Einige Monate später Ortsbesuch in Bad Rothenfelde, gelegen an der Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen im Landkreis Osnabrück. Hier im Kurort mit dem Teutoburger Wald vor der Haustür wirkt Greitemann seit der Eröffnung 1994 als Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am Reha-Klinikum. Während der Prof. Dr. med. Dipl. oec. noch auf Visite ist, lassen sich an den Wänden im Wartebereich nach Jahrgängen geordnet die Notationen seiner Fachpublikationen studieren. Im Arbeitszimmer zeugen gerahmte Fotos von besonderen Anlässen wie Greitemanns Teilnahme an einer deutschen Delegation in China im Rahmen eines Austausches der Sanitätsdienste der Streitkräfte.
„Die drei Jahre hier mache ich auf jeden Fall noch voll“, setzt Bernhard Greitemann gleich zu Beginn des Gesprächs quasi ungefragt ein Statement, um dem Eindruck zuvorzukommen, mit dem Abschied vom VTO-Vorsitz bereite er seinen beruflichen Ausstieg vor. Hier und da ein Amt abgeben, Umbrüche einleiten und der „jungen Garde“ mehr Verantwortung übergeben, das ja. Aber Greitemann liegt die Technische Orthopädie, die er in den vergangenen mehr als drei Jahrzehnten mit seinem Engagement maßgeblich geprägt hat, viel zu sehr am Herzen, als dass er „sich auf die Schnelle“ aus der Verantwortung ziehen würde.
Vortrag mit Folgen
1958 in Attendorn im Kreis Olpe geboren, zieht es den jungen „Bernd“, wie Freunde ihn nennen, nach dem Abitur zum Studium nach Köln (Humanmedizin) und Chur in der Schweiz (Gesundheitsökonomie). In Ulm folgt 1985 die Promotion über „Die Extensionstherapie in der Behandlung operativ und konservativ behandelter Patienten mit Lendenwirbelbeschwerden“. Nacht- und Notfalldienste in der Gelsenkirchener Unfallchirurgie sind Mitte der 1980er einerseits entbehrungsreiche Jahre, bieten aber auch überdurchschnittlich Gelegenheit am OP-Tisch zu lernen. Während Deutschland sich der Wiedervereinigung nähert, ist der ambitionierte Skisportler Greitemann drauf und dran eine eigene Praxis zu eröffnen. Lizenz und Räumlichkeiten sind bereits gesichert, als ein Vortrag Greitemanns in Münster zur Baker-Zyste am Knie für eine folgenreiche Wendung im beruflichen Werdegang sorgt. Denn im Publikum sitzt mit René Baumgartner einer der wegweisendsten Protagonisten der Technischen Orthopädie, dem gefällt, was er hört. Der gebürtige Schweizer ist zu der Zeit Inhaber des Lehrstuhls für Technische Orthopädie und Rehabilitation an der WWU in Münster und macht Greitemann zum Oberarzt an seiner Klinik für Allgemeine Orthopädie. „Die Technische Orthopädie, abgekürzt TO, wurde unter den Ärzten immer als ‚T0‘– also ausgemustert bei der Bundeswehr – verballhornt. Das hat Baumgartner immer sehr geärgert“, erinnert sich Greitemann schmunzelnd. Finanziell ist das damalige Angebot nicht die erste Wahl, aber Prof. Dr. Baumgartner unterstützt Greitemann leidenschaftlich auf dem Weg zu dessen geplanter Habilitation („Asymmetrie der Haltung und der Rumpfmuskulatur nach einseitiger Armamputation und deren Auswirkungen auf die Statik“) und sorgt dafür, dass dieser auf dem Weg zum Abschluss regelmäßig zwischen 3 und 5.30 Uhr in der Früh den rechenleistungsstarken Computer der Universität nutzen darf.
Und dann kommt selbstredend noch die Arbeit mit den Patient:innen hinzu, wie Greitemann betont: „Sie kriegen nichts Dankbareres als Rheuma- und Amputationspatienten.“ In dieser Phase lernt Greitemann auch verstärkt die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Akteur:innen der Gesundheitsversorgung zu schätzen, für die er sich fortan wie kaum ein anderer in verschiedenen Fachgesellschaften stark macht.
Auf eine Studienreise folgt die Initiative ’93
In die Zeit der Habilitation und der Übernahme der Ärztlichen Leitung in Bad Rothenfelde fällt der Kongress der Internationalen Gesellschaft für Prothetik und Orthetik (ISPO) in Chicago. Eine Reisegruppe um Baumgartner, Georg Neff, Andreas Bernau, Stefan Schüling und Greitemann entwickelt am Rande des Kongresses ein Konzept zur Sicherung der Technischen Orthopädie in Deutschland, dass in der Initiative ´93 TO als Sektion in der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC, heute DGOU) mündet. Ziel der Gruppe ist es, den Lehrstuhl in Münster zu erhalten und Kurse zur Technischen Orthopädie in den Ärzteverbänden weitreichender zu verankern. Am Lehrstuhl der TO folgt auf den emeritierten Prof. Baumgartner 1994 in Münster Hans Henning Wetz. Greitemann engagiert sich Mitte der 1990er-Jahre im besonderen Maße für den Ausbau der Praxiskurse TO und organisiert zu Übungszwecken sogar kurzerhand Schweinebeine aus dem Schlachthof. Er tritt 1995 dem Normausschuss der ISO DIN bei und hält neben seiner Direktortätigkeit in Bad Rothenfelde unermüdlich Vorträge. In Kladden, die heute gut aufbewahrt im heimischen Keller lagern, wird jeder einzelne Beitrag präzise notiert. Bis in die Gegenwart sind mehr als 1.300 Vorträge festgehalten.
