OT: Warum wurde das Projekt ins Leben gerufen?
Ottmar Miles-Paul: So wichtig es ist, Missstände zu benennen und diese zu kritisieren, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen sowie bessere gesetzliche Regelungen einzufordern, so wichtig ist es auch aufzuzeigen, wo Erfolge erzielt werden. Gute Beispiele bieten die Möglichkeit zur Nachahmung und zur Motivation für andere, sich ebenfalls für positive Entwicklungen in Sachen Inklusion stark zu machen.
OT: Wer kann „gute Nachrichten“ einreichen?
Miles-Paul: Ich begebe mich sozusagen auf die Jagd nach guten Nachrichten und halte meine Augen und Ohren weit offen, wenn ich das als seh- und hörbehinderter Mensch so sagen kann. Zudem können sich Menschen, die auf gute Nachrichten zur Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention hinweisen wollen, an mich wenden. Wichtig ist, dass es möglichst konkrete Verbesserungen für behinderte Menschen sind.
OT: Was sind Ihrer Meinung nach die besten Entwicklungen der vergangenen Jahre im Bereich Inklusion?
Miles-Paul: Vorweg geschickt geht mir der Prozess zur Inklusion viel zu langsam bzw. erleidet wie z. B. durch die Corona-Pandemie immer wieder heftige Rückschläge. Grundsätzlich finde ich es gut, dass sich immer mehr behinderte Menschen für ein selbstbestimmtes und inklusives Leben einsetzen. Sie zeigen, dass sie sehr wohl außerhalb von Behinderteneinrichtungen in der eigenen Wohnung mit der Assistenz, die sie brauchen, leben können. Sie haben die Finanzierung von wichtigen Hilfsmitteln und „Persönlicher Assistenz“ durchgesetzt. Persönliche Budgets werden zunehmend genutzt, damit die Hilfen im Sinne der behinderten Menschen erfolgen. Auch beim Thema Arbeit gibt es Weiterentwicklungen durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten und Alternativen zu Werkstätten für behinderte Menschen. Und nicht zuletzt im Freizeitbereich gibt es zunehmende Teilhabemöglichkeiten. Es wurde also einiges erreicht, aber viel zu wenige wissen davon und machen sich auf den Weg zur Inklusion. Wichtig ist mir bei allen Maßnahmen die Partizipation auf Augenhöhe, frei nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“.
OT: Was für eine „gute Nachricht“ würden Sie gern erhalten?
Miles-Paul: Eine sehr gute Nachricht wäre zum Beispiel, dass die neue Bundesregierung Regelungen für ein Barrierefreiheitsrecht verabschiedet hat, durch die nun auch private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit verpichtet werden. Oder auch wenn die längst nötigen Rampen angelegt und die Informationen in „Leichter Sprache“ bereitgestellt werden, Gebärdensprachdolmetscher:innen und Höranlagen den Zugang erleichtern und blinde und sehbehinderte Menschen die Informationen gleichberechtigt wahrnehmen können. Und wenn dann der Massenauszug aus den Behinderteneinrichtungen in Wohnungen mitten in der Stadt – mit der Unterstützung, die die Menschen brauchen – beginnt und die Zahl derjenigen, die in Werkstätten für behinderte Menschen für durchschnittlich 220,28 Euro arbeiten müssen, massiv abnimmt, weil es echte Arbeitsmöglichkeiten bei regulären Arbeitgebern gibt, dann wären das echte Topnachrichten. Und wenn die Verwaltung dafür sorgt, dass behinderte Menschen unkompliziert und schnell die Leistungen bekommen, die ihnen gesetzlich zustehen, dann kann ich in Rente gehen.
OT: Was ist Ihre persönliche „gute Nachricht“ zur Inklusion?
Miles-Paul: Für mich persönlich ist ein Tag mit guten Nachrichten zur Inklusion, wenn ich aus meiner Wohnung gehe, mich in der Nachbarschaft wohl fühle und dort nette, offene und vielfältige Menschen treffe, ich weitgehend barrierefrei einkaufen und mit meinen Freunden, die einen Rollstuhl nutzen, in die Kneipe gehen kann, auf die wir Lust haben und nicht nur in die wenigen, die bisher barrierefrei zugänglich sind und über eine barrierefreie Toilette verfügen.
OT: Welchen Beitrag kann die Orthopädie-Technik zur Inklusion leisten?
Miles-Paul: Die Orthopädie-Technik hat in der Vergangenheit enorme Beiträge dazu geleistet, dass behinderte Menschen verstärkt am gesellschaftlichen Leben durch die Nutzung der entsprechenden Hilfsmittel teilhaben können. Wenn dieser Weg konsequent zusammen mit den Nutzer:innen der Hilfen gegangen wird, ist das ein guter Beitrag zur Inklusion.
OT: Inwiefern können inklusive Wünsche bei der medizinischen Versorgung bislang berücksichtigt werden?
Miles-Paul: Die medizinische Versorgung ist leider noch von vielen Barrieren geprägt. Viele Arztpraxen sind nicht oder nur teilweise barrierefrei zugänglich, sodass die freie Arztwahl für behinderte Menschen massiv eingeschränkt wird. Immer wieder erleben behinderte Menschen, dass im medizinischen Bereich über ihre Köpfe hinweg entschieden wird bzw. ihnen wichtige Informationen nicht verständlich erläutert werden. Nichtsdestotrotz gibt es immer mehr Akteur:innen, die ihre Haltung vom medizinischen Modell von Behinderung zum sozialen menschenrechtlichen Modell ändern und gemeinsam mit den Patient:innen nach Wegen der verbesserten Behandlung und Teilhabe suchen. Daran müssen wir konsequent weiterarbeiten.
Weitere Informationen zum Projekt gibt es auf der Website sowie im Podcast zur Veranstaltung „Was sind gute Nachrichten zur Inklusion?“. Anmeldungen für den Newsletter sowie Ideen für das Projekt nimmt Ottmar Miles-Paul per E‑Mail an ottmar.miles-paul@bifos.de entgegen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
„Netzwerk Artikel 3“ wurde 1996 als Nachfolger des „Initiativkreises Gleichstellung Behinderter“ gegründet, der am Zustandekommen des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen im Grundgesetz mitgewirkt hat. Es ist ein bundesweit arbeitendes Netzwerk der Gleichstellungsinitiativen, das sich einer menschenrechtsorientierten Sichtweise von Behindertenpolitik verschrieben hat. Ziel ist es, Menschenrechte und Gleichstellung behinderter Menschen durchzusetzen. Seit 1998 agiert das „Netzwerk Artikel 3“ als eingetragener Verein.
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