In den vergangenen Jahrzehnten hat das Pendel von den konservativen Behandlungsformen zu chirurgischen Maßnahmen ausgeschlagen. Nach dem Ausloten der chirurgischen Behandlungsgrenzen wurden auch für die Orthesenversorgung die Indikationsgrenzen neu deniert. Die Meinungen von „Eminenzen“ wurden von den Regeln der evidenzbasierten Medizin (EBM) ersetzt. Die Standardisierung der Skoliosebehandlung reicht von der Indikationsstellung über die Korsettausführung bis hin zur Ergebniskontrolle. In dieser neuen Welt der Wissenschaft wird die Korsettbehandlung einer neuen Bewertung unterzogen. Die Resultate sind unter Akzeptierung der Indikationsgrenzen erstaunlich gut.
In diesem Sinne ist die Korsett-Therapie eine Erfolgsgeschichte mit einer Zukunft in der digitalen Welt von Artificial Intelligence (AI), mathematischen Modellberechnungen und der Produktion vielleicht aus dem 3D-Drucker.
Diagnostik first
Bei der Skoliosebehandlung steht eine differenzierte Diagnostik der Skolioseursache an erster Stelle. Die Bezeichnung „idiopathische“ Skoliose wird zu großzügig verwendet und trübt den Blick auf die zu erwartenden Erfolgsaussichten bei der Korsettbehandlung. Nicht jede Skoliose ist einer Korsettbehandlung zugänglich. Dies bei fehlenden Alternativen zu akzeptieren, fällt oft schwer. Das erste Korrekturergebnis im Korsett liefert dabei die entscheidende Antwort für die Vorhersage des Langzeitergebnisses. Nur wenn diese Fragen positiv beantwortbar sind, wird die Compliance der Patienten zum entscheidenden Faktor.
Die Skolioseursache wird in vielen Fällen als unbekannt und daher als idiopathisch bezeichnet. Diese wenig differenzierte Betrachtung führt zu einer großen Bandbreite von unterschiedlichen Progredienzverläufen mit schwer vorhersehbaren Behandlungsergebnissen. Eine einfache Differenzierung in intraspinale und extraspinale Ursachen führt dagegen bereits zu einer entscheidenden Verbesserung für die Vorhersage des Behandlungsverlaufes.
Das primäre Korrekturergebnis im Korsett wird als Maß für die Effektivität des Korsetts gewertet. Ein Korrekturausmaß von 40 bis 50 Prozent wird dabei als erster Hinweis auf ein langfristiges Verbesserungspotenzial gesehen und wird damit zum stärksten Motivator für die Compliance der Patienten. Dass dieses Ergebnis jedoch wieder stark von der Skolioseursache beeinflusst wird, ist selbsterklärend.
Zusammenwirken von Physiotherapie und Korsett
Die „begleitende“ Physiotherapie bildet die Basis jedes konservativen Behandlungskonzeptes, da es die Wirbelsäule beweglich und damit korrigierbar erhält. Ob die Physiotherapie die Korsettbehandlung in ihrer Effektivität unterstützt oder negative Begleiterscheinungen der Korsettbehandlung ausgleicht, liegt im Auge des Betrachters. Die Sichtweise, dass ein Korsett „nur“ die physiotherapeutischen Maßnahmen prolongiert, lässt so manchen Korrekturaufbau in einem neuen Licht erscheinen. Unstrittig ist das Zusammenwirken beider Behandlungsformen. Die Physiotherapie ist für die Aufrechterhaltung der Wirbelsäulenbeweglichkeit und damit Korrigierbarkeit essenziell. Das Korsett liefert einen passiven, aber auch aktiven Impuls für die Skoliosekorrektur und wirkt wachstumslenkend.
Essenzielle Compliance
Die Compliance der Tragedauer wird durch ihre Messbarkeit als ein Maß zur Beurteilung der Patienten herangezogen. Die Compliance wird aber gleichzeitig von vielen Faktoren beeinusst. Viele unterschiedliche Empfehlungen zum Thema der Korsetttragedauer, besonders im Internet, verunsichern die Patienten oder besser, sie wenden sich ihrer Wunschempfehlung zu.
Compliance betrifft aber auch die Behandler: Hat das medizinische System bei der Erstdiagnose bereits versagt oder wurde die Skoliose zeitgerecht erkannt? Wurde die Skolioseursache nach dem aktuellen Wissensstand abgeklärt? Erfolgt die Therapieempfehlung überzeugend und wird den Patienten schlüssig erklärt? Wurden die Lebensumstände der Patienten im Behandlungskonzept berücksichtigt und akzeptiert?
Nur wenn die Aussagen der Ärzte, Physiotherapeuten, Orthopädietechniker und Eltern im Einklang und überzeugend dargelegt werden, darf von den jugendlichen Patienten auch eine gute Compliance erwartet werden.
