innerhalb des vom BMG angestoßenen Reformprozesses, der die Krankenkassen zu mehr Transparenz im Vertragswesen zwingt?
Domscheit: Wir haben unter Beteiligung des BMG, einzelner Landesaufsichten, Krankenkassen, Patientenvertretungen und der Leistungserbringenden versucht, einen Kompromiss zu finden, was als Mindestanforderung aus dem Inhalt der Verträge veröffentlicht werden muss. Denkbar wäre, die vertraglichen Informationen im nationalen Gesundheitsportal zu veröffentlichen. Das wäre ein geeignetes Medium, weil die Versicherten ansonsten auf den Homepages aller Krankenkassen nach den Informationen suchen müssen. Eine Idee war, dass der GKV- Spitzenverband die Angaben auf seiner Homepage veröffentlicht – wie es zum Beispiel bei den Präventionsangeboten gehandhabt wird. Darüber gab es aber gar keine Einigung.
OT: Warum nicht?
Domscheit: Der GKV-Spitzenverband hat eine Veröffentlichung auf seiner Homepage abgelehnt, weil er die Position vertritt, dass weder Vertragspartner noch Preis zu den veröffentlichungswerten Daten gehören. Das BMG denkt unseres Wissens nun darüber nach, die Transparenzvorgaben per Gesetz zu regeln. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass auch die Landesaufsichtsbehörden zu wenig auf dieses Thema blicken. Meiner Auffassung nach ist die aktuelle Gesetzesregelung ausreichend. Wesentlich sind nach den Regelungen des Vertragsrechts auch im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) diejenigen Angaben, die Mindestanforderungen an einen wirksamen Vertrag sind. Dazu gehört selbstverständlich, wer welche Leistung zu welchem Preis schuldet. Ohne diese Angaben ist ein Vertrag nichtig, dies wird im Vertragswesen verlangt. Da benötige ich keine Extraregelung speziell für die Hilfsmittelversorgung. Aber wenn letztlich nur so ein Ergebnis erreicht werden kann – dann scheint eine Klarstellung des Gesetzgebers jedoch durchaus sinnvoll.
Zulassung per Verwaltungsakt
OT: Im Vorwort des bereits erwähnten BAS-Sonderberichts heißt es, dass sich das wettbewerbsbasierte Vertragsmodell in der Hilfsmittelversorgung nicht bewährt habe und daher eine Rückkehr zur Zulassung der Leistungserbringenden per Verwaltungsakt und landesweit einheitlicher Versorgungsverträge vorgeschlagen werde. Würden Sie dies genauer beschreiben?
Domscheit: Die Zulassung der Leistungserbringenden per Verwaltungsakt lässt sich parallel zur Präqualifizierung realisieren und muss nicht aufwändig sein. Unser Vorschlag einer Rückkehr zu einem solchen Zulassungsmodell, das es ähnlich beispielsweise bei Ärzt:innen gibt, ist mit einer Versorgungspflicht seitens der zugelassenen Leistungserbringenden verbunden. So schaffen wir allen Versicherten Zugang zu den Angeboten der Hilfsmittelversorgung am Markt. Denn wir beobachten, dass sich Leistungserbringende einem Schiedsverfahren bei feststeckenden Vertragsverhandlungen entziehen, indem sie sagen: Ich will gar keinen Vertrag mehr – denn sie sind ja nicht zur Versorgung verpflichtet.
OT: Das bedeutet?
Domscheit: Damit wird das Schiedsverfahren zum stumpfen Schwert. Der flächendeckende Abschluss von Rahmenverträgen wird hierdurch erschwert. Die Folge sind Einzelverträge, die auf der Grundlage von Kostenvoranschlägen vereinbart werden, was die Krankenkasse unter (Zeit-)Druck setzt. Das ist weder wirtschaftlich noch transparent. Darüber hinaus ergibt sich die Frage, ob landes- oder bundesweite Verträge die Vertragsbürokratie reduzieren könnten. Den Aufwand minimieren möchten sicher alle, die Frage ist nur: wie?
OT: Also weg vom Einzelvertrag?
