Bern­hard Grei­temann – Im Diens­te der Tech­ni­schen Orthopädie

Es ist ein auf den ersten Blick unscheinbarer Freitag Mitte Oktober 2021. Die Vereinigung Technische Orthopädie e. V. (VTO) hat zur virtuellen Mitgliederversammlung geladen. Auf der Tagesordnung steht die turnusmäßige Neuwahl des Vorstands – verbunden mit einer signifikanten Besonderheit: Der langjährige 1. Vorsitzende Bernhard Greitemann hat sich nicht mehr zur Wiederwahl gestellt. „Die Führung der VTO habe ich ganz bewusst und zielgerichtet weitergegeben“, erklärt Greitemann seine Entscheidung und ergänzt verschmitzt mit einer gehörigen Portion Understatement: „Ich möchte nicht die lahme Ente sein, die am Ende alles blockiert.“

Eini­ge Mona­te spä­ter Orts­be­such in Bad Rothen­fel­de, gele­gen an der Lan­des­gren­ze zwi­schen Nie­der­sach­sen und Nord­rhein-West­fa­len im Land­kreis Osna­brück. Hier im Kur­ort mit dem Teu­to­bur­ger Wald vor der Haus­tür wirkt Grei­temann seit der Eröff­nung 1994 als Ärzt­li­cher Direk­tor der Kli­nik Müns­ter­land am Reha-Kli­ni­kum. Wäh­rend der Prof. Dr. med. Dipl. oec. noch auf Visi­te ist, las­sen sich an den Wän­den im War­te­be­reich nach Jahr­gän­gen geord­net die Nota­tio­nen sei­ner Fach­pu­bli­ka­tio­nen stu­die­ren. Im Arbeits­zim­mer zeu­gen gerahm­te Fotos von beson­de­ren Anläs­sen wie Grei­temanns Teil­nah­me an einer deut­schen Dele­ga­ti­on in Chi­na im Rah­men eines Aus­tau­sches der Sani­täts­diens­te der Streitkräfte.

Anzei­ge

„Die drei Jah­re hier mache ich auf jeden Fall noch voll“, setzt Bern­hard Grei­temann gleich zu Beginn des Gesprächs qua­si unge­fragt ein State­ment, um dem Ein­druck zuvor­zu­kom­men, mit dem Abschied vom VTO-Vor­sitz berei­te er sei­nen beruf­li­chen Aus­stieg vor. Hier und da ein Amt abge­ben, Umbrü­che ein­lei­ten und der „jun­gen Gar­de“ mehr Ver­ant­wor­tung über­ge­ben, das ja. Aber Grei­temann liegt die Tech­ni­sche Ortho­pä­die, die er in den ver­gan­ge­nen mehr als drei Jahr­zehn­ten mit sei­nem Enga­ge­ment maß­geb­lich geprägt hat, viel zu sehr am Her­zen, als dass er „sich auf die Schnel­le“ aus der Ver­ant­wor­tung zie­hen würde.

