Myo­elek­tri­sche Orthe­se macht Arm und Hand beweglich

„Wenn Patienten nach Jahren zum ersten Mal ihre Hand selbstständig öffnen und schließen können, reagieren sie und ihre Angehörigen meist sehr emotional“, sagt Physiotherapeut Andreas Ludwar – auch für ihn selbst immer wieder ein „Wow-Moment“. Als Leitung Clinical Training bei Myomo Europe, einem Unternehmen für medizinische Robotik mit Sitz in Göttingen, begleitet er Patient:innen, deren Gliedmaßen infolge einer Erkrankung oder eines Unfalls gelähmt sind, auf dem Weg zu mehr Selbstständigkeit im Alltag. Bewährt hat sich dabei die MyoPro, eine motorisierte Orthese für Hand und Arm.

„Die myo­elek­tri­sche Orthe­se kann grund­sätz­lich jeder nut­zen, der ein Signal im Arm hat. Das muss kein sicht­ba­res Signal sein. Heißt, der Arm muss nicht sicht­bar bewegt wer­den kön­nen. Vor­aus­set­zung ist nur, dass das Signal bei der elek­tro­m­yo­gra­phi­schen Unter­su­chung – kurz: EMG – zu sehen ist“, erläu­tert Lud­war. Das Sys­tem arbei­tet mit Elek­tro­den, die sowohl am Unter- als auch am Ober­arm plat­ziert sind und die schwa­chen Mus­kel­si­gna­le von der Haut­ober­flä­che able­sen. Die­se Signa­le wer­den ver­stärkt und in Bewe­gun­gen umge­setzt, die die Nutzer:innen intui­tiv steu­ern kön­nen. „Es ist der­zeit das ein­zi­ge Sys­tem auf dem Markt, das myo­elek­trisch die Hand und auch den Arm bewe­gen und benutz­bar machen kann.“ Ent­wi­ckelt hat Myo­mo die Tech­no­lo­gie in Zusam­men­ar­beit mit dem Mas­sa­chu­setts Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy (MIT) und der Har­vard Medi­cal School.

Anzei­ge

Mit rund 90 Pro­zent bil­den Men­schen, die einen Schlag­an­fall erlit­ten haben, die größ­te Anwen­der­grup­pe. Eben­so kommt das Hilfs­mit­tel bei Per­so­nen zum Ein­satz, die Ner­ven­schä­den, ins­be­son­de­re am Ple­xus bra­chia­lis, haben. Auch bei Erkran­kun­gen wie Amyo­tro­pher Late­ral­skel­ro­se (ALS) oder Mul­ti­pler Skle­ro­se (MS) ist eine Ver­sor­gung laut Lud­war denk­bar, aller­dings auf­grund des schwer vor­her­zu­se­hen­den Ver­laufs nicht immer lang­fris­tig zielführend.

„Spas­tik ist kei­ne Kontraindikation“

Nicht infra­ge kommt die Orthe­se, wenn die Pati­ent:innen kon­ti­nu­ier­lich Schmer­zen bei den Bewe­gun­gen haben oder die Gelen­ke kon­trakt sind, also kei­ne Bewe­gung mehr mög­lich ist. Eine extre­me Sub­lu­xa­ti­on in der Schul­ter kön­ne kon­tra­pro­duk­tiv sein, berich­tet Lud­war, sei aber kein Aus­schluss­kri­te­ri­um, da die Mög­lich­keit bestehe, über exter­ne Orthe­sen zu sta­bi­li­sie­ren und die Schul­ter so in Posi­ti­on zu brin­gen. In dem Bereich, wo die Orthe­se anliegt, dür­fen zudem kei­ne offe­nen Haut­stel­len oder Brü­che sein. Ent­ge­gen der all­ge­mei­nen Ver­mu­tung gel­te: „Spas­tik ist kei­ne Kon­tra­in­di­ka­ti­on. Solan­ge die Gelen­ke beweg­lich sind, ist das The­ma rele­vant und auch rich­tig und wich­tig. Durch die kon­ti­nu­ier­li­che Bewe­gung mit der Orthe­se kön­nen wir eine Spas­tik gut redu­zie­ren und dadurch Funk­tio­na­li­tät für die Pati­en­ten schaffen.“

