Netz­werk Arti­kel 3 hat gute Nach­rich­ten zur Inklusion

Der Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter „Netzwerk Artikel 3“ hat im Oktober ein auf vier Jahre angelegtes und von der Aktion Mensch gefördertes Projekt ins Leben gerufen. Unter dem gleichnamigen Motto werden „Gute Nachrichten zur Inklusion“ veröffentlicht, die konkrete Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen in den Blick nehmen. Projektkoordinator Ottmar Miles-Paul erläutert im Gespräch mit der OT die Hintergründe und verrät, welche guten Nachrichten er sich für die Zukunft wünscht.

OT: War­um wur­de das Pro­jekt ins Leben gerufen?

Anzei­ge

Ott­mar Miles-Paul: So wich­tig es ist, Miss­stän­de zu benen­nen und die­se zu kri­ti­sie­ren, gegen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen vor­zu­ge­hen sowie bes­se­re gesetz­li­che Rege­lun­gen ein­zu­for­dern, so wich­tig ist es auch auf­zu­zei­gen, wo Erfol­ge erzielt wer­den. Gute Bei­spie­le bie­ten die Mög­lich­keit zur Nach­ah­mung und zur Moti­va­ti­on für ande­re, sich eben­falls für posi­ti­ve Ent­wick­lun­gen in Sachen Inklu­si­on stark zu machen.

OT: Wer kann „gute Nach­rich­ten“ einreichen?

Miles-Paul: Ich bege­be mich sozu­sa­gen auf die Jagd nach guten Nach­rich­ten und hal­te mei­ne Augen und Ohren weit offen, wenn ich das als seh- und hör­be­hin­der­ter Mensch so sagen kann. Zudem kön­nen sich Men­schen, die auf gute Nach­rich­ten zur Inklu­si­on im Sin­ne der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on hin­wei­sen wol­len, an mich wen­den. Wich­tig ist, dass es mög­lichst kon­kre­te Ver­bes­se­run­gen für behin­der­te Men­schen sind.

OT: Was sind Ihrer Mei­nung nach die bes­ten Ent­wick­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re im Bereich Inklusion?

Miles-Paul: Vor­weg geschickt geht mir der Pro­zess zur Inklu­si­on viel zu lang­sam bzw. erlei­det wie z. B. durch die Coro­na-Pan­de­mie immer wie­der hef­ti­ge Rück­schlä­ge. Grund­sätz­lich fin­de ich es gut, dass sich immer mehr behin­der­te Men­schen für ein selbst­be­stimm­tes und inklu­si­ves Leben ein­set­zen. Sie zei­gen, dass sie sehr wohl außer­halb von Behin­der­ten­ein­rich­tun­gen in der eige­nen Woh­nung mit der Assis­tenz, die sie brau­chen, leben kön­nen. Sie haben die Finan­zie­rung von wich­ti­gen Hilfs­mit­teln und „Per­sön­li­cher Assis­tenz“ durch­ge­setzt. Per­sön­li­che Bud­gets wer­den zuneh­mend genutzt, damit die Hil­fen im Sin­ne der behin­der­ten Men­schen erfol­gen. Auch beim The­ma Arbeit gibt es Wei­ter­ent­wick­lun­gen durch neue Beschäf­ti­gungs­mög­lich­kei­ten und Alter­na­ti­ven zu Werk­stät­ten für behin­der­te Men­schen. Und nicht zuletzt im Frei­zeit­be­reich gibt es zuneh­men­de Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten. Es wur­de also eini­ges erreicht, aber viel zu weni­ge wis­sen davon und machen sich auf den Weg zur Inklu­si­on. Wich­tig ist mir bei allen Maß­nah­men die Par­ti­zi­pa­ti­on auf Augen­hö­he, frei nach dem Mot­to „Nichts über uns ohne uns“.

OT: Was für eine „gute Nach­richt“ wür­den Sie gern erhalten?

Miles-Paul: Eine sehr gute Nach­richt wäre zum Bei­spiel, dass die neue Bun­des­re­gie­rung Rege­lun­gen für ein Bar­rie­re­frei­heits­recht ver­ab­schie­det hat, durch die nun auch pri­va­te Anbie­ter von Dienst­leis­tun­gen und Pro­duk­ten zur Bar­rie­re­frei­heit verp­ichtet wer­den. Oder auch wenn die längst nöti­gen Ram­pen ange­legt und die Infor­ma­tio­nen in „Leich­ter Spra­che“ bereit­ge­stellt wer­den, Gebärdensprachdolmetscher:innen und Hör­an­la­gen den Zugang erleich­tern und blin­de und seh­be­hin­der­te Men­schen die Infor­ma­tio­nen gleich­be­rech­tigt wahr­neh­men kön­nen. Und wenn dann der Mas­sen­aus­zug aus den Behin­der­ten­ein­rich­tun­gen in Woh­nun­gen mit­ten in der Stadt – mit der Unter­stüt­zung, die die Men­schen brau­chen – beginnt und die Zahl der­je­ni­gen, die in Werk­stät­ten für behin­der­te Men­schen für durch­schnitt­lich 220,28 Euro arbei­ten müs­sen, mas­siv abnimmt, weil es ech­te Arbeits­mög­lich­kei­ten bei regu­lä­ren Arbeit­ge­bern gibt, dann wären das ech­te Top­nach­rich­ten. Und wenn die Ver­wal­tung dafür sorgt, dass behin­der­te Men­schen unkom­pli­ziert und schnell die Leis­tun­gen bekom­men, die ihnen gesetz­lich zuste­hen, dann kann ich in Ren­te gehen.