Vor­trag mit Folgen

1958 in Atten­dorn im Kreis Olpe gebo­ren, zieht es den jun­gen „Bernd“, wie Freun­de ihn nen­nen, nach dem Abitur zum Stu­di­um nach Köln (Human­me­di­zin) und Chur in der Schweiz (Gesund­heits­öko­no­mie). In Ulm folgt 1985 die Pro­mo­ti­on über „Die Exten­si­ons­the­ra­pie in der Behand­lung ope­ra­tiv und kon­ser­va­tiv behan­del­ter Pati­en­ten mit Len­den­wir­bel­be­schwer­den“. Nacht- und Not­fall­diens­te in der Gel­sen­kir­che­ner Unfall­chir­ur­gie sind Mit­te der 1980er einer­seits ent­beh­rungs­rei­che Jah­re, bie­ten aber auch über­durch­schnitt­lich Gele­gen­heit am OP-Tisch zu ler­nen. Wäh­rend Deutsch­land sich der Wie­der­ver­ei­ni­gung nähert, ist der ambi­tio­nier­te Ski­sport­ler Grei­temann drauf und dran eine eige­ne Pra­xis zu eröff­nen. Lizenz und Räum­lich­kei­ten sind bereits gesi­chert, als ein Vor­trag Grei­temanns in Müns­ter zur Bak­er-Zys­te am Knie für eine fol­gen­rei­che Wen­dung im beruf­li­chen Wer­de­gang sorgt. Denn im Publi­kum sitzt mit René Baum­gart­ner einer der weg­wei­sends­ten Prot­ago­nis­ten der Tech­ni­schen Ortho­pä­die, dem gefällt, was er hört. Der gebür­ti­ge Schwei­zer ist zu der Zeit Inha­ber des Lehr­stuhls für Tech­ni­sche Ortho­pä­die und Reha­bi­li­ta­ti­on an der WWU in Müns­ter und macht Grei­temann zum Ober­arzt an sei­ner Kli­nik für All­ge­mei­ne Ortho­pä­die. „Die Tech­ni­sche Ortho­pä­die, abge­kürzt TO, wur­de unter den Ärz­ten immer als ‚T0‘– also aus­ge­mus­tert bei der Bun­des­wehr – ver­ball­hornt. Das hat Baum­gart­ner immer sehr geär­gert“, erin­nert sich Grei­temann schmun­zelnd. Finan­zi­ell ist das dama­li­ge Ange­bot nicht die ers­te Wahl, aber Prof. Dr. Baum­gart­ner unter­stützt Grei­temann lei­den­schaft­lich auf dem Weg zu des­sen geplan­ter Habi­li­ta­ti­on („Asym­me­trie der Hal­tung und der Rumpf­mus­ku­la­tur nach ein­sei­ti­ger Arm­am­pu­ta­ti­on und deren Aus­wir­kun­gen auf die Sta­tik“) und sorgt dafür, dass die­ser auf dem Weg zum Abschluss regel­mä­ßig zwi­schen 3 und 5.30 Uhr in der Früh den rechen­leis­tungs­star­ken Com­pu­ter der Uni­ver­si­tät nut­zen darf.

Und dann kommt selbst­re­dend noch die Arbeit mit den Patient:innen hin­zu, wie Grei­temann betont: „Sie krie­gen nichts Dank­ba­re­res als Rheu­ma- und Ampu­ta­ti­ons­pa­ti­en­ten.“ In die­ser Pha­se lernt Grei­temann auch ver­stärkt die inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Akteur:innen der Gesund­heits­ver­sor­gung zu schät­zen, für die er sich fort­an wie kaum ein ande­rer in ver­schie­de­nen Fach­ge­sell­schaf­ten stark macht.

Auf eine Stu­di­en­rei­se folgt die Initia­ti­ve ’93

In die Zeit der Habi­li­ta­ti­on und der Über­nah­me der Ärzt­li­chen Lei­tung in Bad Rothen­fel­de fällt der Kon­gress der Inter­na­tio­na­len Gesell­schaft für Pro­the­tik und Orthe­tik (ISPO) in Chi­ca­go. Eine Rei­se­grup­pe um Baum­gart­ner, Georg Neff, Andre­as Ber­nau, Ste­fan Schü­ling und Grei­temann ent­wi­ckelt am Ran­de des Kon­gres­ses ein Kon­zept zur Siche­rung der Tech­ni­schen Ortho­pä­die in Deutsch­land, dass in der Initia­ti­ve ´93 TO als Sek­ti­on in der Deut­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie (DGOOC, heu­te DGOU) mün­det. Ziel der Grup­pe ist es, den Lehr­stuhl in Müns­ter zu erhal­ten und Kur­se zur Tech­ni­schen Ortho­pä­die in den Ärz­te­ver­bän­den weit­rei­chen­der zu ver­an­kern. Am Lehr­stuhl der TO folgt auf den eme­ri­tier­ten Prof. Baum­gart­ner 1994 in Müns­ter Hans Hen­ning Wetz. Grei­temann enga­giert sich Mit­te der 1990er-Jah­re im beson­de­ren Maße für den Aus­bau der Pra­xis­kur­se TO und orga­ni­siert zu Übungs­zwe­cken sogar kur­zer­hand Schwei­ne­bei­ne aus dem Schlacht­hof. Er tritt 1995 dem Nor­maus­schuss der ISO DIN bei und hält neben sei­ner Direk­tor­tä­tig­keit in Bad Rothen­fel­de uner­müd­lich Vor­trä­ge. In Klad­den, die heu­te gut auf­be­wahrt im hei­mi­schen Kel­ler lagern, wird jeder ein­zel­ne Bei­trag prä­zi­se notiert. Bis in die Gegen­wart sind mehr als 1.300 Vor­trä­ge festgehalten.

