Ch. Dierckxsens:
Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben darüber hinaus besondere Anforderungen an ihren Arbeitsplatz und die damit einhergehenden Sitzlösungen. Eine adäquate (Steh-)Sitzlösung sollte daher je nach den Möglichkeiten des Einzelnen und den Anforderungen der jeweiligen Arbeitssituation ausgewählt werden, sodass eine aktive Sitzhaltung über den Arbeitstag hinweg eingehalten werden kann und die körperlichen Einschränkungen bei größtmöglicher Selbstständigkeit möglichst ausgeglichen werden.
Schlüsselwörter: Arbeitsplatz, Behinderung, Bürostuhl, Aufstehhilfe, Arthrodesenstuhl
Einleitung
Genügt ein gängiger Bürostuhl oder ein eigener Aktivrollstuhl in Kombination mit einer angepassten Arbeitshöhe als ergonomischer Arbeitsplatz im Büro für einen Menschen mit körperlichen Einschränkungen? Wie verhält es sich bei anderen Arbeitsplätzen? Die Gestaltung von Bürostühlen ist in zahlreichen DIN-Normen geregelt. Wenn es aber um die individuelle Gestaltung eines Arbeitsplatzes für Menschen mit körperlichen Einschränkungen geht, kann man nicht vom Standard ausgehen, denn diese Menschen haben besondere Anforderungen an ihren Arbeitsplatz.
Bei Bürotätigkeiten sitzt man viele Stunden am Stück. Bei Steh-Arbeitsplätzen kann durch verschiedenste körperliche Einschränkungen (Bandscheibenvorfall, Hüft-/Knieprobleme oder Muskelkrankheit) ein Stehstuhl oder Arbeitsstuhl notwendig werden. Arbeitgeber müssen laut dem Arbeitsschutzgesetz (§§ 3, 5 u. 6 ArbSchG) [1]1 sowie der Arbeitsstättenverordnung (§ 6 ArbStättV) [2]2 ihren Mitarbeitern stets einen ergonomischen Arbeitsplatz bieten, denn eine Fehlhaltung über längere Zeit kann negative Folgen für die Gesundheit haben [3]3. Insofern lohnt sich eine größtmögliche Ergonomie bei Sitzmöbeln sowohl für Mitarbeiter als auch für Firmen. Mit einer entsprechenden Investition lassen sich unter zwei Aspekten Kosten sparen: mehr Ausdauer und weniger Ausfall. Das gilt für Menschen mit und ohne körperliche Einschränkungen.
Die ideale Sitzhaltung
Die Sitzhaltung hat Einfluss darauf, wie jemand wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist Sitzen eine permanente Belastung für den Körper. Wie man sitzt, wird großenteils vorgegeben durch die Sitz- und Rückenpolster [3]4 des Arbeitsmobiliars, aber auch durch Körperform, Muskelkraft und Muskelkontrolle des Sitzenden. Dabei ist die ideale Sitzhaltung durchaus strittig: Jahrelang war die Ansicht vorherrschend, dass das Sitzen in aufrechter Haltung mit Hüften, Knien und Sprunggelenken im 90-Grad-Winkel die perfekte Sitzhaltung sei [4]5. Insbesondere bei Büroarbeiten tendiert der Oberkörper jedoch dazu, sich in Richtung Bildschirm oder Telefon zu neigen. Dann passiert es leicht, dass das Becken nach hinten wegkippt und der ganze Rücken in eine kyphotische Haltung verfällt, wodurch er stark belastet wird. Anatomisch lässt sich dies wie folgt erklären: Das Kreuzbein beeinflusst die Position des 5. (unteren) Lendenwirbels und damit die ganze Wirbelsäule [3]6. Im Gegenzug kann aber auch ein kyphotischer Oberrücken verursachen, dass das Becken nach hinten mitgezogen wird.
Sitzlösungen innerhalb eines ergonomischen Arbeitsplatzes
Gerade im Fachgebiet Orthopädie- und Reha-Technik gibt es bei optimalen Sitzlösungen mehr Ausnahmen als Standards. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Bengt Engström, Experte im Bereich „ergonomisches Sitzen“ und Mitentwickler der Sitzsysteme des Unternehmens, für das die Verfasserin tätig ist.
Bei einer aktiven Sitzhaltung wird die natürliche Form der Wirbelsäule unterstützt: Das Becken ist leicht nach vorn gekippt und hält die Wirbelsäule in einer leichten S‑Form; der Kopf befindet sich in Balance. Dadurch hat der Oberkörper volle Bewegungsfreiheit zum Arbeiten [3]7. Eine solche Haltung lässt sich erreichen, indem ein ergonomisch geformtes Sitzpolster bzw. Sitzkissen genutzt und die Sitzfläche etwas nach vorn gekippt wird [4]8. Die Armlehnen und/oder die Arbeitsfläche vor dem Körper geben Halt für die Arme und vermitteln auf diese Weise ein Gefühl der Sicherheit.
