Milliarden Tonnen wachsen jährlich in den Weltmeeren und das zehn- bis dreißigmal schneller als Landpflanzen. Prof. Dr. Thomas Brück, Leiter des Werner Siemens-Lehrstuhls für Synthetische Biotechnologie sowie Direktor des Algentechnikums an der Technischen Universität München (TUM), macht die am Strand meist verschmähte Pflanze nun für die Medizintechnik salonfähig. Gemeinsam mit seinem Team hat Brück „Green Carbon“ entwickelt, ein CO2-neutrales Verfahren zur Herstellung algenbasierter Carbonfasern. Auf der OTWorld 2024 wird er das Publikum in seiner Keynote an der Technologie teilhaben lassen und aufzeigen, wie die Orthopädie-Technik davon profitieren kann. Ist die Alge tatsächlich ein Alleskönner? Das erläutert er im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: Herr Prof. Brück, gefühlt bewegt sich die Menschheit durch Fortschritte in der Technik und Wissenschaft mehr und mehr weg von ihrem Ursprung – der Natur. Für Sie aber geht beides Hand in Hand. In einem Interview sagten sie einmal: „Die Natur ist unser Vorbild. Sie ist die Quelle unserer Forschung“. Was können die Gesellschaft, die Forschung und die Industrie von der Natur lernen?
Thomas Brück: Ja, wir suchen unsere Lösungen in der Natur, sie ist das Vorbild. Es gibt in der Natur keine Reststoffe. Die Natur arbeitet zirkulär. Zusätzlich gibt es ein Maß der Nutzung, das heißt, die Organismen nehmen sich nur so viel aus ihrem Ökosystem, wie sie brauchen, und sind damit ressourceneffizient. Wir als Gesellschaft, aber auch die Industrie, tun aktuell beides nicht. Wenn wir die Zukunft für unsere Kinder und auch die Kompetitivität unserer Industrie sichern wollen, muss es künftig in Richtung einer zirkulären Bioökonomie gehen, die biobasiert nachhaltig ist, die CO2 als einen Rohstoff nutzt und maßvoll mit den gegebenen Ressourcen umgeht. Das widerspricht jedoch den Doktrinen einer Gesellschaft und Industrie, die auf Gewinn ausgerichtet ist. Wir müssen umdenken. Maßhaltigkeit ist hier die Frage. Dabei geht es auch um neue Geschäftsmodelle. Was es braucht, ist die Wiederverwendbarkeit und Modularität von Produkten.
OT: Die Natur inspirierte Sie auch mit Blick auf Carbon. Egal, ob für Prothesen, Orthesen, Einlagen oder Rollstühle – Carbon ist als Werkstoff aus der Industrie und insbesondere aus der Orthopädie-Technik nicht wegzudenken. Welche Eigenschaften überzeugen?
Brück: Vor allem die Leistungsfähigkeit. Carbonfaser ist sehr leicht und stabil, sogar stabiler als Stahl, und hat dadurch einen großen Vorteil gegenüber alternativen Werkstoffen. Früher waren Produkte der Orthopädie-Technik holzbasiert. Das war auch nachhaltig, aber Holz ist eben für die Belastungen im Alltag nicht wirklich geeignet. Zudem entwickelt sich die Orthopädie-Technik in eine andere Richtung. Früher waren Prothesen gefragt. Mit dem demografischen Wandel wird der Bereich Orthetik bedeutsamer. Hier spielen vor allem unterstützende Funktionen eine Rolle und nicht die Substitution von Funktionen. Das stellt an die Materialtechnik neue Herausforderungen – und da ist die Carbonfaser als Material sicherlich vorn mit dabei.
OT: Trotz aller Vorteile: Carbon, also kohlenstofffaserverstärkter Kunststoff, kann im Hinblick auf Nachhaltigkeit weder bei der Herstellung noch bei der Entsorgung oder beim Recycling überzeugen. Sie forschen mit „Green Carbon“ daran, „grüne“ Alternativen für die Medizintechnik zu entwickeln. Ist das Verfahren auch industriell umsetzbar?
Brück: Wir haben unsere Projekte mehrgleisig aufgebaut, eingangs mit dem Ziel, Bausteine für die Automobilindustrie und die Luftfahrtindustrie zu entwickeln. Wir wissen, dass „Green Carbon“ als Produktionsplattform skalierbar ist und das auch ökonomisch. Aus diesem Grund haben wir die Spin-off-Firma „Clean Carbon Technologies GmbH“ in Berlin gegründet, die sich mit der Kommerzialisierung dieser Plattform befasst. Aber es braucht – und das ist ganz entscheidend – eine Allianz der Willigen. Denn diese Kommerzialisierung bedeutet eine Umstellung der Chemieindustrie, der Carbonfaser-Hersteller und der verarbeitenden Industrie. Unsere Aufgabe als Spin-off ist es, genau diese Stakeholder zusammenzuführen, um die Prozesse marktreif zu machen.