OT: Was ist Ihre per­sön­li­che „gute Nach­richt“ zur Inklusion?

Miles-Paul: Für mich per­sön­lich ist ein Tag mit guten Nach­rich­ten zur Inklu­si­on, wenn ich aus mei­ner Woh­nung gehe, mich in der Nach­bar­schaft wohl füh­le und dort net­te, offe­ne und viel­fäl­ti­ge Men­schen tref­fe, ich weit­ge­hend bar­rie­re­frei ein­kau­fen und mit mei­nen Freun­den, die einen Roll­stuhl nut­zen, in die Knei­pe gehen kann, auf die wir Lust haben und nicht nur in die weni­gen, die bis­her bar­rie­re­frei zugäng­lich sind und über eine bar­rie­re­freie Toi­let­te verfügen.

OT: Wel­chen Bei­trag kann die Ortho­pä­die-Tech­nik zur Inklu­si­on leisten?

Miles-Paul: Die Ortho­pä­die-Tech­nik hat in der Ver­gan­gen­heit enor­me Bei­trä­ge dazu geleis­tet, dass behin­der­te Men­schen ver­stärkt am gesell­schaft­li­chen Leben durch die Nut­zung der ent­spre­chen­den Hilfs­mit­tel teil­ha­ben kön­nen. Wenn die­ser Weg kon­se­quent zusam­men mit den Nutzer:innen der Hil­fen gegan­gen wird, ist das ein guter Bei­trag zur Inklusion.

OT: Inwie­fern kön­nen inklu­si­ve Wün­sche bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung bis­lang berück­sich­tigt werden?

Miles-Paul: Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ist lei­der noch von vie­len Bar­rie­ren geprägt. Vie­le Arzt­pra­xen sind nicht oder nur teil­wei­se bar­rie­re­frei zugäng­lich, sodass die freie Arzt­wahl für behin­der­te Men­schen mas­siv ein­ge­schränkt wird. Immer wie­der erle­ben behin­der­te Men­schen, dass im medi­zi­ni­schen Bereich über ihre Köp­fe hin­weg ent­schie­den wird bzw. ihnen wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen nicht ver­ständ­lich erläu­tert wer­den. Nichts­des­to­trotz gibt es immer mehr Akteur:innen, die ihre Hal­tung vom medi­zi­ni­schen Modell von Behin­de­rung zum sozia­len men­schen­recht­li­chen Modell ändern und gemein­sam mit den Patient:innen nach Wegen der ver­bes­ser­ten Behand­lung und Teil­ha­be suchen. Dar­an müs­sen wir kon­se­quent weiterarbeiten.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zum Pro­jekt gibt es auf der Web­site sowie im Pod­cast zur Ver­an­stal­tung „Was sind gute Nach­rich­ten zur Inklu­si­on?“. Anmel­dun­gen für den News­let­ter sowie Ideen für das Pro­jekt nimmt Ott­mar Miles-Paul per E‑Mail an ottmar.miles-paul@bifos.de entgegen.

                                                                                                                 Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

 

Netz­werk Arti­kel 3
„Netz­werk Arti­kel 3“ wur­de 1996 als Nach­fol­ger des „Initia­tiv­krei­ses Gleich­stel­lung Behin­der­ter“ gegrün­det, der am Zustan­de­kom­men des Benach­tei­li­gungs­ver­bo­tes für behin­der­te Men­schen im Grund­ge­setz mit­ge­wirkt hat. Es ist ein bun­des­weit arbei­ten­des Netz­werk der Gleich­stel­lungs­in­itia­ti­ven, das sich einer men­schen­rechts­ori­en­tier­ten Sicht­wei­se von Behin­der­ten­po­li­tik ver­schrie­ben hat. Ziel ist es, Men­schen­rech­te und Gleich­stel­lung behin­der­ter Men­schen durch­zu­set­zen. Seit 1998 agiert das „Netz­werk Arti­kel 3“ als ein­ge­tra­ge­ner Verein. 
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