Allerdings ist eine solche aktive Sitzhaltung schon für gesunde Muskeln nur schwer durchzuhalten – umso mehr gilt dies, wenn die Muskelkraft nachlässt. Bei einer Beratung sollte eine solche Arbeitshaltung daher je nach den Möglichkeiten des Betreffenden und der Situation empfohlen werden; dabei muss Sicherheit stets gewährleistet sein. Um den Körper zu unterstützen bzw. so wenig wie möglich zu belasten, ist Bewegung unentbehrlich. Da aber Menschen mit körperlichen Einschränkungen sich oft nicht viel oder nicht so einfach bewegen können, ist eine verstellbare Sitzposition empfehlenswert. Auf diese Weise kann die aktive Sitzhaltung mit kurzen Entspannungsphasen kombiniert und den ganzen Tag aufrechterhalten werden. Zur Lösung der hier geschilderten Probleme kommen folgende Sitzsysteme in Betracht:
- Arbeitsstühle mit Feststellbremse für den Büro- oder einen anderen sitzenden Arbeitsplatz (auch in der Werkstatt für angepasste Arbeit)
- elektrisch fahrbare und höhenverstellbare Arbeitsstühle bzw. Indoor-Elektrorollstühle
- Arbeitsstühle mit elektrischer Aufstehhilfe
- Stehstühle für stehende Arbeitsplätze
- Arthrodesenstühle für Menschen mit einer Gelenkversteifung in Hüfte oder Knie
- Stühle bis zu 275 kg Nutzergewicht
- Stühle, angepasst an kleine Körpergrößen
Aspekte einer individuellen Beratung
Eine adäquate Beratung beginnt mit Fragen – zunächst muss festgestellt werden, was die Person möchte und was sie benötigt. Dazu ist eine Anamnese ihrer Möglichkeiten und Einschränkungen notwendig, zudem sollte sie eine Prognose zu ihrer näheren Zukunft abgeben. Die Vorgaben des Arbeitgebers, des Arbeitsumfeldes und/oder des Leistungsträgers sollten ebenso erfragt werden. Zwar sind die Möglichkeiten stets begrenzt – technisch und/oder finanziell –, aber man sollte zunächst immer offen in eine Beratung einsteigen. Im Folgenden werden einige zentrale Fragen im Rahmen einer Beratung für einen Arbeitsstuhl aufgeführt:
- Welche Tätigkeiten führen Sie aus bzw. werden Sie ausführen?
- Wo finden diese Tätigkeiten statt? Dabei sind auch Details wie die folgenden zu berücksichtigen:
• Wo steht der Drucker?
• Wo finden die Meetings statt?
• Bei einer Tätigkeit in der Industrie: Ist der Arbeitsplatz in der Fabrik immer derselbe oder müssen Sie das Band wechseln? - Wie findet der Transfer statt? Wie setzen Sie sich hin, und wie stehen Sie auf? Wird eine Feststellbremse für sicheren Transfer benötigt?
- Wie bewegen Sie sich auf der Arbeit von A nach B?
- Welche Möbel und Hilfsmittel nutzen Sie derzeit?
Auf diese Weise entsteht ein detailliertes Bild davon, welches Hilfsmittel benötigt wird; körperliche Einschränkungen sollen mit dem Hilfsmittel möglichst ausgeglichen werden.
Sobald feststeht, dass ein bestimmter Arbeitsstuhl grundsätzlich geeignet ist, die Einschränkungen der Person auszugleichen, wird die Konfiguration des Stuhls für den Antrag beim Kostenträger oder für das Angebot an einen Arbeitgeber individuell zusammengestellt. Dabei wird festgelegt, welcher Stuhl, welche Rollen und welche Bremse, welche Verstellvariante (elektrisch oder mechanisch) und welche Sitzelemente für welches Nutzergewicht die geeigneten Komponenten sind – alles nach Möglichkeit klar begründet. Im Folgenden werden anhand dreier Praxisbeispiele verschiedene Versorgungslösungen vorgestellt.
Praxisbeispiele
Beispiel 1: Herr R. (Glasknochen, Körpergröße: 80 cm, Alter: 35 Jahre)
Herr R. leidet an Osteogenesis imperfecta („Glasknochenkrankheit“) und ist 80 cm groß. Bisher hat er im Aktivrollstuhl seinen Bürojob ausgeführt. Er kontaktierte das Unternehmen der Verfasserin im Jahr 2017 auf der Messe Rehacare, als er auf der Suche nach einer besseren Sitzlösung war. Es wurde ein Stuhl ausgewählt (Real 9000 Plus „Mercado-Stuhl“), der an die Erfordernisse der Person und die vorhandene Situation angepasst wurde (angepasster Tisch und eigener Drucker auf Arbeitshöhe; Abb. 1 u. 2) [5]9. Im Anschluss wurde Herr R. bezüglich seiner Zufriedenheit mit der neuen Sitzlösung am Arbeitsplatz befragt. Das Interview wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
Wie lange am Tag sitzen Sie in Ihrem Aktivrollstuhl und wie lange im Arbeitsstuhl?