Fer­ti­gung per 3D-Druck

Ob die Orthe­se für einen Pati­en­ten oder eine Pati­en­tin tat­säch­lich das geeig­ne­te Hilfs­mit­tel ist, wird im per­sön­li­chen Gespräch und gemein­sam mit dem ver­sor­gen­den Sani­täts­haus über­prüft. Dafür machen die Betrof­fe­nen mit einem nicht maß­ge­schnei­der­ten, aber auf Län­gen und Brei­ten adap­tier­ba­ren Modell, den Test. Kom­men sie damit gut klar und spricht auch aus medi­zi­ni­scher Sicht nichts gegen die Ver­sor­gung, fer­ti­gen die Orthopädietechiker:innen die Orthe­se nach indi­vi­du­el­len Maßen und per 3D-Scan und ‑Druck an. Jedes Sani­täts­haus kann die Ver­sor­gung anbie­ten, sofern es von Myo­mo zer­ti­fi­ziert wur­de. „Hat ein Betrieb Inter­es­se, füh­ren wir vor Ort eine Schu­lung mit belie­big vie­len Teil­neh­mern durch. So stel­len wir die Qua­li­tät sicher“, sagt Lud­war. „Die Sani­täts­häu­ser haben eine gewis­se Mar­ge, die sie auf Hilfs­mit­tel auf­schla­gen dür­fen. Damit wer­den die Zer­ti­fi­zie­rungs­kos­ten mit der ers­ten Ver­sor­gung ver­rech­net.“ Bis­lang haben sich um die 50 Part­ner für eine Zusam­men­ar­beit entschieden.

Auch die als wirk­sam erwie­se­ne und in den Leit­li­ni­en ver­an­ker­te Botox­the­ra­pie sei bei Spas­ti­ken der obe­ren Extre­mi­tä­ten effek­tiv, so der Phy­sio­the­ra­peut, aber mit meh­re­ren tau­send Euro eine teu­re Ange­le­gen­heit. Und laut Stu­di­en­la­ge bekom­men nur cir­ca zehn Pro­zent der Patient:innen die The­ra­pie über­haupt geneh­migt. Die Kos­ten­über­nah­me der Orthe­se stellt laut Lud­war dage­gen i. d. R. kein Pro­blem dar. „Die Fra­ge ist nicht ob, son­dern wann“, ergänzt er mit Blick auf den – auch für ande­re Ver­sor­gun­gen nicht unüb­li­chen – sich in die Län­ge zie­hen­den Pro­zess der Kran­ken­kas­sen. Obli­ga­to­risch und eben­falls im Kos­ten­vor­anschlag ent­hal­ten sein soll­ten 40 bis 60 Trai­nings­ein­hei­ten, die not­wen­dig sind, damit die Nutzer:innen unter fach­li­cher, the­ra­peu­ti­scher Anlei­tung ler­nen, mit dem Hilfs­mit­tel umzu­ge­hen und Bewe­gungs­ab­läu­fe zu trai­nie­ren. Denn ein Selbst­läu­fer ist die Orthe­se nicht. „Man schlüpft nicht hin­ein und hat einen zwei­ten Arm“, erläu­tert Lud­war. Eine Erwar­tungs­hal­tung, die er von Anfang an ver­su­che zu brem­sen. „Das ist ein Pro­zess und erfor­dert viel Trai­ning. Unse­re Auf­ga­be als Her­stel­ler ist es, die Ein­rich­tun­gen so zu schu­len, dass sie die Pati­en­ten dabei opti­mal unter­stüt­zen kön­nen.“ Vie­le Anwender:innen wür­den sich wie Autofahranfänger:innen füh­len – mit Lizenz, aber noch ohne Rou­ti­ne. „Je län­ger und öfter die Orthe­se im All­tag inte­griert wird, des­to intui­ti­ver wer­den die Bewegungen.“

Auf Frus­tra­ti­on folgt Euphorie

Eine Fla­sche öff­nen, ein Taschen­tuch aus der Packung holen, ein Bröt­chen auf­schnei­den oder Klei­dung anzie­hen – im Trai­nings­pro­zess wird ver­sucht, den Patient:innen eine Visi­on vor Augen zu füh­ren, damit sie das „Wofür“ der teils simp­len Übun­gen als für ihren All­tag rele­vant begrei­fen. Zu Beginn der The­ra­pie ist Frus­tra­ti­on kein sel­te­ner Beglei­ter. Einen Stift zu hal­ten und vor allem los­zu­las­sen scheint unmög­lich. Fällt er dann zum ers­ten Mal zu Boden, ist die Eupho­rie aber umso grö­ßer und die Moti­va­ti­on geweckt. „Com­pli­ance ist wich­tig“, betont Lud­war. „Wer möch­te, der schafft es auch.“ Die anfangs noch recht undo­sier­ten Vor­gän­ge wei­chen mit der Zeit immer fei­ne­ren und kon­trol­lier­te­ren Bewegungen.