Das Gespräch am Reha-Klinikum kommt an diesem Tag nur kurz auf die Gründung der VTO im Jahr 2007 zu sprechen. Es stellt sich aber an dieser Stelle einmal mehr die Bedeutung der für Greitemann so wichtigen interdisziplinären Zusammenarbeit heraus, denn die VTO verfolgt primär den Ansatz, dass sich auch nicht-ärztliche Berufsgruppen fortan strukturiert auf Gremienebene mit Mediziner:innen austauschen können. Für die Kongresspräsidentschaft des OTWorld-Vorgängers „Orthopädie- und Reha-Technik“ ist Bernhard Greitemann 2012 ein mehr als prädestinierter Protagonist. Schließlich ist es auch keine Überraschung, dass ihm zwei Jahre später für sein „unermüdliches Engagement für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Berufsgruppen bei der Versorgung der Patienten“ vom Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) die hoch renommierte Heine-Hessing-Medaille verliehen wird. Im selben Jahr erscheint unter seiner Mitherausgeberschaft das vom Fachbeirat TO initiierte Weißbuch „Rahmenbedingungen und Strukturen der Technischen Orthopädie in Deutschland“. Dass sich der Fachbeirat 2017 proaktiv auflöst und als Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) neu aufstellt, begrüßt Greitemann sehr. Durch diesen Schritt kann die unabhängige Arbeit über die Berufszweige hinweg im Sinne einer bestmöglichen Patientenversorgung eindeutiger herausgestellt werden und er als Mediziner bringt sich an der Seite von Klaus Jürgen Lotz als stellvertretender Vorsitzender tatkräftig mit ein.
Als im Jahr darauf Prof. Baumgartner im Alter von 88 Jahren verstirbt, nimmt sich Bernhard Greitemann dessen publizistischen Erbes an: „Es liegt mir sehr am Herzen, Renés Lebenswerk ‚Amputation und Prothesenversorgung‘ in seinem Sinne weiterzuführen, wie auch unser gemeinsames Buch zum ‚Grundkurs Technische Orthopädie‘.“ Der Lehrstuhl TO in Münster ist zu diesem Zeitpunkt nach dem altersbedingten Ausscheiden von Prof. Dr. Wetz bereits in der Sektion Tumororthopädie am Universitätsklinikum aufgegangen. Für Bernhard Greitemann eine unglückliche Entwicklung, der er aber sogleich den Aufbau der Privaten Hochschule in Göttingen positiv entgegenstellt. Ohnehin versteht es Greitemann, die sich verändernden Rahmenbedingungen im Fach anzuerkennen und sein Engagement kontinuierlich an vielen Stellen fortzuführen. Bei der Bundeswehr gestaltet er etwa aktiv ein Konzept zur Rehabilitation von Versehrten aus Kriegseinsätzen mit und lässt es sich nicht nehmen, in der Internationalen Gesellschaft für Prothetik und Orthetik (ISPO) Deutschland den Vorstandsvorsitz zu übernehmen. „Ich habe nie Probleme damit, Kompromisse einzugehen“, entgegnet Greitemann auf die Nachfrage zu seinem „Erfolgsgeheimnis“, in der umfassenden und mitunter kräftezehrenden Gremienarbeit die eigenen Ansichten durchzubringen.
Präsenz auf Ärztekongressen trägt Früchte
Sowohl die Überzeugungsarbeit in den Fachgesellschaften als auch die seit Jahren stete Präsenz mit dem Tag der Technischen Orthopädie auf den maßgeblichen Ärztekongressen der Orthopädie und Unfallchirurgie haben nach Ansicht von Prof. Dr. Greitemann in Medizinerkreisen im besten Sinne ihre Wirkung hinterlassen. Neben den bereits genannten Standorten Ulm, Göttingen und Münster kommt die Technische Orthopädie u. a., am unfallchirurgischen Lehrstuhl an der Medizinischen Hochschule in Hannover, in Mainz, am BG Klinikum in Halle an der Saale oder mit der speziellen Versorgung des Diabetischen Fußsyndroms am Universitätsklinikum Bonn, um nur einige Beispiele zu nennen, verstärkt zur Geltung. An den BG-Standorten wie Frankfurt, Hamburg, Berlin, Duisburg, Murnau oder Ludwigshafen sind bereits ähnliche Fokussierungen vorhanden bzw. in der Planung, so auch unter Mitwirkung von Greitemann am Klinikum Osnabrück. „Es wächst jetzt was“, zeigt sich Greitemann mit der aktuellen Entwicklung zufrieden. Wissenschaftliche Räume und personelle wie finanzielle Ressourcen seien unerlässlich, um die TO mit dem technologischen Fortschritt Schritt halten zu lassen. Hier sieht er das Fach etwa bei der Entwicklung der Chipsteuerung oder im Bereich Bionics einem spannenden und richtungsweisenden Wandel ausgesetzt.
War der Abschied von der VTO-Spitze zunächst ein vermeintlicher Anlass für ein Revue passieren lassen, so ist im Verlauf des Gesprächs in Bad Rothenfelde vor allem eins klar geworden: Bernhard Greitemann muss nicht zwingend in der ersten Reihe stehen, um die Entwicklung der Technischen Orthopädie in der Gesundheitsversorgung auch zukünftig aktiv und maßgeblich mitzugestalten. Neue Pläne warten nur darauf, aus der Schublade gezogen zu werden. Für die TO eine gute Nachricht.
Michael Blatt
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