An einem klassischen Arbeitstag am PC sitze ich etwa sieben Stunden auf dem „Mercado-Stuhl“, lediglich die restliche Zeit, also in der Mittagspause und zu Hause, im Aktivrollstuhl.
Welche Unterschiede stellen Sie zwischen dem Aktivrollstuhl und dem Arbeitsstuhl fest?
Im „Mercado-Stuhl“ habe ich eine gerade Sitzhaltung, und die Position der Füße auf dem Fußbrett ist im rechten Winkel. Dazu kann ich die Arme genau auf der richtigen Höhe „ablegen“, was im Rollstuhl nicht möglich ist, da die Seitenteile dafür zu hoch sind. Zum Bewegen und „Aktivsein“ sind diese aber genau richtig, um mir den nötigen Seitenhalt zu geben und fahren zu können. Deswegen ist im Rollstuhl auch die Rückenlehne niedriger – sie unterstützt nur so viel wie unbedingt erforderlich. Am Schreibtisch benötige ich jedoch eine ruhige Sitzposition, um mich bei längeren Dokumentationen oder Telefonaten konzentrieren zu können. Das Sitzpolster ist zudem angenehm weich.
Beispiel 2: Frau S. (Glasknochen; Körpergröße: 111 cm; Alter: 36 Jahre)
Auch Frau S. kam anlässlich der Rehacare in Kontakt mit dem Unternehmen. Gleich bei der ersten Sitzprobe auf dem Messestand fand sie die richtige Sitzhaltung für ihre Büroarbeit. Ihr Antrag auf einen Indoor-Elektrorollstuhl mit elektrischer Höhenverstellung wurde genehmigt. Insbesondere die Erfahrung, zum ersten Mal allein etwas einscannen zu können, unabhängig von der Hilfe ihrer Kolleginnen und Kollegen, schildert sie als großen Zugewinn ihrer neuen Sitzlösung (Abb. 3 u. 4).
Beispiel 3: Herr A. (Kinderlähmung, Alter: 49 Jahre)
Herr A. ist Kundenberater bei einer Auto-Umbau-Firma, die Umbauten für Menschen mit körperlichen Einschränkungen fertigt. Er ist der Verfasserin seit 2009 bekannt – zu dieser Zeit konnte er noch einige Schritte gehen, heute jedoch nicht mehr. Herr A. hält sich bei der Arbeit abwechselnd im Büro, im Empfangsraum mit Kunden oder in der Werkstatt auf. Dazu nutzt er seinen Aktivrollstuhl, auf dessen Mobilität er nicht verzichten möchte. Testweise wurde ihm dennoch ein Arbeitsstuhl zur Verfügung gestellt, um zu ermitteln, ob hierdurch eine bessere Sitzposition erreichbar wäre (Abb. 5 und 6). Tatsächlich ist beim Sitzen im Aktivrollstuhl zu erkennen, dass sein Becken nach hinten kippt, wenn er am Telefon bzw. am Computer arbeitet. Das Sitzen auf dem Arbeitsstuhl ist für Herrn A. zwar ungewohnt, aber es ist deutlich erkennbar, dass sein Becken in einer anatomisch günstigeren Position gehalten wird.
Die Beispiele dokumentieren, dass es auf die jeweiligen Umstände und Voraussetzungen der zu versorgenden Personen ankommt, die eine gesonderte Sitzlösung für den Arbeitsplatz geraten erscheinen lassen oder nicht. Insbesondere bestehen nicht selten Zielkonflikte zwischen größtmöglichem Aktivitätsradius und einer optimalen Sitzhaltung.
Fazit
Die Sitzsituation im Aktivrollstuhl unterscheidet sich deutlich von der Sitzhaltung am Bürotisch. Beide Situationen stellen somit verschiedene Ansprüche an das Hilfsmittel. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen werden auch bei stehenden Tätigkeiten oft spezielle Stühle bzw. Stehstühle benötigt. Es sollte offen darüber beraten werden, wie die körperlichen Einschränkungen bei den auszuführenden Tätigkeiten ausgeglichen werden können. Es darf dabei aber nicht nur die Ergonomie im Vordergrund stehen, sondern vor allem größtmögliche Selbstständigkeit.
Interessenkonflikt
Die Autorin Charlotte Dierckxsens ist als Vertriebsleiterin bei Mercado Medic Deutschland tätig.
Die Autorin:
Charlotte Dierckxsens
Vertriebsleiterin
Mercado Medic Deutschland GmbH
Augustinusstraße 11e
50226 Frechen-Königsdorf
charlotte@mercadomedic.de
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- Engström B. Ergonomic seating. A true challenge. Wheelchair seating & mobility principles. Stallarholmen (Sweden): Posturalis Books, 2002
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- Mandal AC. Balanced sitting posture on forward sloping seat. http://www.acmandal.com/ (Zugriff am 20.03.2019)
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- https://www.youtube.com/watch?v=uYFGuIST3bs