Ca. 20 Minu­ten – nur so viel Zeit steht Physiotherapeut:innen meist pro The­ra­pie­sit­zung zur Ver­fü­gung. „Da kommt man als The­ra­peut irgend­wann an sei­ne Gren­zen“, gibt Lud­war zu. „Die Zeit reicht nicht, um Gelen­ke so gut zu mobi­li­sie­ren, dass Lang­zeit­ef­fek­te ein­tre­ten.“ Mit der Orthe­se brin­gen die Betrof­fe­nen dage­gen täg­lich und über Stun­den Bewe­gung in ihren Arm und ihre Hand – und das aus eige­nem Antrieb. Statt vom Therapeut:innen bewegt zu wer­den, set­zen sie die Bewe­gun­gen selbst um. Das schafft auf Dau­er neue Ver­knüp­fun­gen im Gehirn, die das Grei­fen und Stre­cken intui­ti­ver und rou­ti­nier­ter wer­den las­sen. Die Ergeb­nis­se diver­ser Stu­di­en bestä­ti­gen für Lud­war den Nut­zen der Orthe­se, allen vor­an eine Spas­tik­re­duk­ti­on sowie eine Stei­ge­rung des psy­chi­schen Wohl­be­fin­dens. Im Hin­blick auf den letz­ten Punkt stößt der Phy­sio­the­ra­peut häu­fig auf fol­gen­des Phä­no­men: Wäh­rend eini­gen das „Begafft­wer­den“ unan­ge­nehm sei, gefal­le vie­len Anwender:innen die neue Auf­merk­sam­keit dage­gen sehr. „Plötz­lich gucken alle und fra­gen. Man ist wie­der inter­es­sant. Die Tech­nik holt intro­ver­tier­te Pati­en­ten aus einem Loch. Das ist psy­chisch sehr hilfreich.“

„Ver­sor­gung nicht mehr infra­ge stellen“

Die Orthe­se wiegt rund 1,5 Kilo­gramm. Ist sie den­noch im All­tag prak­ti­ka­bel? „Ja, defi­ni­tiv. Die Orthe­se ist jedoch nicht dafür gedacht, rund um die Uhr genutzt zu wer­den – was aber grund­sätz­lich mög­lich wäre. Im Schnitt sind es zwi­schen zwei und acht Stun­den“, sagt Lud­war. Patient:innen soll­ten sich fol­gen­de, ent­schei­den­de Fra­ge stel­len: „Möch­te ich etwas, das mich the­ra­peu­tisch bewegt? Dann ist die Orthe­se nicht das Rich­ti­ge. Da gibt es von ande­ren Her­stel­lern pas­sen­de­re Kon­zep­te. Auch die sind gut. Es ist aber ein ande­rer Ansatz. Wir wol­len ein Hilfs­mit­tel zur Ver­fü­gung stel­len.“ Das Gewicht und die Abmes­sung der Orthe­se wei­ter zu redu­zie­ren, gehört zu den Zie­len, die sich das Unter­neh­men für die Zukunft gesteckt hat. Ein eben­falls oft geäu­ßer­ter Wunsch der Anwender:innen: die Orthe­se unter jedem belie­bi­gen Klei­dungs­stück tra­gen zu kön­nen, und zwar so, dass sie mög­lichst wenig auf­trägt. Aktu­ell bie­tet Myo­mo eine Fleece­ja­cke mit Reiß­ver­schluss an, unter der die Orthe­se an käl­te­ren Tagen drau­ßen genutzt wer­den kann. Auch denk­bar: die Orthe­se über der Klei­dung zu plat­zie­ren. Der­zeit benö­ti­gen die Elek­tro­den aller­dings noch direk­ten Körperkontakt.

„Die wie­der­ge­won­ne­ne Beid­hän­dig­keit unter­stützt und ent­las­tet im All­tag enorm. Frü­her oder spä­ter wer­den sowohl die Tech­nik als auch der Ver­sor­gungs­ab­lauf dort sein, wo die Pro­the­tik jetzt schon ist und fili­gra­ne­re Bewe­gun­gen ermög­li­chen und eine Ver­sor­gung nicht mehr infra­ge stel­len. Ver­liert jemand einen Arm, ist klar, dass er oder sie eine Pro­the­se bekommt. Ver­liert aktu­ell jemand sei­ne Arm­funk­ti­on, z. B. durch einen Schlag­an­fall, soll­te der Ein­satz einer myo­elek­tri­schen Armor­the­se bei Eig­nung immer in Betracht gezo­gen werden.“

Pia Engel­brecht

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