OT: Wie ist die Resonanz aus der Industrie? Könnte so eine Kommerzialisierung Wirklichkeit werden?
Brück: Das braucht Zeit. Es müssen Entwicklungsrisiken abgefangen werden. Und Großindustrien wie die chemische Industrie sind in der Aufnahme von neuen Technologien sehr langsam. Es braucht viel Überzeugungsarbeit und einen langen Atem. Ich komme ursprünglich selbst aus der chemischen Industrie, kenne also die Entscheidungskriterien und Vorläufe, die es braucht, um erfolgreich zu sein. Deswegen: Kommerziell erhältlich sein wird diese Carbonfaser sicherlich erst in sieben bis zehn Jahren. In der Zwischenzeit könnte aber gerade die Orthetik eine der ersten Industrien sein, die diese „grüne“ Technologie adaptiert. Denn die Preisgefüge für die Produkte sind hier anders als in der Automobil- oder Luftfahrtindustrie. Damit möchte ich sagen: Die Technik ist da. Ihr könntet die First Mover sein. Bringt sie auf den Markt!
OT: Abgesehen vom Bereich Orthetik: Ist „Green Carbon“ auch für den Einsatz in Prothesen denkbar?
Brück: Auf jeden Fall. Die meisten Prothesen, gerade im Bereich der unteren Extremität, sind – zumindest teilweise – aus Carbonfaser. Die Belastbarkeit unserer biobasierten Carbonfasern ist im Vergleich zu herkömmlichen Fasern definitiv gleich, wenn nicht sogar besser.
Rohstoff der Zukunft?
OT: Algen werden in der Medizin, Kosmetik, Nahrung oder auch als Treibstoff eingesetzt – das Einsatzgebiet scheint unendlich. Sind Algen der Klimaretter, der Rohstoff der Zukunft?
Brück: Das möchte ich differenziert beantworten. Aber ja, Algen sind zwar nicht der einzige Baustein, aber ein signifikanter. Sie haben das Potenzial, all die von Ihnen genannten Produkte zu bilden. Wenn wir aber die Algenbiotechnologie für die Klimarettung einsetzen wollen – und das Potenzial hat die Alge, mehr als jede Landpflanze, denn wir kommen ohne Ackerflächen aus, ohne Süßwasser, und wir können fast überall produzieren –, dann braucht es jemanden, der sich der Infrastruktur annimmt. Und die sieht anders aus als bei einer petro- oder fossilbasierten Industrie. Statt ein Loch zu bohren und das Produkt herauszuholen, braucht es für die Kultivierung von Algen allein schon riesige Flächen. Das ist eine Art Landwirtschaft 2.0. Und das große Problem, das sich immer zeigt, wenn ich neue Prozesse in die Industrie überführen will: Alle sagen, „ich hätte gern das Produkt, das ist super“. Aber keiner fühlt sich verantwortlich. Erstens, weil sie das Business nicht kennen, und zweitens, weil der Finanzaufwand, der betrieben werden muss, enorm ist. Der deutschen und europäischen Industrie fehlen schlichtweg die finanziellen Anreize, um Innovation und Technologieadaption zu betreiben. Auch wenn zum Beispiel die Mineralölindustrie die finanziellen Kapazitäten hat, besitzt sie nicht das Know-how. Was wir brauchen, sind große landwirtschaftliche Unternehmen, die hierin einen Business-Case sehen, auch wenn der zu Anfang eine hohe Investitionsintensität beinhaltet. Visionen setzt man nur gemeinsam und mit großen Denkern um, die wir in der akademischen Welt natürlich eröffnen können, aber wir werden sie nicht umsetzen. Dazu brauchen wir Partner aus Industrie, Gesellschaft und Politik.
OT: Damit Unternehmen diesen Schritt gehen, braucht es vermutlich finanzielle Förderung.
