Einleitung
Distorsionen im Sprunggelenk gehören zu den häufigsten sportbedingten Verletzungen 1 2. In mehr als 80 % aller Fälle handelt sich dabei um ein Inversionstrauma 2. Der häufigste Verletzungsmechanismus ist eine Zerrung oder ein Riss der lateralen Bänder, die durch eine übermäßige Inversion – also eine Supination des Fußes bei gleichzeitiger Plantarflexion – hervorgerufen werden 3. Häufig folgt auf die ursprüngliche Verletzung auch eine chronische Instabilität.
Eine wirksame Rehabilitation wird durch die mechanische Stützfunktion von Sprunggelenkorthesen gefördert 1 4. Auf dem Markt verfügbare Orthesen verfolgen unterschiedliche Lösungsansätze und weisen je nach ihrer Konstruktion unterschiedlich hohe Unterstützungsgrade auf. Sie werden sowohl postoperativ als auch präventiv – z. B. beim Sport – eingesetzt. Sowohl bei der Prüfung der Funktionstauglichkeit unter extremen Einsatzbedingungen als auch bei der Testung von Prototypen in einer frühen Entwicklungsphase kann die Funktionalität von Orthesen in probandenbasierten Untersuchungen nur in einem reduzierten Umfang geprüft werden. Denn Tests unter kritischen Bedingungen, beispielsweise ein Umknicken, sind ohne Gefährdung des Probanden nicht möglich.
Verschiedene inter- und intraindividuelle Eigenschaften des Menschen sind der Hauptgrund für unterschiedliche Ergebnisse in klinischen Studien. Daher sollte zur Verbesserung der evidenzbasierten Entwicklung von Sprunggelenkorthesen – zusätzlich zu biomechanischen Untersuchungen – ein reproduzierbarer Funktionstest in einer kontrollierten Laborumgebung durchgeführt werden. Ziel der hier vorgestellten Studie ist es, mittels eines mechanischen standardisierten Laborprüfverfahrens die Stabilitätsfunktion von Orthesen anhand objektiver Daten zu evaluieren. Dazu wurden die mechanisch-funktionellen Eigenschaften von fünf Sprunggelenkorthesen verschiedener Hersteller mit unterschiedlichen Bauweisen bei ausgewählten Bewegungsabläufen mit Hilfe des neuen Testverfahrens untersucht (Abb. 1).
Material und Methoden
Unter Berücksichtigung der Anatomie und der Biomechanik des menschlichen Fußes 5 6 7 wurde ein mechanisches Fußmodell mit integrierter Sensorik entwickelt. Der Testfuß umfasst mehrere integrierte Achsen:
- eine Achse für das obere Sprunggelenk,
- eine Achse für das untere Sprunggelenk,
- eine Kompromissachse für den Mittelfußbereich sowie
- eine Kompromissachse für die Zehenbewegung.
Eine modifizierte hydraulische Prothesenfußprüfmaschine (KS 2–07, Shore Western, Monrovia, Kalifornien, USA) diente als Aktor. Dabei wurde der künstliche Testfuß passiv in vertikaler Richtung auf einen schiefen Untergrund bewegt und dadurch in die gewünschte Position gebracht, die eine traumatische Gelenkstellung imitiert (Abb. 2). Für die Untersuchung der mechanischen Eigenschaften verschiedener Orthesendesigns wurden mehrere kraftgesteuerte Tests bis 400 N durchgeführt. So wurde sowohl eine reine Supinations- als auch eine Kombinationsbewegung aus Supination und Plantarflexion im Sinne einer Inversion durchgeführt.
Die verwendeten Orthesen weisen unterschiedliche Bauweisen auf und nutzen verschiedene Lösungsansätze, um eine Stabilisierung des Sprunggelenks zu erreichen. Dabei kommen Luftpolster, starre Elemente uni- und bilateral sowie textile Gurte unterschiedlicher Steifigkeiten zum Einsatz (Abb. 3).
Bei der Durchführung des Experiments wurde für alle Versuche der gleiche Schuhtyp (Herren-Lederschuh, Größe 43) verwendet. Es wurden jeweils drei Versuche je Prüfling durchgeführt. Dabei diente die Messung ohne Orthese als Referenz.
Die Bewegungen im unteren und oberen Sprunggelenk des Fußmodells wurden mit Hilfe integrierter Potentiometer mit einer Frequenz von 4000 Hz gemessen. Zusätzlich wurden die Maschinensensordaten (Hubzylinderposition, Kräfte, Drehmoment) mit 1000 Hz aufgezeichnet.