Rasante Entwicklung: Skoliosebehandlung in fünf Jahrzehnten
1970–1980
Am Beginn des Jahrzehnts bildet das Milwaukee-Korsett den Goldstandard und die physiotherapeutischen Übungen werden als Begleitbehandlung gesehen. Die 23-Stunden-Tragedauer wurde nicht in Frage gestellt. Physiotherapeutische Zentren wie die Katharina-Schroth-Klinik bieten bereits ein dynamisches Konzept an. Gegen Ende des Jahrzehnts kommt das Boston-Korsett, das von einem symmetrischen Modul ausgeht, auf den Markt. Das Charleston-Bending-Brace, als Umkrümmungs-Korsett aufgebaut und für die Nacht konzipiert, rüttelt am Dogma der 23-Stunden-Tragedauer.
1980–1990
Aus dieser Ära geht das Inspirations-Derotationskorsett von Jacques Cheneau hervor und findet rasche Verbreitung. Viele Entwicklungen nach vergleichbaren Konzepten kommen auf den Markt. Bedeutende Ärzte geben die Richtlinien vor. Es ist der Höhepunkt, aber auch der Anfang vom Ende der „eminenzbasierten“ Medizin. Parallel dazu entwickeln sich die Möglichkeiten der operativen Skoliosebehandlung rasant. Auch bei den Operateuren sind es klingende Namen, die das Behandlungskonzept vorgeben. Die Erkenntnis über den natürlichen Progredienzverlauf nach Wachstumsabschluss wird zum allgemein akzeptierten Behandlungsziel, d. h. verkürzt dargestellt: <50° Cobb-Winkel = Korsett und >50° Cobb-Winkel = Operation. Dies mit dem bekannten Graubereich, beeinflusst von vielen Begleitdiagnosen. 1(Abb. 1)
1990–2000
Es ist wohl das Jahrzehnt der Chirurgie. Wenn namhafte Orthopäden wie R. A. Dixon aus Leeds im Rahmen des Eurospine-Kongresses die Korsettbehandlung mit der Aussage: „Bracing is abuse of children“ herabwürdigen, dann bleibt für die Korsettbehandlung wenig Spielraum. Bei den internationalen Kongressen und in der wissenschaftlichen Literatur scheinen die Tage der Korsettbehandlung gezählt. Die ersten Anzeichen der „evidenzbasierten“ Medizin wurden zu lange negiert.
Alf Nachemson aus Göteborg ist es mit seiner Studie zu verdanken, dass ein Umdenken erfolgt und die konservativen Behandlungsformen einer neuen objektiven Bewertung unterzogen werden. Der Vergleich zwischen der natürlichen Progredienzentwicklung, der Korsettbehandlung und der Elektrostimulation führte zu einer Bestätigung für die Korsettbehandlung, aber zum Ende der Elektrostimulation als Behandlungsform. 2(Abb. 2)
Gegen Ende des Jahrzehnts wird die EBM mit dem Impact-Faktor der Zeitschrift, in der der Beitrag veröffentlicht wurde, zum alles entscheidenden Qualitätskriterium.
2000–2010
Die Antwort auf diese Entwicklung ist die Gründung der International Society on Scoliosis Orthopaedic and Rehabilitation Treatment (SOSORT), als Gesellschaft mit dem Fokus auf die konservative Skoliosebehandlung. Namen wie H.R. Weiß, M. Rigo, St. Negrini werden stellvertretend für diese neue Bewegung genannt. Die unermüdliche Arbeit an dem Thema und die wissenschaftliche Aufarbeitung werden zur Basis eines neuen Behandlungsverständnisses. Die Erstellung von wissenschaftlich fundierten Behandlungsrichtlinien wird zur entscheidenden Aufgabe. 3
In einer eigenen Arbeit zur Primärkorrektur im Korsett konnte ein Beitrag für die Bewertung der Korsettausführung geliefert werden. 4
2010–2020
Die Arbeit von S. Weinstein und L. Dolan von 2013 wird zur Zäsur für die Anerkennung der Korsettbehandlung. 5 (Abb. 3)
Die erste prospektive randomisierte Studie zum Thema der Korsettversorgung liefert neuen Schwung. Auch die Scoliosis Research Society (SRS) als von Wirbelsäulenchirurgen dominierte Gesellschaft widmet sich wieder den konservativen Behandlungsoptionen und die Zusammenarbeit der beiden Gesellschaften wird zunehmend intensiviert. Dabei wird die Physiotherapie ebenfalls zunehmend einer wissenschaftlichen Aufarbeitung unterworfen. Auch der psychischen Belastung der Patienten durch die Behandlung wird in standardisierten Fragebögen vermehrt Augenmerk geschenkt. 6
Zur Verringerung der Streubreite in der Korsettfertigung werden neue Methoden gesucht. M. Rigo entwickelt mit seiner Datenbank eine eigene Klassikation der Skolioseformen und Standardisierung des Korsettaufbaus. Zur Standardisierung der Versorgungsqualität geht erstmals C. Aubin einen Schritt weiter und liefert über Finite Elemente Methode (FEM) eine automatisierte Korrekturberechnung. Die Korsette aus dem 3D-Drucker stehen dabei noch am Beginn der Entwicklung.