Das Gespräch am Reha-Kli­ni­kum kommt an die­sem Tag nur kurz auf die Grün­dung der VTO im Jahr 2007 zu spre­chen. Es stellt sich aber an die­ser Stel­le ein­mal mehr die Bedeu­tung der für Grei­temann so wich­ti­gen inter­dis­zi­pli­nä­ren Zusam­men­ar­beit her­aus, denn die VTO ver­folgt pri­mär den Ansatz, dass sich auch nicht-ärzt­li­che Berufs­grup­pen fort­an struk­tu­riert auf Gre­mi­e­ne­be­ne mit Mediziner:innen aus­tau­schen kön­nen. Für die Kon­gress­prä­si­dent­schaft des OTWorld-Vor­gän­gers „Ortho­pä­die- und Reha-Tech­nik“ ist Bern­hard Grei­temann 2012 ein mehr als prä­de­sti­nier­ter Prot­ago­nist. Schließ­lich ist es auch kei­ne Über­ra­schung, dass ihm zwei Jah­re spä­ter für sein „uner­müd­li­ches Enga­ge­ment für eine inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit aller Berufs­grup­pen bei der Ver­sor­gung der Pati­en­ten“ vom Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) die hoch renom­mier­te Hei­ne-Hes­sing-Medail­le ver­lie­hen wird. Im sel­ben Jahr erscheint unter sei­ner Mit­her­aus­ge­ber­schaft das vom Fach­bei­rat TO initi­ier­te Weiß­buch „Rah­men­be­din­gun­gen und Struk­tu­ren der Tech­ni­schen Ortho­pä­die in Deutsch­land“. Dass sich der Fach­bei­rat 2017 pro­ak­tiv auf­löst und als Deut­sche Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung e. V. (DGIHV) neu auf­stellt, begrüßt Grei­temann sehr. Durch die­sen Schritt kann die unab­hän­gi­ge Arbeit über die Berufs­zwei­ge hin­weg im Sin­ne einer best­mög­li­chen Pati­en­ten­ver­sor­gung ein­deu­ti­ger her­aus­ge­stellt wer­den und er als Medi­zi­ner bringt sich an der Sei­te von Klaus Jür­gen Lotz als stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der tat­kräf­tig mit ein.

