OT: Seit wann versorgen Sie Kinder?
Sebastian Hannen: Direkt nach meiner Ausbildung an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg 2001 hatte ich das Glück, in die Abteilung der oberen Extremitäten übernommen zu werden. Das war sozusagen mein Einstieg in dieses sehr interessante Aufgabengebiet. Auch nach dem Erhalt meines Meisterbriefes 2007 blieb ich dem Thema treu. Als Orthopädietechniker haben Sie die Möglichkeit, den Kindern nicht nur mit Empathie oder Mitgefühl zu begegnen. Sie haben die Möglichkeit zu helfen. Wenn Sie die vor Stolz strahlenden Augen von Kindern und Eltern beim Tragen des ersten Arms oder der ersten Hand sehen, ist das ein unbeschreiblich schönes Gefühl und die Motivation schlechthin, weiterhin Kinder zu versorgen.
OT: Wie viele Kinder werden in Ihrem Haus pro Jahr durchschnittlich mit Prothesen der oberen Extremitäten versorgt?
Hannen: Kinder haben in unserem Haus schon immer einen besonderen Stellenwert. Allerdings lag unser Schwerpunkt hier eher auf dem Bereich Orthetik. Mit der Übernahme der Leitung Produktion bei Fuchs+Möller im Jahr 2015 begann ich, eine eigene Abteilung für die Versorgung von Prothesen der oberen Extremitäten aufzubauen. Inzwischen versorge ich zwischen 10 und 20 Kinder pro Jahr mit Hand- oder Armprothesen.
Entscheidend: Wunsch der Kinder
OT: Was muss bei der Versorgung von Kindern mit Prothesen der oberen Extremität besonders beachtet werden?
Hannen: Unser Ziel ist es, die Bewegungsvielfalt von Kindern bestmöglich zu unterstützen und zu fördern. Dabei spielen Funktionalität, Passform, Gewicht und die optische Gestaltung eine übergeordnete Rolle. Grundsätzlich gilt, dass sich die Orthopädietechniker:innen immer an den individuellen Bedürfnissen der Kinder orientieren sollten. Werden die Bedürfnisse mit der Prothese nicht befriedigt, bleibt die Prothese wenig bis gar nicht genutzt. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Kinder ihre Motivation, Prothesen zu tragen, gänzlich verlieren. Das gilt es zu verhindern. Deshalb klären wir gemeinsam im Team mit Ärzt:innen und Therapeut:innen die Familien schon früh über etwaige Versorgungsmöglichkeiten und ‑grenzen sowie den Ablauf der Versorgung auf.
OT: Wer bestimmt über den Einsatz von Prothesen?
Hannen: Der Wunsch nach einer Prothese muss von den Kindern selbst kommen. Auch wie, wann und wofür sie die Prothese später einsetzen möchten, sollten die Kinder selbstständig entscheiden. Mit Zwang und Druck erreichen Sie bei der Altersgruppe gar nichts. Wir können hier nur beratend zur Seite stehen. Das Erlernen der Prothesenhandhabung erfolgt später spielerisch. Wichtig finde ich, den Versorgungsprozess von Anfang an mit Physio- und Ergotherapie zu unterstützen. Die Physiotherapeut:innen sorgen für die richtige Haltung und die Ergotherapeut:innen für die korrekte Einübung der Handbewegungen. Bei der optischen Gestaltung der Prothese dürfen sich die Kinder austoben und weitestgehend selbst entscheiden. Denn die Kinder sollen sich so gut wie möglich mit dem Hilfsmittel identifizieren. Dabei spielt die Optik eine wichtige Rolle. Natürlich helfen uns die verschiedenen digitalen Techniken der vergangenen Jahre bei der optischen Gestaltung von Prothesen. Aber auch bei herkömmlichen Herstellungsverfahren von Schäften und Prothesen können wir viele Designwünsche erfüllen.
OT: Verraten Sie uns Ihre persönliche Vorgehensweise?
Hannen: Mich persönlich hat die Herangehensweise des Vereins zur Qualitätssicherung in der Armprothetik (VQSA) überzeugt. Ich habe mich relativ früh schon dafür entschieden, den VQSA-Kurs an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik in Dortmund zu besuchen. Die Kursinhalte wurden sehr gut vermittelt und aufgefrischt. Der Aufbau des Kurses ist systematisch und gut verständlich. Ansonsten setze ich sehr viel auf eine gute Bindung zu meinen Patient:innen. Es ist mir wichtig, dass mein Gegenüber mir vertraut und sich gut aufgehoben fühlt.
Die gleichen Hände wie vor 20 Jahren
OT: Worin liegt die größte Herausforderung im Prozess?
Hannen: Kinder sind im stetigen Wachstum, daher gilt es, die Prothese stetig neu an die Anforderungen anzupassen. Die Herstellung selbst ist sehr kleinteilig – von daher nichts für Grobschlosser. Häufig bedarf es auch individueller Lösungen, da die Passteilvarianten, die der Markt bietet, für Kinderversorgungen häufig zu groß, zu schwer oder funktionell ungeeignet sind.
