Die 50. Jahrestagung der American Academy of Orthotists and Prosthetists (AAOP) vom 5. bis 9. März 2024 in Chicago, USA, war ein herausragendes Ereignis für die orthopädietechnische Gemeinschaft. Die Veranstaltung markierte einen bedeutenden Meilenstein, da sie eine Plattform für einen intensiven Wissenstransfer zwischen US-amerikanischen und deutschen Experten bot, unterstützt durch ein deutsch-amerikanisches Austauschprogramm in Zusammenarbeit mit der Confairmed und der AAOP.
Das wissenschaftliche Programm war äußerst vielfältig und beinhaltete faszinierende Sitzungen und unter anderem einen praktischen Workshop, in denen Experten aus beiden Ländern ihre neuesten Forschungsergebnisse und klinischen Erfahrungen präsentierten. Thematische Schwerpunkte lagen auf dem Prothesenaufbau, aktuellen Versorgungsmethoden bei Spina bifida und berufspolitischen Aspekten der Orthopädie-Technik in den USA und in Deutschland. Die regen und sehr konstruktiven Diskussionen während der Veranstaltung betonten sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in Herangehensweisen, Prozessen und Ausbildungswegen zwischen den USA und Deutschland. Dies führte zu einer lebhaften Debatte vor einem hochengagierten Publikum.
Unterschiedliche Gesundheitssysteme, ähnliche Herausforderungen
Auch die berufspolitische Diskussion stand im Mittelpunkt vieler Gespräche. Es wurde deutlich, dass trotz der unterschiedlichen Gesundheitssysteme in den beiden Ländern ähnliche Herausforderungen für unser Fach als Ganzes bestehen. Die Wahrnehmung der Fachlichkeit und die Evidenzbasis für eine angemessene Erstattung waren dabei zentrale Themen. Dr. Jason Highsmith präsentierte seine Forschung zur Historie und Entwicklung der Orthopädie-Technik im amerikanischen Gesundheitssystem und betonte die Bedeutung einer verbesserten Wahrnehmung dieser Fachrichtung, insbesondere im Kontext der Krankenversorgung und der Betreuung von Menschen mit Behinderungen. Highsmith mahnte aber auch, dass das Fach sich und seine Kompetenzen besser herausstellen müsse, um den zukünftigen Herausforderungen weiterhin gerecht werden zu können.
Einig war man sich darüber, dass es bei der Orthopädie-Technik nicht nur um die Bereitstellung von Hilfsmitteln geht, sondern vielmehr um Rehabilitation und lebenslange Versorgung von Menschen. Merkur Alimusaj stellte die Qualitätsstandards der Prothetik für obere und untere Extremitäten vor, was auf großes Interesse und Zustimmung stieß. Insbesondere die differenzierte Darstellung des Gesamtprozesses in beiden Werken einschließlich der Darlegung der handwerklichen und trainingsbezogenen Aufwendungen fand eine enorme positive Wahrnehmung.
Die Bedeutung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Fachgesellschaften und Experten aus den USA und Deutschland wurde als wichtige Komponente für eine erfolgreiche Zukunft in der Orthopädie-Technik herausgestellt.
Weiterbildung mit Praxischarakter
Höhepunkte der Veranstaltung waren zweifellos der ausgebuchte praktische Workshop mit Live-Demos an Patienten und die zugehörige spätere außerordentlich gut besuchte Session zur Biomechanik des Prothesenaufbaus, die von Brian Kaluf (AAOP) geleitet und gemeinsam mit Merkur Alimusaj organisiert wurden. Dieser Workshop in Verbindung mit der Session bot den Teilnehmern eine einzigartige Gelegenheit, die komplexen Herausforderungen der prothetischen Konstruktionen zu verstehen und praktische Fähigkeiten zu entwickeln.
Merkur Alimusaj vom Universitätsklinikum Heidelberg und Wendy Beattie von der Northwestern University Chicago sowie Malte Bellmann von der HAWK Göttingen und der Firma Ottobock erläuterten die biomechanischen Prinzipien und die praktischen Schritte, die beim Aufbau von Prothesen eine Rolle spielen. Sie zeigten auch auf, welche Konsequenzen die Missachtung dieser Regeln kurzfristig, aber vor allem auch langfristig nach sich ziehen.
