Im Gespräch mit der OT-Redaktion gibt Oliver Kreisbeck vom Abrechnungsdienstleister Noventi AZH einen fundierten Einblick in die Materie. Der Leiter Sales Markt Hilfsmittel Pflege ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Hilfsmittelbranche tätig und seit fünf Jahren beim Unternehmen mit Hauptsitz in München beschäftigt.
OT: Herr Kreisbeck, zur ersten Einordnung vorneweg gefragt: Wie viele Rezepte werden jährlich in Deutschland von Ihnen als Abrechnungsdienstleister für Sanitätshäuser bearbeitet und über welches monetäre Volumen sprechen wir?
Oliver Kreisbeck: Noventi hat im Jahr 2021 über 200 Millionen Verordnungen mit einem Volumen von ca. 30 Milliarden Euro mit den gesetzlichen Kostenträgern abgerechnet. Im Bereich der Hilfsmittelversorgung, in den auch Sanitätshäuser fallen, haben wir 2021 für über 1.600 Leistungserbringer in ganz Deutschland GKV-Rezepte abgerechnet. Durchschnittlich wurden je Leistungserbringer ca. 4.200 Verordnungen mit einem Gesamtwert von 764.000 Euro/brutto über die Noventi AZH abgerechnet.
OT: Bei Abrechnungen von erbrachten Leistungen kommt es regelmäßig zu Absetzungen seitens der Kostenträger. Ein zu vernachlässigendes Thema oder entsteht hier für die OT-Betriebe ein spürbarer Schaden?
Kreisbeck: Jede Absetzung durch die Kostenträger stellt einen spürbaren Schaden für Leistungserbringer dar. Zum einen schmälert es die Liquidität des Unternehmens, zum anderen erhöht es den Bearbeitungsaufwand der Vorgänge. Jede Absetzung muss individuell bewertet und in der Regel weiterbearbeitet werden. Durch die Unterstützung eines Abrechnungsdienstleisters können die Betriebe bereits einigen Absetzungen vorbeugen, da hier Kontrollinstanzen buchbar sind und einige Qualitätsprüfungen automatisch mitlaufen. Vielen Absetzungen kann allerdings auch schon im Betrieb vorgebeugt werden. Die Mitarbeiter:innen müssen bei der Annahme von Rezepten und Verordnungen einige Checks machen: Arztstempel und Unterschrift, Datum etc. Bei Kostenvoranschlag, einzelnen Vertragsprüfungen etc. gibt es zahlreiche Tools, wie den AZH KV-Check oder AZH Vertrags-Check, die das tägliche Handling erleichtern und aktiv dabei unterstützen, Absetzungen vorzubeugen.
Absetzungen aktiv vermeiden
OT: Haben Sie den Eindruck, dass sich alle Sanitätshäuser dieser Situation bewusst sind oder läuft hier vieles unter dem Radar?
Kreisbeck: Die Absetzungen sind den Leistungserbringern nach meiner Erfahrung bewusst. Die aktive Vermeidung von Absetzungsursachen kann teilweise in den Betrieben noch gefördert werden. Beispielsweise mit Hilfe konsequenter Preispflege in der Branchensoftware oder Sichtung und Dokumentation von Befreiungsausweisen.
OT: Was sind bei Absetzungen im Detail die Gründe, dass die Kostenerstattung durch die Sachbearbeiter:innen der Krankenkassen im ersten Schritt abgelehnt wird?
Kreisbeck: Hier muss zwischen einer Teilabsetzung und einer Vollabsetzung unterschieden werden. Bei Teilabsetzungen, also einer Herabsetzung des geforderten Preises, sind in erster Linie zwei Gründe zu nennen. Erstens: Die Abrechnung erfolgt mit einem falschen – meist zu hohen – Preis. Zweitens: Es gibt Probleme mit der Zuzahlungsberechnung. Bei Vollabsetzung, einer kompletten Ablehnung einer Verordnung, sind meist formelle „Fehler“ die Gründe. Beispiele sind hier die Verwendung von falschen LEGS, also eine falsche Vertragszuordnung in der Abrechnung, oder eine fehlende Genehmigung für die Versorgung.