OT: Wie schätzen Sie die aktuell von der Industrie angebotenen Prothesenlösungen für Kinder ein?
Hannen: Die Armprothetik ist nur ein sehr kleiner Teil der Orthopädie-Technik und hat daher nur eine kleine Lobby. Im Bereich der Jugendlichen/Erwachsenen hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan auf dem Markt. Im Bereich der Kinderprothesen für das Alter drei bis neun Jahre, gibt es leider nur wenig Fortschritte. Im Grunde sind es immer noch die gleichen Kinderhände, wie wir sie schon vor 20 Jahren eingesetzt haben. Vielleicht etwas modifiziert und technisch verbessert, aber richtig viel hat sich leider nicht getan auf diesem Markt. Mit der Vincent-Young-Prothesenhand von Vincent-Systems steht seit 2014 zumindest für größere Kinder und Jugendliche, zwischen neun und dreizehn Jahren, ein gutes, modernes Prothesenhandsystem zur Verfügung. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch hier wäre es gut, wenn wir mehr Auswahl hätten. Die einen brauchen eine robuste, vielleicht sogar wasserfeste Prothese, andere hätten gerne eine filigrane. Diese Wahl haben wir aber leider nicht.
OT: Wie gestaltet sich der Austauschprozess zwischen Werkstatt, Industrie oder Kolleg:innen anderer Firmen?
Hannen: Es gibt schon einen gewissen Austausch. Zum Beispiel besteht in unserem Haus die Möglichkeit, bei diversen Partnerbetrieben zu hospitieren. Wir reisen auch zur OTWorld nach Leipzig und natürlich auch auf andere Kongresse, bei denen wir Orthopädietechniker:innen, aber auch Vertreter:innen der Industrie sowie der Forschung treffen, um über Versorgungslücken zu sprechen. Trotzdem wäre der Austausch als ausbaufähig zu beschreiben. Industrielle Schulungen werden zum Beispiel in ausreichender Zahl angeboten. Leider dienen diese allerdings häufig nur einer reinen Produktvorstellung, wichtige Lehrinhalte kommen hierbei häufig zu kurz. Der Austausch mit anderen Unternehmen hängt von der jeweiligen Unternehmenspolitik ab. Auch hier finde ich den Ansatz des VQSA richtig. Er dient als Plattform für dessen Mitglieder und bringt uns alle weiter.
OT: Wie könnte die Versorgung von Kindern mit Prothesen in Zukunft weiter verbessert werden?
Hannen: Ich hoffe, dass uns bald eine neue Generation von Kinderhänden zur Verfügung steht. Wie gesagt: Gerade bei Kindern besteht die Gefahr, dass sie eine erneute Versorgung aufgrund schlechter Erfahrungen im Vorfeld ablehnen. Die Kinderhände, die auf dem Markt sind, bieten keinerlei Griffvariationen, verfügen über eine zu geringe Griffkraft und Griffgeschwindigkeit sowie Öffnungsweite. Hier sehe ich noch großes Potenzial bei den Partnern aus der Industrie. Auch adaptive Fertigungstechniken werden hier in Zukunft eine große Rolle spielen, Scantechnik, digitale Schaftgestaltung, diverse Druckverfahren werden unsere eigenen Versorgungsmöglichkeiten um ein Vielfaches erweitern.
Kinder glücklich machen: Mit Hightech oder einfachem Adaptersystem
OT: Welche Versorgungen haben Sie im vergangenen Jahr besonders gefordert?
Hannen: Eigentlich steckt hinter jeder Versorgung eine gewisse Herausforderung! Aber an zwei Versorgungen aus dem vergangenen Jahr denke ich besonders gerne zurück: Emre und Marie. Zudem ist Emre ein gutes Beispiel, wie wichtig es ist, dass wir inzwischen Testschäfte über Kostenträger abrechnen können. In solchen Versorgungssituationen müssen wir einfach die Möglichkeit haben, verschiedene Varianten auszuprobieren.
Mit Testschäften erfolgreich versorgen
OT: Können Sie uns den Fall Emre schildern?