Ergebnisse
Durch Auswertung der Daten des integrierten Sensors konnten deutliche Unterschiede im Bewegungsumfang sowohl bei einer reinen Supination als auch bei der Kombinationsbewegung gemessen werden. So wurde für den reinen Supinationstest ohne stabilisierenden Prüfling ein Bewegungsausmaß von bis zu 28° erreicht. Für den kombinierten Test wurde eine Supination von bis zu 25° mit gleichzeitiger Plantarflexion von 20° im Sinne einer Inversion erzielt (Abb. 4 u. 5).
Da der Testfuß lediglich aufgrund von Rollreibung innerhalb der Lager nur einen geringen mechanischen Widerstand bietet, konnte ein Zurückschwingen des Fußes nach Entlastung bei Durchführungen ohne Prüfling beobachtet werden (siehe Messung ohne Orthese in Abb. 4). Bei allen Messungen mit Prüflingen unterscheidet sich die Ausgangsposition von der Endposition nach Entlastung des Fußes. Daher wird der Fuß vor Beginn jeder Messung über das Aktor-System automatisiert in Neutralstellung gebracht.
Die Rotation um die Achse des unteren Sprunggelenks für den reinen Supinationstest ist in den Abbildungen 3 und 4 dargestellt. Das maximale Bewegungsausmaß zeigte Mittelwerte (n = 3) zwischen 3,02° und 19,31° mit Orthese; im Vergleich ergab sich bei der Referenzmessung ohne Orthese ein Wert von 28,40° (SD = 0,58). Die getesteten Orthesen zeigten deutliche Unterschiede im Bewegungsausmaß. Dies ist vor allem auf die stark unterschiedliche Bauweise der Prüflinge zurückzuführen.
Bei der Kombinationsbewegung liegen die Werte für die Plantarflexion für alle getesteten Orthesen in einem Bereich von ca. 4,69° dicht beieinander (von 11,34° bis 16,03°) und alle unterhalb des Vergleichswertes ohne Orthese (16,60° mit SD = 0,98). Bei der gleichzeitig eingeleiteten Supinationsbewegung hingegen sind mit bis zu 14,83° deutliche Unterschiede zu erkennen. So wurde mit rund 0,79° (SD = 0,33) das geringste Bewegungsausmaß in Supination gemessen, was auf eine hohe Stabilität des Prüflings zurückzuführen ist. Das größte Supinationsausmaß betrug aufgrund der vergleichsweise weichen Struktur der getesteten Orthese rund 5,62° (SD = 0,56).
Diskussion
Alle Messungen in dieser Studie wurden innerhalb einer Messreihe durchgeführt. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse von der Maschinenkonfiguration und weiteren Randbedingungen abhängig sind. Neben dem Aufbau des künstlichen Testfußes können unter anderem auch folgende Parameter die Testergebnisse beeinflussen:
- das Anlegen der Orthesen,
- die maximale Belastungshöhe sowie
- Geschwindigkeit, Umfang und Richtung der Bewegung.
Der Belastungsgrad orientiert sich in erster Linie an den unterschiedlichen Aufbauarten der Prüflinge und wurde basierend auf einem ersten Pilottest auf 400 N festgelegt, sodass Unterschiede sichtbar gemacht werden konnten. Um den Verschleiß und den Einfluss des Testfußes zu minimieren, verfügt der Fuß über kein eigenes Feder- oder Dämpfer-System. Daher wird die Kraft nahezu vollständig in die Prüflingskonstruktion eingeleitet.
Es ist anzumerken, dass die Ergebnisse des kombinierten Bewegungstests nicht zur Beurteilung der isolierten Mobilität in Plantarflexion genutzt werden können, da es sich bei der Inversionsbewegung um eine Kombination aus Supination und gleichzeitiger Plantarflexion und Adduktion handelt. Für die Untersuchung der Flexibilität in der Sagittalebene wäre ein zusätzlicher Test mit einer isolierten Bewegung in Plantarflexion erforderlich.
Zudem hat die Art und Weise der Anbringung einen massiven Einfluss auf die Stabilitätsfunktion der Orthesen. Das Anlegen der Gurte wurde zuvor an einer Testperson unter Beachtung des Produkthandbuches von einem Experten vorgenommen. Markierungen auf dem Prüfling dienten dabei als Orientierungshilfe für ein wiederholbares An- und Ausziehen für weiterführende Tests mit demselben Prüfling. Für das initiale Anbringen kann auch eine Messung der Gurtspannung durch Kraftsensoren unterstützend wirken und die Reproduzierbarkeit zwischen den Messreihen weiter erhöhen 8.
