„Zum Zeitpunkt der Diagnose können wir keinen Verlauf vorhersagen. Wir wissen nicht, wie sich beispielsweise eine Cerebralparese beim Neugeborenen manifestiert“, berichtet Hess. Aber genau das würden die Eltern wissen wollen. „Das erzeugt einen Emotionscocktail aus Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung und – später in der Entwicklung des Kindes auch Hoffnung. Hoffnung, dass mit der Orthese oder dem Rollstuhl Mobilität eintritt.“ Das Kind erlebe im Laufe des Lebens ähnliche Gefühle. Und die seien stark an die der nahen Angehörigen gekoppelt. Ein Gewinn für den Versorger – oder auch nicht. Hess beschreibt dafür ein Beispiel: Fährt das Kind zum ersten Mal mit dem Rollstuhl auf die Mutter zu, fängt diese vielleicht an zu weinen, aus Freude oder auch aus Trauer. Das Kind merkt: Meine Mobilität, die in mir im ersten Moment Freude auslöst, wird von meiner Mutter anders empfunden. „Zeigt die Mutter nicht dieselbe Freude, lehnt das Kind den Rollstuhl ab“, nennt Hess eine mögliche Reaktion. Und die sei unabhängig von der Qualität der Arbeit des Versorgers. Egal wie gut das Hilfsmittel gebaut und designt ist: „Geht das gesamte Familiensystem in Abwehrhaltung, hat der Orthopädietechniker es sehr schwer.“
Die Phasen der Trauer
All die Gefühle, die die Betroffenen erleben, verlaufen nicht linear oder lösen sich nach einer gewissen Zeit ab. Zugrunde liegt diesen Prozessen ein Trauma. „Wir Psychologen sprechen nicht von ‚verarbeiten‘, sondern von ‚Integration des Traumas in die Autobiografie‘“, erläutert Hess. Diese Integration endet in der Autonomiephase. Heißt, der oder die Betroffene hat das Trauma nach wie vor, aber so in die Autobiografie integriert, dass er oder sie autonom davon ist und handeln kann. Hess erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine verunfallte Frau, die nun mit ihrem Aktivrolli durch die Welt reist – in der Literatur der Idealfall. Vor der Autonomiephase erleben Patient:innen meist weitere Phasen. Verschiedene Modelle aus der Psychologie zählen dazu Schock, Hoffnung, Depression und Aggression. Die Phasen werden jedoch nicht einmal durchlaufen, sondern spiralförmig. Sie sind nicht begrenzt und abgeschlossen, sondern gehen fließend ineinander über, können sich ablösen oder auch nebeneinander bestehen, sprich: Oftmals geht es drei Schritte vor und zwei wieder zurück. „Es gibt Situationen, in denen Betroffene an ihre Grenzen stoßen. Denn unsere Welt ist nicht für Rollstuhlfahrer gemacht, sondern für Fußgänger.“ Ist jemand gut drauf, reagiert er auf eine Situation – jemand parkt beispielsweise schon wieder auf einem Behindertenparkplatz – gelassen, ist er schlecht drauf, reagiert er vielleicht mit einer depressiven Verstimmung oder Aggression. „Schon Sigmund Freud hat gesagt: Ab dem Trauma ist das Leben anders. Und es begleitet uns ein Leben lang“, sagt Hess. „Das Trauma ist schwer greifbar, es ist nicht sichtbar.“
Zusammenarbeit im interdisziplinären Team
Nicht sichtbar – das stellt auch die Versorger vor besondere Herausforderungen. „Der Orthopädietechniker vergoldet den Rollstuhl – überspitzt gesagt – und das Kind will den Rollstuhl trotzdem nicht“, zeichnet Hess ein Szenario. Der OTler ist verzweifelt, fragt sich schlimmstenfalls: Was habe ich falsch gemacht? Doch die Lösung findet sich nicht dort. Hess nennt Möglichkeiten, die Situation zu kitten. Allen voran: Erfolgsgeschichten erzählen. In der Literatur sei von Krisenintervention als Methode die Rede. „Man normalisiert, das heißt Psychoedukation (Interventionen, die sich auf die Information und Motivierung von Patient:innen und auch ihrer Angehörigen mit Blick auf die Erkrankung und ihre Behandlung richten, Anm. d. Red.)“, sagt Hess. Der Orthopädietechniker könnte zum Kind sagen: „Schau, die Mama freut sich so sehr, dass sie vor Glück weint!“, sodass das Kind nicht denkt, dass es etwas Falsches gemacht hat. Sinnvoll könne es sein, Gesundheitspsycholog:innen hinzuzuziehen. Hier warnt Hess jedoch vor einer falschen Erwartungshaltung: „Die Psychologen sollen – so die Hoffnung – das Familiensystem so entspannen, dass die nächste Anpassung problemlos verläuft.