Hannen: Emre ist neun Jahre alt und mit einer Dysmelie des linken Unterarms geboren. Sein kurzer Unterarmstumpf – von ihm liebevoll Knubbel genannt – weist eine Besonderheit auf: Am distalen Stumpfende sitzt ein Lipom. Da der Umfang des distalen Stumpfendes deutlich größer war als der Umfang oberhalb der Kondylen, konnten wir keine herkömmliche Schafttechnik anwenden. Nach einigen Versuchen konnten wir seinen Prothesenschaft funktionell, passgerecht und optisch ansprechend gestalten. Das Ziel, die Prothese selbstständig anlegen zu können, haben wir dabei nie aus den Augen verloren. Bei Emre hatten wir zunächst eine Klappschafttechnik angewendet, doch aufgrund der extremen Weichteilsituation konnte der gewünschte Tragekomfort nicht erreicht werden. In der zweiten Variante wurde der Schaft dorsal geöffnet und ein sich überlappender Verschluss in den HTV-Silikonschaft eingearbeitet. Über einen im Schaft integrierten Klettverschluss lässt sich der Schaft stufenlos öffnen und schließen, was es Emre ermöglicht, den Halt der Prothese an die jeweilige Tätigkeit anzupassen. Das Ergebnis war mehr als zufriedenstellend. Bei dem Handprothesensystem fiel die Wahl auf die bereits erwähnte Vincent-Young-Prothesenhand. Gleich von Anfang an kam Emre mit diesem System gut zurecht. Sie ist das kleinste multiartikulierende Handsystem auf dem Markt und ermöglicht Anwender:innen adaptives Greifen durch Ansteuerung der einzelnen Fingersegmente.
Weniger ist mehr
OT: Welche Versorgung haben Sie bei Marie vorgenommen?
Hannen: Bedingt durch das Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom wurden der heute elfjährigen Marie alle vier Gliedmaßen im Kindesalter amputiert. Da amputierte Kinder aufgrund des Knochenwachstums immer wieder nachamputiert werden müssen, um eine knöcherne Durchspießung zu vermeiden, sind die Armstümpfe unserer kleinen Heldin mit einem großflächigen Narbenbild durchzogen. Mithilfe der von uns gefertigten myoelektrischen Unterarmprothese konnte Marie erstmals in der Klasse an die Tafel schreiben oder sich selbstständig die Haare kämmen. Was glauben Sie, wie stolz Marie war, als sie erstmals ihre Bürste eigenständig über ihre Haare gleiten ließ! Sie ist überhaupt ein sehr fröhliches und liebes Kind. Bedingt durch die schwierigen Hautverhältnisse und den ultrakurzen Unterarmstumpf fällt es Marie aber schwer, die myoelektrische Unterarmprothese über einen längeren Zeitraum zu tragen. Um Marie so weit wie möglich bei ihrer schulischen Teilhabe zu unterstützen und zu fördern, haben wir auch auf Wunsch der Schule zusätzlich eine spezielle Ess- und Schreibhilfe als Wechselprothese entwickelt. Diese ist sehr leicht, einfach zu nutzen und verfügt dennoch über mehrere Einstellmöglichkeiten. Der Adapter wurde im 3D-Drucker gefertigt. Manchmal ist weniger eben mehr.
OT: Wie erstellen Sie solche Sonderanfertigungen?
Hannen: Im Bereich der Ess‑, Schreib- und auch Fahrradlenkhilfen konnten wir in den vergangenen Jahren bereits einige Erfahrungen sammeln. Ziel ist es, die Versorgungen leicht und funktionell zu gestalten. Um einen möglichst hohen Schaftkomfort zu gewährleisten, fertigen wir einen mit Gaze verstärkten individuellen Silikonschaft an. Der Aluminium-Adapter sowie die Schaftaufnahme wurden nach unseren Vorgaben von der Firma Palmer gefertigt. In puncto Sonderanfertigungen ist der Feinmechaniker-Meister Mathias Palmer immer ein sehr kompetenter und zuverlässiger Ansprechpartner. Die verschiedenen Adaptionshilfen wurden individuell mittels 3D-Drucker erstellt. Durch diverse Verstellmöglichkeiten lässt sich die Ess- und Schreibhilfe wie bei Marie individuell auf die jeweilige Tätigkeit der Patientin einstellen.
Ehrlichkeit im Umgang mit Eltern und Kindern
OT: Wie gehen Sie mit den mentalen Begleitumständen der Kinder und Erwachsenen um?
Hannen: Da helfen mir natürlich die mehr als 20 Jahre Berufserfahrung in diesem Bereich. Trotzdem muss man sich jedes Mal neu auf die Situation einstellen. Mir ist wichtig, dass wir ehrlich miteinander umgehen. Der Patient muss wissen, was realistisch ist und was nicht! Nur so kann man allzu große Enttäuschungen vermeiden, die langfristig zur Ablehnung von Prothesen führen. Aber natürlich gibt es auch sehr emotionale Momente während der Versorgung, gerade bei den Eltern, wenn sie ihr Kind das erste Mal mit zwei Armen sehen, wird die eine oder andere Träne verdrückt.
OT: Wie evaluieren Sie die Versorgungen?
Hannen: Zum einen überprüfen wir natürlich das „Handling“ der Patient:innen mit der Prothese. Schauen, ob er oder sie die zuvor selbst gewählten Rehabilitationsziele erreicht. Gibt es einen funktionellen Zugewinn für die Patient:innen? Entspricht die Tragezeit den Ansprüchen? Aber auch Passform und Optik spielen hier eine große Rolle. Auch bei der Evaluation ist Ehrlichkeit untereinander erfolgsentscheidend.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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