Fortlaufende Anpassung notwendig
Beattie betonte die essenzielle Bedeutung einer gut sitzenden Prothese als Grundlage für eine erfolgreiche Anpassung. Sie hob hervor, dass der sorgfältige Werkbankaufbau eine hohe Aufmerksamkeit vor allen anderen Aufbauschritten erfahren sollte, da eine fehlerhafte Grundeinstellung bzw. ein fehlerhafter Grundaufbau später auftretende Probleme zur Folge haben, die viel Zeit kosten. Der Aufbauprozess begann mit der praktischen Demonstration und der Bewertung des Prozesses. Beattie unterstrich die zyklische Natur des Aufbauprozesses und betonte die Bedeutung einer fortlaufenden Überprüfung und Anpassung, so wie sie es auch im Rahmen ihrer universitären Lehre in Chicago tagtäglich umsetzt.
Alimusaj konzentrierte sich auf die biomechanischen Aspekte des statischen und dynamischen Aufbaus bei Unterschenkelprothesen. Er betonte die Stabilitätsaspekte, die sich aus der statischen Ausrichtung einer Prothese ergeben und die Herausforderungen, die während der Bewegung folgen, wenn interne und externe Kräfte wirken und zu kontrollieren sind. Alimusaj zog Parallelen zum Skifahren und unterstrich die Bedeutung eines gut sitzenden Ski-Schuhs in Analogie zum Prothesen-Schaft für die Kontrolle und Propriozeption, die so grundlegend seien, wenn man sicher und zielgerichtet steuern möchte. Er erklärte die mechanischen Überlegungen hinter dem Prothesenaufbau und betonte die entscheidende Rolle des Prothesenschaftes und der verwendeten Schafttechnik für eine effektive Konzeption und Umsetzung. Darauf aufbauend erläuterte Bellmann die biomechanischen Aspekte beim Aufbau und der Optimierung von Oberschenkelprothesen. Eindrücklich beschrieb er dabei auch die Funktion moderner Kniepassteile und wies im weiteren Verlauf insbesondere darauf hin, wie essenziell eine adäquate Adduktions- und Flexionsstellung für den Bewegungsablauf seien.
Anschaulich konnten die zuvor getätigten Aussagen dann gemeinsam am Patienten gezeigt und eruiert werden. Auch hier wurde nochmals die hohe Wichtigkeit eines adäquaten und biomechanisch korrekten Prothesenaufbaus herausgestellt, zeigte der Anwender doch direkt nach der Modifikation der vorgenannten Adduktionsstellung in Verbindung mit einer verbesserten Flexionsstellung des Prothesenschaftes unmittelbar eine verbesserte Symmetrie, die seitens des Patienten mit einem besseren Gefühl und einer verbessert erlebten Stabilität quittiert wurde.
Die Diskussion während des Workshops, aber auch in der späteren Session zum genannten Thema umfasste auch die unumstößliche Notwendigkeit einer umfassenden klinischen Untersuchung und gewissen funktionellen Einschätzung des Patienten im Vorfeld als Basis der weiteren Planungen und Prozedur. Die Teilnehmer wurden ermutigt, über potenzielle Aufbauprobleme und funktionelle Erscheinungen nachzudenken und Lösungen zu diskutieren. Die praktische Demonstration bot eine einzigartige Gelegenheit für kollaboratives Lernen und gewährleistete, dass das erlangte Wissen direkt auf reale klinische Herausforderungen angewendet werden konnte.
Spina bifida im Fokus
Eine weitere wichtige Sitzung im Rahmen des Austauschs widmete sich modernen Behandlungs- und Versorgungsstrategien für Menschen mit Spina bifida. Colleen Coulter, PT, DPT, PhD, moderierte die Freitagmorgensitzung „Moderne Behandlung und Innovation für Patienten mit Spina bifida“, bei der Experten wie Lauren Levey, MSPO, CPO, Gregory Heuer, MD, PhD, Merkur Alimusaj, Dipl.-Ing., Danielle D’Amico, BSN, RN, und Frank Braatz, MD, PhD, wertvolle Einblicke in die Behandlung von Spina bifida boten.
Heuer skizzierte die Entwicklungsaspekte und Komplikationen dieser Erkrankung aus seiner neurochirurgischen Sicht, betonte die Störung der Rückenmarksentwicklung vor der Geburt und die verschiedenen Formen der Erkrankung, die daraus resultieren. Er hob die Bedeutung neurochirurgischer Eingriffe zur Behandlung der Spina bifida auch im Kontext pränataler Operationsmethoden hervor und zeigte in seinem Beitrag eindrucksvoll die positiven Effekte dieser doch recht jungen und filigranen Methodik. Dabei betonte Heuer die Notwendigkeit präziser Verschlussverfahren, um postoperative Komplikationen zu minimieren. Fortschritte in laufenden Studien wurden diskutiert, die darauf abzielen, die weiteren Behandlungen und Therapieansätze für Patienten mit Spina bifida zu verbessern.