Als im Jahr dar­auf Prof. Baum­gart­ner im Alter von 88 Jah­ren ver­stirbt, nimmt sich Bern­hard Grei­temann des­sen publi­zis­ti­schen Erbes an: „Es liegt mir sehr am Her­zen, Renés Lebens­werk ‚Ampu­ta­ti­on und Pro­the­sen­ver­sor­gung‘ in sei­nem Sin­ne wei­ter­zu­füh­ren, wie auch unser gemein­sa­mes Buch zum ‚Grund­kurs Tech­ni­sche Ortho­pä­die‘.“ Der Lehr­stuhl TO in Müns­ter ist zu die­sem Zeit­punkt nach dem alters­be­ding­ten Aus­schei­den von Prof. Dr. Wetz bereits in der Sek­ti­on Tumor­or­tho­pä­die am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum auf­ge­gan­gen. Für Bern­hard Grei­temann eine unglück­li­che Ent­wick­lung, der er aber sogleich den Auf­bau der Pri­va­ten Hoch­schu­le in Göt­tin­gen posi­tiv ent­ge­gen­stellt. Ohne­hin ver­steht es Grei­temann, die sich ver­än­dern­den Rah­men­be­din­gun­gen im Fach anzu­er­ken­nen und sein Enga­ge­ment kon­ti­nu­ier­lich an vie­len Stel­len fort­zu­füh­ren. Bei der Bun­des­wehr gestal­tet er etwa aktiv ein Kon­zept zur Reha­bi­li­ta­ti­on von Ver­sehr­ten aus Kriegs­ein­sät­zen mit und lässt es sich nicht neh­men, in der Inter­na­tio­na­len Gesell­schaft für Pro­the­tik und Orthe­tik (ISPO) Deutsch­land den Vor­stands­vor­sitz zu über­neh­men. „Ich habe nie Pro­ble­me damit, Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen“, ent­geg­net Grei­temann auf die Nach­fra­ge zu sei­nem „Erfolgs­ge­heim­nis“, in der umfas­sen­den und mit­un­ter kräf­te­zeh­ren­den Gre­mi­en­ar­beit die eige­nen Ansich­ten durchzubringen.

Prä­senz auf Ärz­te­kon­gres­sen trägt Früchte

Sowohl die Über­zeu­gungs­ar­beit in den Fach­ge­sell­schaf­ten als auch die seit Jah­ren ste­te Prä­senz mit dem Tag der Tech­ni­schen Ortho­pä­die auf den maß­geb­li­chen Ärz­te­kon­gres­sen der Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie haben nach Ansicht von Prof. Dr. Grei­temann in Medi­zi­ner­krei­sen im bes­ten Sin­ne ihre Wir­kung hin­ter­las­sen. Neben den bereits genann­ten Stand­or­ten Ulm, Göt­tin­gen und Müns­ter kommt die Tech­ni­sche Ortho­pä­die u. a., am unfall­chir­ur­gi­schen Lehr­stuhl an der Medi­zi­ni­schen Hoch­schu­le in Han­no­ver, in Mainz, am BG Kli­ni­kum in Hal­le an der Saa­le oder mit der spe­zi­el­len Ver­sor­gung des Dia­be­ti­schen Fuß­syn­droms am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Bonn, um nur eini­ge Bei­spie­le zu nen­nen, ver­stärkt zur Gel­tung. An den BG-Stand­or­ten wie Frank­furt, Ham­burg, Ber­lin, Duis­burg, Mur­nau oder Lud­wigs­ha­fen sind bereits ähn­li­che Fokus­sie­run­gen vor­han­den bzw. in der Pla­nung, so auch unter Mit­wir­kung von Grei­temann am Kli­ni­kum Osna­brück. „Es wächst jetzt was“, zeigt sich Grei­temann mit der aktu­el­len Ent­wick­lung zufrie­den. Wis­sen­schaft­li­che Räu­me und per­so­nel­le wie finan­zi­el­le Res­sour­cen sei­en uner­läss­lich, um die TO mit dem tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt Schritt hal­ten zu las­sen. Hier sieht er das Fach etwa bei der Ent­wick­lung der Chip­steue­rung oder im Bereich Bio­nics einem span­nen­den und rich­tungs­wei­sen­den Wan­del ausgesetzt.

War der Abschied von der VTO-Spit­ze zunächst ein ver­meint­li­cher Anlass für ein Revue pas­sie­ren las­sen, so ist im Ver­lauf des Gesprächs in Bad Rothen­fel­de vor allem eins klar gewor­den: Bern­hard Grei­temann muss nicht zwin­gend in der ers­ten Rei­he ste­hen, um die Ent­wick­lung der Tech­ni­schen Ortho­pä­die in der Gesund­heits­ver­sor­gung auch zukünf­tig aktiv und maß­geb­lich mit­zu­ge­stal­ten. Neue Plä­ne war­ten nur dar­auf, aus der Schub­la­de gezo­gen zu wer­den. Für die TO eine gute Nachricht.

Micha­el Blatt

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