OT: Welche Vorteile bietet die Additive Fertigung von Schäften gegenüber bisherigen Methoden?
Franziska Lehmann: Uns geht es nicht um 3D-Druck, weil das cool klingt, sondern um echten Mehrwert. Es ist daher schwierig, die Vorteile additiv gefertigter Schäfte wie MyFit TT isoliert zu betrachten. Sie sind Teil einer digitalen Gesamtlösung vom Scan über die Modellierung bis zur Fertigung. Die Vorteile generieren sich aus dem Zusammenspiel: Eigenheiten am Stumpf wie knöcherne Strukturen lassen sich markieren, mit unserem Scanner erfassen und in der Modifikationssoftware einblenden. Es entsteht ein detaillierter digitaler Zwilling. Alle Schritte der Bearbeitung werden dokumentiert und lassen sich auf Knopfdruck anpassen, rückgängig machen oder reproduzieren. Durch eine bionische, knochenähnliche Struktur, die sich nur mit dem 3D-Drucker herstellen lässt, werden die Schäfte außerdem stabiler und leichter als mit Gießharz. So können Techniker:innen Schäfte mit sehr guter Passform herstellen. Die Software macht ihnen dabei Vorschläge, doch die Techniker:innen behalten immer das letzte Wort. Schließlich kennt niemand die Anwender:innen so gut wie sie!
OT: Bietet dieses Verfahren die Möglichkeit, verschiedene Materialen auszuwählen?
Lehmann: Die gibt es aktuell nur begrenzt. Materialien und Druckverfahren müssen gewährleisten, dass die Schäfte sicher, stabil und langlebig genug sind, um drei Millionen Schrittzyklen bei bis zu 125 Kilogramm Körpergewicht zu überstehen. Unsere Materialexpert:innen sind daher auf zwei Optionen gekommen, die uns aktuell zur Verfügung stehen: Das Nylonpulver PA12 wird mittels MJF (Multi Jet Fusion) gedruckt, PA11 mit SLS (Selektives Lasersintern). Es kommen ähnliche Schäfte dabei heraus. Perspektivisch ist es aber denkbar, einzelne Bereiche im Schaft flexibel zu gestalten und andere fester. Aber das ist Zukunftsmusik. Wichtig ist aktuell vor allem, dass das Material hautfreundlich ist und der Liner und die Kleidung nicht unnötig aufgerieben werden.
OT: Welche Schwierigkeiten waren bei der Entwicklung zu überwinden?
Lehmann: Eine Schwierigkeit war, dass wir bei der Entwicklung in die Pandemiezeit gekommen sind und viele Kolleg:innen nicht mehr reisen konnten. Wir haben Teams in den USA und Europa, müssen Patient:innen involvieren, Lösungen ausprobieren und Techniker:innen schulen. Es war wohl entscheidend für das gute Gelingen, dass es sich um ein digitales Projekt handelte. So haben wir es geschafft, unsere Leute über Videokonferenzen und mit aufgenommenen Videos zusammenzubringen und zu trainieren.
OT: Was für Veränderungen bringt die Additive Fertigung von Schäften für die Versorgung im Sanitätshaus mit sich?
Lehmann: Die Techniker:innen im Sanitätshaus werden mobiler, denn der Scanner iFab Easy und die Modifizierung funktionieren unabhängig vom Gipsraum. Sie können entscheiden, wo sie den Scan des Stumpfes durchführen und wie sie die ehemaligen Gipsräume nutzen und gestalten. Das ist angenehmer für Anwender:innen. Und die Zeit, die durch die Additive Fertigung gespart wird, fließt in wichtige Dinge wie den direkten Austausch mit den Anwender:innen. Für sie bedeutet das zudem einen angenehmeren Prozess, da sie nicht mehr für einen Abdruck vom Stumpf in den Gipsraum müssen.
OT: Können die gedruckten Schäfte langfristig eingesetzt werden oder dienen sie eher als Testversorgung?
Lehmann: Es handelt sich um Definitivschäfte, die wie unsere Kniegelenke auch nach ISO getestet wurden – drei Millionen Schrittzyklen mit 125 Kilogramm Körpergewicht. Dementsprechend sind sie für die Langzeitversorgung freigegeben. Wir bieten mit der Softwarelösung aber auch Interims- und Testschäfte an.
OT: Wie sieht es mit der MDR-Konformität aus?
Lehmann: Schäfte sind immer Sonderanfertigungen, die nicht wir als Ottobock, sondern unsere Kunden, also die Techniker:innen und Sanitätshäuser in den Verkehr bringen. Um sie dabei zu unterstützen, stellen wir sicher, dass alles MDR-konform ist. Dazu halten wir die komplette Dokumentation für sie in Form von Prüfdaten und Anleitungen bereit.
OT: Das Umweltbewusstsein von Versorgten und Versorgern steigt stetig. Bietet sich dieses Verfahren an, um ressourceneffizient zu versorgen?
Lehmann: Auf jeden Fall. Gipsbinden für den Abdruck des Stumpfes und den Gips zum Ausgießen spart man komplett ein. Außerdem wird ein Schaft im 3D-Druckverfahren ohne Modell direkt gedruckt. Pulverbasierte Druckverfahren bieten außerdem den Vorteil, dass das überschüssige Material nicht entsorgt wird, sondern für den nächsten Druckprozess wiederverwendet wird. Es entsteht so sehr wenig Müll und wir schonen Ressourcen.
OT: Stichwort Kosten: Wie schneiden hier die gedruckten Schäfte finanziell gegenüber einer Standardversorgung ab?
Lehmann: Die Preise 3D-gedruckter Schäfte sind aktuell noch vergleichbar mit denen konventionell hergestellter. Sie sind nicht teurer. Die Preise wurden mit Hinblick auf die Erstattungssituation festgelegt.
OT: Haben Sie eine Rückmeldung bekommen, wie die Akzeptanz der additiven Schaftversorgung durch Kostenträger aussieht?
Lehmann: Bisher noch nicht für den deutschen Markt – weiter sind wir hier auf dem US-Markt, wo wir sehr positive Erfahrungen gemacht haben. Dort sind die Schäfte bereits komplett durch die Erstattung abgedeckt. In Deutschland sind wir aktuell noch dabei, die ersten Erfahrungen zu machen. Aber auch hier sind wir zuversichtlich!
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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