Domscheit: Ja. Wir halten eine Reduzierung der Bürokratie für die Vertragsschlüsse für notwendig. Die Zahl der Verträge zu reduzieren ist sinnvoll – nicht jede Kasse muss mit jedem Leistungserbringenden einen Vertrag abschließen. Die Krankenkassen fokussieren sich bei den „Verhandlungen“ um einen Einzelvertrag auf den Preis und nicht auf die Qualität der Versorgung. Musterverträge, die von den Krankenkassen lediglich zum Vertragsbeitritt angeboten werden, bergen ebenfalls die Gefahr, dass letztlich keine Vertragsverhandlungen geführt werden, die vor allem die Qualität der Versorgung sicherstellen sollen. Es ist zu erwarten, dass dann nur die Mindestqualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) im Vertrag geregelt werden. Doch das HMV regelt überwiegend lediglich die Produktqualität.
Primat der Qualität – und wer verhandelt?
OT: Wer würde dann verhandeln? Kostenträger und maßgebliche Spitzenorganisationen von Leistungserbringenden, wie zum Beispiel vom Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ vorgeschlagen, dem unter anderem der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) angehört?
Domscheit: Bei den Krankenkassen gibt es Landesverbände, die könnten zum Beispiel verhandeln. Seitens der Leistungserbringenden könnte auch der einzelne Betrieb verhandeln. Die Fokussierung auf Verbände auf der Seite der Leistungsgerbringenden halte ich für problematisch, speziell hinsichtlich der Machtkonzentration. Derzeit gibt es jedenfalls die Möglichkeit, dass Verbände verhandeln. Da muss man sehen, wie das künftig konkret ausgestaltet wird. Ich habe jedenfalls Sympathie dafür, dass es kassenübergreifende Vertragsschlüsse geben sollte, um zu verhindern, dass Versicherte einer Krankenkasse zu bestimmten Produkten kein Vertrag zur Verfügung steht und damit das Versorgungsniveau uneinheitlich ist. Schlussendlich muss es um die Qualität gehen – nicht nur um den Preis. Ein Wettbewerb um Qualität war ja nicht zuletzt die Grundidee des Vertragsmodells.
OT: Zur Reformierung des Schiedsverfahrens gibt es Vorschläge in Richtung einer paritätisch besetzten, ständigen Schiedsstelle …
Domscheit: Die Diskussion, ob Schiedspersonen, ‑ämter oder ‑stellen eingerichtet werden, gab es vor der letzten Reform ebenfalls. Wir haben uns für Schiedspersonen ausgesprochen. Die gemeinsame Selbstverwaltung ist von unterschiedlichen Interessen geprägt. Bei einer entsprechend paritätisch besetzten Schiedsstelle spielen diese Interessen dann immer eine Rolle. Das BAS setzt als Schiedspersonen unabhängige Personen ein, bspw. Richter mit Mediatorenausbildung. Diese verfolgen keine Eigeninteressen. Dadurch wird das Schiedsverfahren unabhängig und wirtschaftlich gestaltet, mit zeitnahen Entscheidungen. Ich sehe keinen Anlass, das zu ändern.
Qualität sicherstellen
OT: Der GKV-Spitzenverband würde gern zum Ausschreibungsmodell und zu Open-House-Modellen zurückkehren. Wie stehen Sie zu diesen Bestrebungen?
Domscheit: Das Ausschreibungsmodell wurde gestrichen, weil die Absicht, mit diesem Instrument Qualität und Wettbewerb zu verbinden, gescheitert ist. Im Endeffekt hatten die Versicherten zudem weniger Auswahl, Mehrpartnermodelle wurden so gut wie nicht ausgeschrieben, Open House gab es im Prinzip nicht. Die Krankenkassen wollten sparen, der Gesetzgeber dagegen wollte, dass durch die Ausschreibungen ein Qualitätswettbewerb entsteht. Das hat damals nicht funktioniert. Ob die Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses allein gewährleistet, dass es durch Ausschreibungsverfahren nicht zu Qualitätsverlusten kommt, muss geprüft werden. Wenn durch gesetzliche Regelungen sichergestellt wird, dass im Zuge von Ausschreibungsverfahren eine qualitativ hochwertige Versorgung gewährleistet ist, kann man über Ausschreibung nachdenken. Das ist letztlich die Entscheidung des Gesetzgebers.
OT: Im BAS-Sonderbericht wurde von großen Preissteigerungen gesprochen, denen die Krankenkassen gegenübergestanden hätten. Wörtlich heißt es: „Krankenkassen und ihre Verbände sahen sich verstärkt Zusammenschlüssen von Leistungserbringern gegenüber, die aufgrund ihrer Marktmacht in Verhandlungen z. T. mit hohen Preisforderungen auftraten. Krankenkassen sahen sich im Einzelfall mit Preissteigerungen von teilweise bis zu 500 Prozent konfrontiert.“ In welchen Bereichen hat es diese Steigerungen gegeben?