Brück: Das ist richtig. Und das muss man nicht national denken, sondern vielmehr europäisch oder sogar weltweit. Wo können wir Algen am besten kultivieren? In kleinen Mengen mit Sicherheit auch in Deutschland. Hervorragende – auch ökonomische – Bedingungen gibt es aber vor allem im südeuropäischen und im Maghreb-Raum bzw. an den Küsten Afrikas oder Südamerikas. Wir könnten so auch Migration umleiten. Die Menschen vor Ort hätten eine neue Möglichkeit, Jobs zu kreieren und Geld zu verdienen. Da spielen also sozioökonomische Aspekte eine wichtige Rolle. Und in solche Entscheidungen müsste sich nicht nur Deutschland, sondern beispielsweise die Europäische Union oder die Vereinten Nationen einbringen. Wenn wir diese Entwicklung erreichen wollen, ist Anstrengung gefragt. In jede technologische und industrielle Transformation muss man am Anfang sehr viel investieren. Das werden Industrieunternehmen, die nun mal gewinngetrieben sind, allein nicht machen. Das geht nur durch Förderung, durch Steuervergünstigungen sowie durch gemeinsame Anstrengungen und legislative Vorgaben.
„Wissenschaft ist nie neu, sie wird nur neu erfunden“
OT: Sehen Sie in weiteren natürlichen Rohstoffen Potenzial für den Einsatz in der Medizintechnik?
Brück: Auf jeden Fall. Es gibt bereits Bioplastik, wie unter anderem Polyhydroxybutyrate oder Poly-Milchsäure, die auch in der Orthetik und Prothetik verwendet werden können. Nicht zu vergessen – ich sprach es vorhin schon an – das Holz. Holz ist ein traditioneller Rohstoff. Man weiß, wie man damit umzugehen hat. Für spezielle Anwendungen ist Holz ein sehr guter Rohstoff, komplett nachhaltig und auch ein Speicher von CO2.
OT: Und trotzdem kommt es in der Orthopädie-Technik mittlerweile nicht mehr häufig zum Einsatz, oder?
Brück: Ja, das ist sehr schade. Wir müssen uns besinnen auf das, was wir Menschen schon vor Jahrhunderten gemacht haben. Vieles hat funktioniert und wurde nur durch billigere Produkte aus Erdöl ersetzt – eine ökonomische und keine Performance-Entscheidung. Es gab schon während der ersten Ölkrise Fahrzeuge, die komplett mit Bioethanol gefahren sind. Die Technologie dafür ist zwar besser geworden und skalierbarer, aber sie ist nicht neu. Ein Kollege von mir hat mal gesagt: „Wissenschaft ist nie neu, sie wird nur neu erfunden durch neue Technologien, die uns tiefere Einblicke in die Natur geben.“
OT: Für den Arbeitsalltag eines Orthopädietechnikers eher weniger spannend, dafür aber vielleicht für die Mittagspause oder als Snack zwischen den Veranstaltungen während der OTWorld geeignet: Gemeinsam mit Ihrem Forschungsteam haben Sie allerhand Gebäck, u. a. einen Algenkeks entwickelt. Verraten Sie uns: Wie schmeckt der Keks?
Brück: Der schmeckt sehr gut! Wir experimentieren für unsere Backwaren – Kekse, Tartelettes, Krapfen oder auch Teigtaschen – mit verschiedenen Algenarten. Eine verwendete Algenbiomasse hat einen leichten Umamigeschmack, eine andere hingegen keine Geschmacksprofile oder nur geringe. Und der Umamigeschmack – das könnte man denken – stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Er ist sogar sehr positiv, harmoniert zum Beispiel gut mit der Sauerkirschmarmelade der Teigtasche. Die Backwaren enthalten 60 bis 70 Prozent Protein und sind Weltmeister beim Vitamin B9, sprich Folat. Unser neuestes Produkt ist das „Alguette“, ein französisches Baguette mit etwa 20 Prozent an Algenbiomasse. Bereits eine Scheibe deckt den täglichen Folatbedarf eines Erwachsenen.
OT: Das macht Lust auf einen Geschmackstest. Kann man die Backwaren probieren?
Brück: Für das „Alguette“ kommt demnächst eine Backmischung auf den Markt.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Prof. Dr. Thomas Brück hat Chemie, Biochemie und Molekularmedizin an der Keele Universität (UK) studiert. Von 2002 bis 2006 hatte er eine Assistenzprofessur für Marine Proteomik und Biokatalyse am Center of Excellence for Marine Biotechnology and Biomedicine an der Florida Atlantic University (USA) inne und beschäftigte sich mit der Biosynthese bioaktiver Naturstoffe in marinen Makroorganismen. 2006 wechselte er zur Süd-Chemie AG (heute Clariant Produkte Deutschland GmbH). Seit 2011 ist Brück ordentlicher Professor an der Technischen Universität München (TUM). Er hat den Werner-Siemens-Lehrstuhl für Synthetische Biotechnologie inne und ist Direktor des interdisziplinären TUM-Algenforschungszentrums.
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