Ein Blick in die Zukunft
Dies ist keine wissenschaftlich fundierte Abhandlung mehr, sondern ein aus der Berufserfahrung, von annähernd 50 Jahren, geprägter Beitrag. Die zuletzt aufgezeigten Projekte für eine Qualitätsstandardisierung und automatisierte Berechnung des Orthesendesigns erscheinen mir unaufhaltsam. Für die Diagnostik der Skoliose sehe ich noch deutliches Verbesserungspotenzial. Die Verfügbarkeit von MRI mit verbesserter Bildqualität, Upright-MRI, aber auch die Entwicklung der Videofunktion von Jens Frahm wecken hohe Erwartungen in die Zukunft. Die nahe Zukunft heißt vorerst noch AI, indem das Röntgen und damit der Cobb-Winkel automatisiert vermessen werden und damit Messunterschiede zwischen den Untersuchern ausgeglichen werden. Die Standardisierung der Messung wird zur Basis der Qualitätskontrolle. Die Bedeutung des Cobb-Winkels wird aber zugunsten der Oberflächensymmetrie als Erfolgskriterium abnehmen. Dies betrifft besonders auch die physiotherapeutischen Behandlungen. EBM ist nicht nur ein Schlagwort, sondern wird auch die Indikationsentscheidung prägen. Nur bei zu erwartendem Behandlungserfolg ist die Kostenübernahme zu rechtfertigen. Dies betrifft die Korsettbehandlung wie die Physiotherapie. Die Compliance richtet sich nicht mehr nur auf die Patienten, vielmehr werden die Behandler von Ärzten, Orthopädietechnikern und Physiotherapeuten nach messbaren Kriterien bewertet.
Erfolgsfaktor: Konsequente wissenschaftliche Beweisführung
Es ist wie ein kleines Wunder, dass es der konservativen Skoliosebehandlung gelungen ist, sich aus der Ablehnung der 90er-Jahre zu befreien. Die konsequente wissenschaftliche Beweisführung macht sich bezahlt. Diese wissenschaftliche Konsequenz ist auch für weitere orthopädietechnische Behandlungsformen zu fordern. Nur über diesen Weg wird es gelingen, den Stellenwert der Orthopädie-Technik zu erhalten. In diesem Sinne ist die Korsettbehandlung der letzten 50 Jahre eine Erfolgsgeschichte mit positiven Zukunftsaussichten.
Dr. Franz Landauer
SALK, Univ. Klinik für Orthopädie
und Traumatologie der PMU
Der Beitrag ist anlässlich der 65. Jahrestagung der Fortbildungsvereinigung für Orthopädie-Technik e. V. (FOT) im September 2021 in ähnlicher Form im Programmheft der Veranstaltung erschienen.
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- Austausch auf Augenhöhe — 8. Februar 2023
- Idiopathic Scoliosis Natural History; S.L. Weinstein, Spine Vol 11 Number 8, 1986
- Effectivity of brace treatment; A. Nachemson et al (J. Bone and Joint Surg., 77‑A:815–22, 1997.
- Indications for conservative management of scoliosis (guidelines) SOSORT guideline committee, Hans-Rudolf Weiss, Stefano Negrini, Manuel Rigo, Tomasz Kotwicki, Martha C Hawes, Theodoros B Grivas, Toru Maruyama and Franz Landauer; Scoliosis 2006, 1:5 doi:10.1186/1748–7161‑1–5.
- Estimating the nal outcome of brace treatment for idiopathic scoliosis at 6‑month follow up. Landauer F, Wimmer C, Behensky H. Pediatr Rehabil. 2003 Jul-Dec:6 (3–4) 201–7.
- Effects of bracing in adolescents with idiopathic scoliosis; Weinstein SL, Dolan LA, Wright JG, Dobbs MB; N Engl J Med. 2013 Oct 17; 369 (16): 1512–21.
- Team care to cure adolescents with braces (avoiding low quality of life, pain and bad compliance): a case-control retrospective study; Tavernaro M, Pellegrini A, Tessardi F, Zaina A, Negrini S.; Scoliosis 2012 Sep 20; 7 (1): 17. doi:10.1186/1748–7161‑7–17.