Versorgung ist Teamarbeit
Als erfahrener Orthopäde konzentrierte sich Braatz im Anschluss nicht nur auf die chirurgische Behandlung und betonte die Bedeutung personalisierter Therapien, die individuelle anatomische und funktionale Bedürfnisse berücksichtigen. Er diskutierte auch die Herausforderungen, die sich durch sekundäre Deformationen und eine vorliegende Muskelschwäche ergeben und hob die Bedeutung der Orthetik und moderner Technologien hervor. Es folgte Merkur Alimusaj, der modulare Orthesensysteme zeigte, die sich an die Entwicklung der Patienten anpassen können. Insbesondere aber hob Alimusaj die Bedeutung der individuellen Beurteilung der Patienten hervor. Alleine das neurologische Niveau gebe insbesondere bei Patienten nach pränataler Operation keine sichere Auskunft über die Funktion. Eine individuelle Beurteilung der klinischen Situation und eine differenzierte Anamnese sind essenzielle Aspekte für eine differenzierte Versorgungsplanung und Umsetzung. Die Rolle von Teamarbeit und Versorgungskoordination bei der Bereitstellung umfassender Versorgungen für Patienten mit Spina bifida wurde ebenfalls betont. Dies wurde deutlich von der nachfolgenden Sprecherin Lauren Levey nochmals hervorgehoben, die Prozesse und Abläufe der Orthesenversorgung einschließlich der Dynamik einer sich verändernden Anforderung anhand von Fallbeispielen darlegte. Auch hier zeigte sich, dass eine differenzierte individuelle Beurteilung und der enge Austausch zwischen den Disziplinen auschlaggebend sind für eine erfolgreiche Behandlung dieser Patientengruppe, die eine lebenslange Begleitung benötigt. Gefolgt wurde der Beitrag von der spannenden Sichtweise der Patientenkoordinatorin Danielle D’Amico – einer regelrechten Institution, die die Kollegen in den USA schon seit über 30 Jahren etabliert haben.
D’Amico betonte den multidisziplinären Ansatz ihres patientenbezogenen Koordinationsprogramms, welches eine umfassende Versorgung von der pränatalen Beratung bis zum Übergang ins Erwachsenenalter sicherstellt. Sie hob die Bedeutung einer auf die Familie ausgerichteten Betreuung hervor und skizzierte Strategien für einen erfolgreichen Transfer zur Erwachsenenversorgung, einschließlich einer frühzeitigen Einleitung der Übergangsplanung und einer Zusammenarbeit mit Leistungserbringern für die Versorgung und Betreuung von erwachsenen Patientinnen und Patienten mit Spina bifida. Sicher eine Stelle und eine Kompetenz, die wir in Deutschland oft vermissen, wenn es darum geht, Patienten durch ein komplexes Gesundheitssystem bei komplexer Grunderkrankung zu führen. Entsprechende Koordinatoren wären sicherlich nicht nur für Patienten mit Spina bifida eine echte Bereicherung.
Insgesamt bot diese Sitzung wertvolle Einblicke in moderne Behandlungsmethoden und Versorgungsstrategien für Patienten mit Spina bifida. Die Bedeutung personalisierter Ansätze, multidisziplinärer Zusammenarbeit und laufender Fortschritte wurde betont, um die Ergebnisse und Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
Zusammenfassend war die 50. Jahrestagung der AAOP ein wegweisendes Ereignis, das nicht nur den Wissensaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland weiter fördert, sondern auch wichtige Impulse für die zukünftige Entwicklung der Orthopädie-Technik setzt. Durch die gemeinsame Diskussion und Arbeit an aktuellen Themen werden Grundlagen für eine verbesserte Versorgung und Betreuung von Patienten gelegt, was einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Menschen mit orthopädietechnischen Bedürfnissen haben wird.
Wir freuen uns darauf, die Kollegen Lauren Levey und Dr. Gregory Heuer bald auf der OTWorld wiederzusehen, wenn sie ihre Ergebnisse und Strategien zur Behandlung von Spina bifida gemeinsam dem Publikum in Leipzig präsentieren werden.
Merkur Alimusaj
Bei der OTWorld in Leipzig findet das Symposium „Moderne Behandlung und Innovationen für Patienten mit Spina bifida – US-amerikanisch-deutscher Austausch: Orthesen und Prothesen für Kinder“ am Mittwoch, 15. Mai, von 15:15 bis 16:30 Uhr statt.
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