Sowohl in der Literatur als auch in dieser Studie werden zur Realisierung des Testfußes biologische Gelenke durch technische Gelenke umgesetzt. Folglich handelt es sich um eine idealisierte Annäherung an das biologische Vorbild. Aus biomechanischer Sicht ist ein Gelenk die Verbindung zwischen zwei Knochen. Im Unterschied zu einem technischen Gelenk folgen biologische Gelenke nie geradlinigen Bahnen oder rotieren um fixe Achsen, da ihre Oberflächen keinen geometrischen Grundflächen gleichen, etwa einer Kugel, einem Kegel oder einem Zylinder. Das biologische Gelenk stellt vielmehr ein System aus zwei artikulierenden Flächen dar, die durch die dreidimensionale anthropomorphe Geometrie der Knochen, Knorpel sowie der führenden Bänder- und Muskelstrukturen beeinflusst wird. Während der Bewegung kann diese Kontaktfläche variieren, was mit einer veränderten Stabilität im Gelenk einhergeht 9.
Eine große Herausforderung bei der Umsetzung eines Testfußes stellt die hinreichende Abbildung des menschlichen Fußes dar, der gleichzeitig den individuellen Eigenschaften des Menschen gerecht wird. Unter Berücksichtigung der Prüfaufgabe und der daraus resultierenden Erhebungen kann der Fokus auf essenzielle Teilbereiche gelegt werden; weniger relevante Bereiche können dagegen in einer gröberen Annäherung abgebildet werden. So wurde beim hier vorgestellten Verfahren der Fokus auf die Mechanik des oberen und unteren Sprunggelenks gelegt.
Fazit
Im Rahmen der hier vorgestellten Forschungsstudie konnte eine ausreichende Empfindlichkeit und Wiederholbarkeit des entwickelten Prüfverfahrens zur mechanischen Evaluierung von Sprunggelenkorthesen aufgezeigt werden. Alle in dieser Studie getesteten Orthesen wiesen deutliche Unterschiede auf, was sich auf ihre unterschiedlichen Bauweisen zurückführen lässt. Mit diesem Ansatz können Aussagen über die Stabilitätsfunktion von Sprunggelenkorthesen sowohl zu Qualitätssicherungszwecken als auch in der frühen Prototypenphase unter Alltagsbelastungen und unter extremen Einsatzbedingungen ohne Gefährdung von Probanden getroffen werden.
Herausforderungen bestehen bezüglich der Definition einer hinreichenden, aber zugleich auch repräsentativen Abbildung der individuellen Eigenschaften des Menschen. Das langfristige Ziel des vorgestellten Projekts ist die Standardisierung und die Definition normativer Festlegungen sowie die klinische Validierung des Prüfverfahrens. Auf diese Weise könnten technische Funktionsparameter, die durch ein mechanisches Testverfahren erhoben wurden, mit Ergebnissen aus klinischen Untersuchungen verglichen werden.
Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um das Testverfahren weiterzuentwickeln. Aufgrund des modularen Aufbaus des gesamten Teststands können realistische Testszenarien anhand individueller Aktivitätsprofile erstellt werden. Durch Variation mehrerer Parameter – beispielsweise Lastprofile, Geschwindigkeiten sowie Bewegungsumfang und Bewegungsrichtung – können verschiedene Einsatzszenarien abgebildet werden.
Hinweis
Diese Forschungsstudie wurde von der Firma NEA International B. V., Maastricht, Niederlande (Hersteller der Orthesen „Push Aequi“ und „Push Braces“) finanziert.
Erstveröffentlichung
Czapka P, Daub U, Schneider U. Neues Verfahren zur Funktionsprüfung von Sprunggelenksorthesen basierend auf einer modifizierten Prothesenfußprüfmaschine. Stuttgart: Fraunhofer IPA, 2019. doi: 10.24406/ipa-n-561797. https://publica.fraunhofer.de/eprints/urn_nbn_de_0011-n-5617974.pdf (Zugriff am 08.10.2021)
Für die Autoren:
Dr. med. Urs Schneider
Leiter der Abteilung „Biomechatronische
Systeme“, Fraunhofer-Institut für
Produktionstechnik
und Automatisierung
(Fraunhofer IPA)
Nobelstr. 12
70569 Stuttgart
urs.schneider@ipa.fraunhofer.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Czapka P, Daub U, Schneider U. Testverfahren zur Bewertung der Stabilitätsfunktion von Sprunggelenkorthesen. Orthopädie Technik, 2021; 72 (12): 36–39
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- Kapandji AI. Funktionelle Anatomie der Gelenke. Schematisierte und kommentierte Zeichnungen zur menschlichen Biomechanik. Band 2: Untere Extremität. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2015