Domscheit: Einzelheiten kann ich nicht nennen. Auf mehreren Veranstaltungen, auf denen die ganze Branche vertreten war, haben Kassenvertreter:innen die Preissteigerungen dargelegt. Als die Ausschreibungsverträge abgeschafft wurden, haben sich scharenweise Krankenkassen gemeldet und vorgetragen, dass sie sich in den Verhandlungen mit den Leistungserbringenden nicht auf adäquate Preise einigen können. Wir haben Ende 2019 in einem Rundschreiben betont, dass der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz auch im Rahmen der Prüfung der Veränderungsrate nach § 71 SGB V beim Vertragsschluss zu beachten ist. Die Veränderungsrate für das gesamte Bundesgebiet betrug damals 3,66 Prozent, jetzt 4,2 Prozent.
Hilfsmittelverzeichnis: Innovation machbar
OT: Welche Rolle sollte das Hilfsmittelverzeichnis (HMV) künftig spielen? Hier gibt es beispielsweise Ideen, das HMV wieder auf ein Produktverzeichnis zurückzustutzen und alles, was darüber hinausgeht – zum Beispiel die Ausgestaltung von Versorgungsprozessen oder die Beschreibung der Versorgungsqualität – in die Hände der Vertragspartner zu verlagern. Wie sehen Sie das?
Domscheit: Das halte ich nicht für zielführend. Beim hohem Dienstleistungsanteil in der Hilfsmittelversorgung war es dem Gesetzgeber wichtig, dass Informationen zu den damit verbundenen Dienstleistungen im HMV stehen. Ich halte es für richtig, dass Versorgungsprozesse im HMV beschrieben werden – das sichert Qualität. Zudem sieht das aktuelle Gesetz ebenfalls vor, dass im HMV Einzelheiten zu Prozessen und Qualität ausgeführt werden. Das HMV wird fortwährend weiterentwickelt und das Leistungsrecht nach dem SGB V lässt zu, dass die GKV-Versicherten nach dem neuesten technischen Stand versorgt werden – Innovation ist im GKV-System also machbar.
OT: 2021 wurde das Konzept einer rein digitalen Online-Einlagenversorgung von gesetzlich Versicherten auf Rezept per Selbstvermessung und im Versand durch die Barmer vom BAS untersagt. Wäre es trotzdem nach wie vor zulässig, ähnliche Konzepte auf Rezept am Markt anzubieten?
Domscheit: Dazu kann ich nur soviel sagen: Alle Beteiligten sind über unsere Position umfänglich informiert. Bei solchen Überprüfungen bezüglich der Rechtmäßigkeit eines Vertrags schauen wir uns an, was an Anforderungen im HMV steht. Das muss der Vertrag abbilden. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung, auch wenn es bei einer Grundsatzentscheidung auch eine Präjudizwirkung für vergleichbare Sachverhalte gibt.
OT: Wird persönliche Beratung bei der Hilfsmittelversorgung zunehmend entbehrlich?
Domscheit: Im bereits mehrfach erwähnten Sonderbericht haben wir uns dazu positioniert, was wir in Sachen Beratung für notwendig halten: Eine analoge Beratung in den Geschäftsräumen der Leistungserbringenden oder vor Ort bei den Versicherten muss nach Auffassung des BAS gewährleistet sein, wenn Versicherte das wünschen. Es besteht ein Anspruch auf persönliche Beratung und Einweisung. Hilfsmittelversorgung betrifft oft ältere und multimorbide Menschen und diese sollen die Beratung bekommen, die sie brauchen. Während der Corona-Pandemie war man bereit, in der Qualität Abstriche zu machen, um überhaupt versorgen zu können. Das war richtig. Ich würde aber nicht sagen, dass man auf analoge Beratung und Einweisung in Zukunft verzichten könnte. Dazu gibt es keine Erkenntnisse.
OT: Zum Abschluss rund zwei Jahre vorausgeschaut – wie sieht die Hilfsmittelversorgung 2025 aus?
Domscheit: Es bleibt abzuwarten, wie reformwillig die Politik ist. Nur dann kann sich substanziell etwas ändern.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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