“ In der Regel sei das nicht machbar. Dem Problem – oder vielmehr der normalen Reaktion von Mutter und Kind – könne nur im interdisziplinären Team, also im gemeinsamen Austausch von u. a. Orthopädietechniker:innen, Ärtz:innen, Physiotherapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen, schrittweise begegnet werden. „So wie die Medizin heute aufgestellt ist, ist es multidisziplinär zu lösen.“ Eine zentrale Bedeutung komme dem Familiensystem zu. Im Vorfeld sei im Team zu klären: Wie ist das Familiensystem aufgebaut? Wie kann es unterstützt werden? Vielleicht kann beim nächsten Termin eine Schwester oder ein Bruder dabei sein, die oder der für das erkrankte Kind eine Stütze darstellt, oder die Großmutter, die emotional stabil ist und den Termin begleiten kann. Angehörige haben laut Hess eine besondere Funktion: Je jünger das Kind ist, desto stärker ist die Bindung an diese Begleitpersonen und desto schwieriger ist die Differenzierung zwischen den eigenen und den Emotionen anderer. „Die Eltern, die Geschwister, die Großeltern können die Freude des Kindes spiegeln“, weiß Hess, und somit zum Erfolg der Versorgung sowie zur Zufriedenheit des Kindes und der Versorger enormen Beitrag leisten. Hess ist es wichtig zu betonen, dass Orthopädietechniker:innen sich selbst und ihre Versorgung nicht generell in Frage stellen, sondern sich bewusst machen sollten, dass hinter den Emotionen und Reaktionen der Anwesenden Dynamiken stehen, die nicht in ihr Fachgebiet fallen. „Mit viel Begleitung des Familiensystems kann aber eine Veränderung passieren.“
Fremd- und Selbstschutz: Die eigenen Grenzen erkennen
Grundlage dafür ist die richtige Gesprächsführung. Und die will gelernt sein. Für Hess macht es einen Unterschied, ob der OTler sagt: „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass…“ oder „Laut Verordnung…“. Die erste Variante spiele sich auf der emotionalen oder Beziehungsebene ab, die zweite hingegen auf der sachlichen oder Inhaltsebene. Letztere sei – insbesondere in herausfordernden Situationen – zu bevorzugen. Martina Hess rät Versorgern dazu, sich bestimmte Gesprächstechniken für die Begleitung emotional belasteter Kund:innen anzueignen. Sie selbst bietet zu diesem Thema einen Lehrgang in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Walter Strobl, Leiter des MOTIO Fortbildungsinstituts für Kinder- und Neuroorthopädie, Wien, an. „Sich selbst als Person herauszunehmen ist schwierig, aber erlernbar“, betont sie. Für Hess ist das aus doppeltem Grund wichtig: Fremdschutz, um eine gute Versorgung zu gewährleisten und Zufriedenheit beim Patienten zu erreichen, Selbstschutz bedeutet zu erkennen: Wo liegen für mich als Orthopädietechniker:in meine Grenzen? Wann muss ich mich persönlich herausnehmen? Inwiefern brauche ich Unterstützung von Kolleg:innen? Sich selber zu schützen könne auch im Anschluss an einen anstrengenden Termin hilfreich sein. „Erlaubt ist alles, was hilft“, sagt Hess. Während der eine durch eine Mediation eine Anlaufstelle finde, würden für den anderen Sport oder Meditation eine Entspannung im Sinne der Psychohygiene darstellen. „Orthopädietechniker:innen arbeiten in einem Beruf, in dem man für seine eigene psychische Gesundheit etwas tun sollte“, auch vor dem Hintergrund eines möglichen Sekundärtraumas, also einer Traumatisierung, die bei Angehörigen und Behandlern durch die Begleitung von Personen mit direkter Traumatisierung entstehen kann. Hat ein Orthopädietechniker oder eine Orthopädietechnikerin selber einen Sohn oder eine Tochter, stellt er oder sie sich bei der Versorgung eines jungen verunfallten Patienten vielleicht die Frage: Hätte das auch meinem Kind passieren können? „Die emotionale Belastung oder auch die Aggression gegen den Unfallverursacher können die eigene Arbeit blockieren“, sagt Hess und betont: „Das ist eine normale Reaktion, aber normal heißt nicht leicht.“ Wichtig sei es, sich diese Sekundärtraumatisierung einzugestehen, sich klar zu machen, dass diese Reaktion nicht unprofessionell ist und es keine Schande ist um Unterstützung zu bitten oder den Fall an eine:n Kolleg:in zu übergeben. „In der Psychologie gilt: Emotion vor Kognition oder anders ausgedrückt ‚Bauch vor Hirn‘. Das lässt sich nicht abstellen. So sind wir gestrickt.“