OT: In welchen Fällen kümmern Sie sich als Dienstleister um die Nachbesserung der eingereichten Rezepte und wann ist das Sanitätshaus selbst gefordert?
Kreisbeck: Dies ist von Dienstleister zu Dienstleister unterschiedlich. Wir bei Noventi AZH versuchen, jede Absetzung individuell zu prüfen. Stellen wir fest bzw. sind wir der Meinung, dass alles in Ordnung ist, gehen wir direkt für unsere Kunden in Widerspruch mit den Kostenträgern. Wird die Bezahlung einer Versorgung z. B. aus fachlichen Gründen angemahnt, ist der Leistungserbringer selbst gefordert.
Top-Absetzungsgründe identifizieren
OT: Welche Anstrengungen sind nötig, damit ein OT-Betrieb innerhalb eines Jahres seine Absetzungsquote halbieren kann?
Kreisbeck: Pauschal kann dies so nicht beantwortet werden. Es gibt Sanitätshäuser mit einer sehr niedrigen Absetzungsquote und es gibt Leistungserbringer mit einer höheren Absetzungsquote. Generell gilt aber: Jeder Betrieb sollte individuell seine Top-Absetzungsgründe prüfen und Maßnahmen ergreifen, die Ursachen dafür zu beheben. Noventi AZH unterstützt Kunden hier mit entsprechenden Auswertungen. Aufgrund der Vielzahl der Absetzungsgründe empfehle ich, im ersten Schritt die häufigsten drei bis fünf Absetzungsgründe zu identifizieren.
OT: Welche Rolle spielt die Digitalisierung der Abrechnungsprozesse – die Einführung des E‑Rezepts ist in Sichtweite – in Form von Chancen zur Reduzierung von fehlerhaften Einreichungen, aber gegebenenfalls auch als zusätzliche Fehlerquelle?
Kreisbeck: Die Digitalisierung spielt hier eine große Rolle. Allen voran ist hier der elektronische Datenaustausch zwischen Sanitätshaus und Abrechnungszentrum zu nennen. Durch die Datenlieferung können automatisiert Prüfprozesse angestoßen werden. Die Qualität der Abrechnung wird dadurch nochmal erhöht und der Prozess beschleunigt. In der Folge führt dies zu weniger Aufwand, weniger Absetzungen und dadurch zu einem finanziellen Vorteil. Im weiteren Verlauf spielt jedoch auch der Datenrückweg eine entscheidende Rolle. Hier werden die Abrechnungsdaten in die Branchensoftware eingespielt und entsprechend verbucht. Wir bei Noventi AZH gehen hier sogar noch einen Schritt weiter. Alle Informationen und Bilddokumente die zu einem Abrechnungsfall gehören, werden z. B. in die Branchensoftware Sanivision eingepflegt. Dadurch werden Folgeprozesse wie zum Beispiel die weitere Bearbeitung von Absetzungen stark erleichtert. Auch können dadurch weitere Automatisierungen mitangestoßen werden. Hier sind zum Beispiel die Erstellung von Eigenanteilsrechnungen oder die nachträgliche Erstellung von Kostenvoranschlägen zu nennen.
OT: Inwieweit sind Politik, der GKV-Spitzenverband als Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen und maßgebliche Verbände der Leistungserbringer gefragt, die Rahmenbedingungen zu verbessern und was ist konkret zu tun?
Kreisbeck: Wünschenswert wären einheitliche Regelungen und Rahmenbedingungen, die über alle Kassen hinweg gelten. Das „Management“ der Kassenverträge bindet für die Leistungserbringer viel Energie und Zeit und führt in der Folge auch oft zu Absetzungen oder Ablehnungen. So existieren von den ca. 100 Krankenkassen über 5.000 Verträge und Preislisten. Ein Leistungserbringer hat nicht selten mehrere Hundert Kassenverträge zu organisieren.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
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