Sollten Orthopädietechniker:innen für die Begleitung emotional belasteter Patient:innen geschult werden – im Sinne von Fremd- und auch von Selbstschutz? Ja, sagt Martina Hess, sieht das Thema aber nicht schwerpunktmäßig in der Ausbildung verortet. Während dieser Zeit seien die Nachwuchskräfte damit beschäftigt das Handwerk zu erlernen. Wenn die Azubis dann aber weitere Erfahrungen sammeln und die ersten Probleme im Kundenkontakt auftauchen, bieten sich Fortbildungen zu Reflexion und Gesprächsführung an. Wichtig sei für die Versorgung und Begleitung, dass Behandler:innen versuchen, die Gefühlswelt der Betroffenen zu verstehen, die ein Trauma durch den Verlust der Gesundheit nach sich ziehen kann. Auch hier heißt das Stichwort wieder: interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Gerade in der Neuroorthopädie ist das ein großes Thema. Und es ist ideal, dass alle, die am Heilungsprozess des Patienten beteiligt sind, auf Augenhöhe zusammenarbeiten“, so Hess. Orthopädietechniker:innen, die in ein stationäres Umfeld eingebunden sind, finden Unterstützung von dort tätigen Klinischen- und Gesundheitspsycholog:innen sowie Sozialarbeiter:innen. Auch bei einer ambulanten Betreuung stehen Expert:innen wie Martina Hess als Ansprechpartner:innen zur Verfügung.
Hilfe zur Selbsthilfe
Sich Hilfe zu holen, das kann Martina Hess auch aus eigener Erfahrung empfehlen. Sie selbst hat eine schwerstbehinderte, mittlerweile erwachsene Tochter. Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit – nach der Diagnose sah sie sich mit genau dem Emotionscocktail konfrontiert, den sie aus der Theorie kennt. „Was macht man als gelernte Forscherin? Man begibt sich auf Forschungsreise“, sagt Hess und lacht. Den Emotionscocktail, den sie gezeigt hat, habe sie in der Literatur wiederfinden und sich dadurch stabilisieren können. „Ich habe festgestellt: Meine Gefühle sind eine normale Reaktion auf die belastende Situation.“ Hess gründete 2003 die Selbsthilfegruppe „Eltern anders“, um ihr Wissen weiterzugeben und andere Eltern mit behinderten Kindern zu unterstützen, z. B. auch beim Umgang der verschiedenen Trauerphasen. Drei Schritte vor, zwei zurück – Hess kennt die Theorie, die sie beschreibt, nur zu gut selbst. „Ich befinde mich derzeit nicht in der Autonomiephase“, gibt sie zu. „Heute ist meine Tochter erwachsen und es ist oft schwierig. Viele Dinge sind weniger einfach als mit einem kleinen Kind, was z. B. das Anziehen betrifft, die Fortbewegung oder auch die gesellschaftliche Toleranz.“ Hess gibt nicht nur Theorie weiter, sondern versucht das, was sie lehrt, umzusetzen – auch zum Selbstschutz. „Ich habe mir Hilfe geholt. Erst heute Vormittag hatte ich noch eine Psychotherapiesitzung.“ Auch wenn Hess selbst gelernte Psychologin ist – sie weiß: Sie kann sich nicht selbst helfen und zieht dafür folgenden Vergleich heran: „Ein Zahnarzt kann auch keine Wurzelbehandlung bei sich selber machen. Er muss damit zu einem Kollegen oder einer Kollegin gehen. Und er hat auch Angst. Vielleicht sogar mehr als andere Patienten, weil er weiß, was alles bei einer Behandlung schief gehen kann.“
Pia Engelbrecht
geboren 1968, lebt in der Nähe von Wien. Sie hat einen Sohn (geb. 2001) und eine Tochter (geb. 1998). Hess ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, Coach für Eltern von Kindern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, lehrt als freie Mitarbeiterin an Hochschulen und übt diverse Lehr- und Vortragstätigkeiten aus. 2003 gründete sie und leitet seitdem die Selbsthilfegruppe „Eltern anders“. 2020 wurde sie vom Wiener Städtischen Versicherungsverein mit dem „Anerkennungspreis für ehrenamtliches Engagement“ ausgezeichnet. Hess veröffentlicht wissenschaftliche Beiträge in Fachbüchern, zuletzt u. a. im 2021 von Walter Strobl herausgegebenen Werk „Neuroorthopädie – Disability Management“ zum Thema „Psychodynamik und psychologische Unterstützung“. Weitere Informationen gibt es auf ihrer Homepage.
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